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VOR DREIUNDZWANZIG MONATEN ist Kommissar Joona Linna vom Amtsgericht Stockholm wegen der gewaltsamen Befreiung eines inhaftierten Straftäters verurteilt worden. Er wurde mit Handschellen, Fußfesseln und Fesselgürtel zur Hochsicherheitsaufnahme der Justizvollzugsanstalt Kumla gebracht.

Die Transporteinheit der Justizvollzugsbehörde kümmerte sich um seine wenigen Habseligkeiten, den Haftantrittsbescheid und den Ausweis. Joona wurde zur Aufnahme weitergeleitet und entkleidet, musste eine Urinprobe zur Drogenkontrolle abgeben und bekam neue Kleidung, Bettwäsche und eine Zahnbürste.

Nach fünfwöchiger Auswertung wurde er der Abteilung T zugewiesen statt der Sicherheitseinheit in Saltvik, in der verurteilte Polizisten normalerweise landen. Er würde die kommenden Jahre in einer Zelle von sechs Quadratmetern mit Kunststoffboden, einem Waschbecken und einem kleinen, vergitterten Panzerglasfenster verbringen.

Während der ersten acht Monate arbeitete Joona zusammen mit den übrigen Insassen in der großen Wäscherei. Er lernte viele der Männer aus dem zweiten Stock kennen, erzählte jedem von ihnen, dass er früher für die Landeskriminalpolizei gearbeitet hatte, und vom Urteil des Amtsgerichts. Er wusste, dass es unmöglich war, die Vergangenheit geheim zu halten. Wenn ein neuer Häftling in einer Abteilung eintrifft, sorgen die anderen schnell dafür, dass ein Angehöriger Einsicht in das Urteil nimmt.

Er hat ein entspanntes Verhältnis zu den meisten Gruppen in seiner Abteilung, hält aber Abstand zur Bruderschaft und deren Anführer Reiner Kronlid. Die Bruderschaft ist mit rechtsextremen Gruppen verbandelt und organisiert Schutzgelderpressungen und Drogenhandel in den großen Justizvollzugsanstalten.

Seit dem Sommer hat Joona neunzehn Insassen davon überzeugt, sich auf unterschiedlichen Niveaus weiterzubilden. Sie haben eine Gruppe gebildet, in der sie einander unterstützen, und bis heute haben nur zwei ihre Ausbildung abgebrochen.

Die einförmigen Routinen sorgen dafür, dass sich die gesamte Anstalt wie ein sehr langsames Uhrwerk dreht. Sämtliche Zellentüren werden um acht Uhr morgens geöffnet und um acht Uhr abends wieder geschlossen. Mit jedem Sprung, den der Zeiger macht, erlischt für die Insassen ein kleines Stück ihres Lebens.

Sobald am Morgen die automatischen Schlösser summen, verlässt Joona seine Zelle, um zu duschen und zu frühstücken, bevor die gesamte Abteilung die eiskalten, unterirdischen Gänge betritt, die wie ein Abwassersystem die verschiedenen Teile des Gefängnisses miteinander verbinden.

Die Männer passieren die Kreuzung mit dem geschlossenen Kiosk, warten darauf, dass die Türen sich öffnen, und betreten die Tunnel.

Die Jungen aus Malmö lassen die Fingerspitzen abergläubisch über das Wandgemälde von Zlatan Ibrahimovic gleiten, bevor sie zur Werkstatt gehen, um mit Pulverlack zu arbeiten.

Die Studiengruppe geht stattdessen weiter zur Bibliothek. Joona hat sein Studium zum Landschaftsarchitekten bereits zur Hälfte abgeschlossen, und Marko hat endlich die Zugangsberechtigung zum Gymnasium erworben. Sein Kinn zitterte, als er erzählte, dass er sich für den naturwissenschaftlichen Zweig bewerben würde.

Es hätte wieder einer dieser immer gleichen Tage in der Justizvollzugsanstalt werden können. Aber für Joona gilt dies nicht, denn er wird Valeria de Castro treffen – und danach wird sein Leben eine unerwartete und gefährliche Wendung nehmen.

*

Joona deckt den Tisch im Besucherraum mit Kaffeetassen und Kuchentellern, streicht eine Serviette glatt, die sich in Falten gelegt hat, und schaltet die Kaffeemaschine in der Kochecke ein.

Als er die Schlüssel vor der Tür rasseln hört, erhebt er sich von seinem Stuhl und spürt, dass sein Herz schneller schlägt.

Valeria trägt eine marineblaue Bluse mit weißen Punkten und schwarze Jeans. Die dunkelbraunen Haare sind zusammengebunden und zu sanften Locken gedreht.

Sie kommt herein, bleibt vor ihm stehen und hebt den Blick.

Die Tür wird geschlossen und der Schlüssel umgedreht.

Sie stehen sich gegenüber und schauen einander lange an, bis sie »Hallo« flüstern.

»Es kommt mir immer noch seltsam vor, jedes Mal, wenn ich dich sehe«, sagt Valeria mit einer anhaltenden Scheu in der Stimme.

Sie sieht Joona mit glitzernden Augen an, ihre Blicke wandern über die Pantoffeln mit dem Logo der Justizvollzugsanstalt, über das graublaue T-Shirt mit den sandfarbenen Ärmeln und die abgewetzten Knie der ausgeleierten Hose.

»Ich kann dir nicht viel anbieten«, sagt er. »Ein paar Marmeladenkekse und Kaffee.«

»Marmeladenkekse«, sagt sie mit einem Nicken und zieht die Jeans ein Stückchen hoch, bevor sie sich auf einen der Stühle setzt.

»Sie sind ziemlich lecker«, sagt er und lächelt, sodass die Grübchen in seinen Wangen sich vertiefen.

»Wie kann man bloß so süß sein?«

»Das liegt an der Kleidung«, scherzt Joona.

»Ja«, lacht sie.

»Danke für den Brief, er ist gestern angekommen«, sagt er und setzt sich an die andere Seite des Tisches.

»Entschuldige, dass ich ein bisschen waghalsig geworden bin«, murmelt sie und errötet.

Joona schmunzelt, und sie lächelt breit mit gesenktem Blick, bevor sie wieder aufschaut.

»Schade, dass du keinen Urlaub bekommen hast … apropos«, sagt Valeria und unterdrückt ein weiteres Lächeln, wobei sich ihr Kinn kräuselt.

»Ich versuche es in drei Monaten noch einmal … und ansonsten versuche ich, begleiteten Ausgang zu bekommen«, erklärt Joona.

»Das wird schon klappen«, sagt sie und tastet auf dem Tisch nach seiner Hand.

»Ich habe gestern mit Lumi gesprochen«, fährt er fort. »Sie hat gerade Schuld und Sühne auf Französisch gelesen … das war schön, wir haben einfach dagesessen und uns über Bücher unterhalten, ich habe ganz vergessen, dass ich mich an diesem Ort befand … bis das Gespräch unterbrochen wurde.«

»Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du früher so viel erzählt hast.«

»Wenn du es auf zwei Wochen verteilst, sind es nur ein paar Wörter in der Stunde.«

Eine Locke fällt auf ihre Wange, und sie wirft sie mit einer Kopfbewegung nach hinten. Ihre Haut hat eine Nuance von Kupferpuder, und sie hat tiefe Lachfalten in den Augenwinkeln. Die dünne Haut ist unter den Augen grau, und sie hat Erde unter den kurzen Fingernägeln.

»Früher konnte man Kuchen aus einer Konditorei bestellen«, sagt Joona und schenkt Kaffee ein.

»Ich muss ohnehin an die Figur denken, bis du wieder herauskommst«, antwortet sie mit einer Hand auf dem Bauch.

»Du bist schöner als je zuvor«, sagt Joona.

»Da hättest du mich mal gestern sehen sollen«, lacht sie, während ihre langen Finger ein Tausendschönchen aus Email berühren, das an einer Kette um ihren Hals hängt. »Ich war draußen im Freibad von Saltsjöbaden, kroch durch den Regen und bereitete die Pflanzflächen vor.«

»Es waren Tokio-Kirschen, oder?«

»Ich habe mir eine Sorte ausgesucht, die weiße Blüten bekommt, Tausende, es ist unglaublich … als würde ein Schneesturm diesen kleinen Baum im Mai heimsuchen.«

Joona betrachtet die Kaffeetassen und die hellblauen Servietten. Das Licht von draußen fällt in breiten Streifen auf den Tisch.

»Wie geht es übrigens mit dem Studium?«, fragt sie.

»Es ist spannend.«

»Kommt es dir komisch vor, einen neuen Beruf zu lernen?«, fragt sie und faltet die Serviette.

»Ja, aber auf eine gute Art.«

»Und du bist dir sicher, dass du nicht zurück zur Polizei möchtest?«

Er nickt und schaut zum Fenster. Zwischen den horizontalen Gitterstäben sieht er das schmutzige Glas. Die Rückenlehne knackt, als er sich zurücklehnt und in der Erinnerung an den letzten Winter in Nattavaara verschwindet.

»Woran denkst du?«, fragt sie ernst.

»Nichts«, antwortet er leise.

»Du denkst an Summa«, erklärt sie schlicht.

»Nein.«

»Als ich von dem Schneesturm gesprochen habe.«

Er schaut in ihre bernsteinfarbenen Augen und nickt. Sie hat die seltsame Fähigkeit, beinahe seine Gedanken lesen zu können.

»Es gibt nichts, was so still ist wie Schnee, wenn kein Wind mehr weht«, sagt er. »Du weißt … Lumi und ich saßen bei ihr … hielten ihre Hände …«

Joona denkt an die merkwürdige Ruhe, in die seine Frau fiel, bevor sie starb, und an die Stille, die darauf folgte.

Valeria beugt sich über den Tisch und legte ihre Hand auf seine Wange, ohne ein Wort zu sagen. Die Tätowierung auf ihrer rechten Schulter leuchtet durch den dünnen Stoff der Bluse hindurch.

»Wir werden das schaffen – bestimmt«, sagt sie leise.

»Wir schaffen das«, antwortet er und nickt.

»Du wirst mir das Herz nicht zerbrechen, Joona?«

»Nein.«

Hasenjagd
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