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JEANETTE SIEHT ZU, wie die Frau in das Fahrerhaus klettert und die Tür hinter sich schließt. Sie wartet eine Weile in der Dunkelheit und hört das Knacken der Polsterfedern im Sitz.
Autolichter bewegen sich über die Erde, Schatten gleiten schnell zur Seite. Lachen und gedämpfte Musik erreichen sie vom anderen Ende des Rastplatzes.
Irgendwo schreit eine Frau, ihre Stimme klingt wütend und heiser von Trunkenheit.
Jeanette schaut unter den Anhänger des Sattelzugs. Weiter hinten lässt jemand eine Zigarette zu Boden fallen. Die Glut zerspringt auf dem Asphalt und wird ausgetreten. In der anderen Richtung bemerkt sie plötzlich eine Bewegung. Es sieht so aus, als würde jemand auf allen vieren unter Lastwagen und Anhängern hindurch in ihre Richtung krabbeln. Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinauf bis in den Nacken, und Jeanette geht zum Restaurant hinüber.
Ein Sattelzug fährt auf den Rastplatz, bremst mit einem Knirschen und lässt sie vorbei. Ein kräftiges Zischen. Eine Kette schaukelt klirrend unter dem Wagen. Jeanette kann keinen Blickkontakt zum Fahrer herstellen, betritt aber trotzdem die Straße und geht durch das starke Scheinwerferlicht.
Sie nähert sich dem Restaurant und dreht sich um, aber niemand folgt ihr.
Jeanette geht etwas langsamer und denkt, dass sie sich die kaputte Strumpfhose ausziehen und die Wunde auswaschen sollte, bevor sie Saga anruft.
Sie geht weiter zu den Toiletten, aber sie sind alle besetzt. Das Blut ist um die Wunde herum geronnen und die Wade heruntergelaufen.
Die dünne Blechtür zu einer der Toiletten wird geöffnet, und eine wasserstoffblonde Frau kommt heraus. Sie drückt ein Telefon gegen das Ohr und schreit hinein, dass sie einen Kunden gehabt habe und nicht alles gleichzeitig tun könne.
Die Frau verschwindet wild gestikulierend in Richtung der Sattelzüge.
Ein handgeschriebener Zettel mit den Worten »außer Betrieb« klebt an der Tür, aber Jeanette geht trotzdem hinein und schließt hinter sich ab.
Es ist eine Behindertentoilette mit dünnen Trennwänden aus Blech. Die weißen Armstützen sind hochgeklappt, und ein roter Alarmknopf leuchtet auf Bodenhöhe.
Sie zieht ihre kaputten Strumpfhosen aus und wirft sie weg. Im Papierkorb liegen jede Menge benutzter Kondome. Der Boden ist von feuchtem Toilettenpapier bedeckt und die Wände vollgekritzelt.
Jeanette sieht sich im Spiegel und holt ihre Puderdose aus der Handtasche, beugt sich über das Waschbecken und hört, dass sich jemand im Nebenraum befindet, ein Körper, der sich in einem engen Raum bewegt.
Sie pudert sich das Gesicht und sieht im Spiegel, dass es einen Meter über dem Boden ein recht großes Loch in der Wand zur anderen Toilette gibt. Vielleicht hat früher dort die Toilettenpapierrolle gehangen. Sie steckt die Puderdose wieder ein, dreht sich um und sieht, dass die Wand sich ein wenig ausbeult.
Jemand lehnt sich von der anderen Seite dagegen.
Es knistert, und ein gefalteter Geldschein fällt durch das Loch auf den Boden. Die Wand knarrt leise. Jeanette will schon etwas sagen, als plötzlich ein großer Penis erscheint, er hängt aus dem Loch direkt vor ihr.
Die Situation ist so absurd, dass sie darüber lächeln muss.
Sie erinnert sich, einmal gelesen zu haben, dass es in Swingerclubs in Frankreich solche Räume gibt.
Der Mann auf der anderen Seite hält sie für eine Prostituierte.
Das ist total verrückt.
Sie bleibt eine Weile reglos stehen, muss kräftig schlucken, starrt auf den Penis, spürt die heftigen Schläge ihres Herzens in der Brust, schaut auf die Toilettentür, sieht, dass sie abgeschlossen ist.
Langsam streckt sie eine Hand aus und umfasst das warme, dicke Glied.
Jeanette drückt vorsichtig zu und spürt, wie es hart wird und sich aufrichtet, sie bewegt die Hand vorsichtig vor und zurück und lässt es wieder los.
Sie weiß nicht, warum sie es tut, aber sie beugt sich vor und nimmt den Penis in den Mund, lutscht vorsichtig, spürt ihn wachsen und hart werden. Sie hält inne und atmet, führt die Hand zwischen ihre Beine, zieht die Unterhose hinunter, steigt heraus, während sie das harte Glied umfasst.
Sie versucht leise zu atmen und weiß, dass sie die Sache jetzt abbrechen sollte, dass sie verrückt ist. Der Puls dröhnt in ihrem Kopf. Sie dreht sich um und stützt sich mit der Hand auf dem Spülkasten der Toilette ab. Ihre Beine zittern, als sie sich auf die Zehenspitzen stellt, den Penis herunterbiegt und ihn von hinten in sich hineingleiten lässt. Sie keucht und schaut erneut auf das Schloss. Die Blechwand knackt, als Jeanette nach vorn gestoßen wird, sie hält sich am Spülkasten fest und drückt den Hintern an das kühle Metall.
*
Saga sitzt Tamara in einer Nische des Restaurants gegenüber und wartet, während die zugedröhnte Frau die Pommes von einem Teller mit einem Klecks Ketchup am Rand isst. Ein Faden aus durchsichtigem Rotz glänzt unter ihrer Nase. Weit unter ihnen bewegt sich der Autobahnverkehr, weißes Licht in die eine Richtung, rotes in die andere.
»Wie gut kennen Sie Sofia Stefansson?«, fragt Saga.
Tamara zuckt mit den Schultern, trinkt den Milkshake durch einen Strohhalm, die Wangen ziehen sich ein, und ihre Stirn wird blass.
»Hirnfrost«, keucht sie, als sie den Strohhalm endlich loslässt.
Sie tunkt jede Fritte sorgfältig in den Ketchup und isst, während sie vor sich hin lächelt.
»Wer waren Sie nochmal?«, fragt sie.
»Ich bin eine Freundin von Sofia«, erklärt Saga.
»Genau.«
»Könnte sie vorgetäuscht haben, dass sie als Prostituierte arbeitet?«
»Vorgetäuscht? Was reden Sie für’n Scheiß? Wir haben einmal in einem Müllkeller zusammengearbeitet … sie wurde in den Arsch gefickt … ich weiß nicht, ob das als Vortäuschen gilt.«
Tamaras Gesicht wird plötzlich wieder schlaff, als würde sie sich tief in einer Erinnerung verlieren.
»Warum haben Sie als Escort-Girl in Stockholm aufgehört?«, fragt Saga.
»Sie könnten auch weit kommen, bestimmt … Ich habe Kontakte, ich bin Unterwäschemodel gewesen … aber ohne Unterwäsche«, sagt Tamara und wird von einem lautlosen Lachen geschüttelt.
»Sie hatten einmal einen Kunden draußen in Djursholm, ein großes Haus am Wasser, er könnte sich Wille genannt haben«, erklärt ihr Saga ruhig.
»Vielleicht«, sagt Tamara und kaut die Pommes mit offenem Mund.
»Erinnern Sie sich an ihn?«, fragt Saga.
»Nein«, gähnt Tamara, wischt sich die Hände am Rock ab und schüttet den Inhalt ihrer Tasche auf dem Tisch aus.
Haarbürste, eine Rolle Plastiktüten, Lippenstift, der angespitzte Rest eines Kajalstifts, Kondome und ein Parfüm von Victoria’s Secret rollen auf das Wachstuch. Saga bemerkt, dass Tamara drei dunkelbraune Glasampullen mit Pethidin besitzt, eine Droge mit einem extrem hohen Suchtpotenzial. Tamara drückt eine Valium aus einem Blister mit zehn hübschen, hellblauen Tabletten und spült sie mit Pepsi hinunter.
Saga wartet geduldig, bis sie die Gegenstände wieder in die Tasche zurückverfrachtet hat, und zeigt ihr dann ein Bild des Außenministers.
»Auf den scheiß ich doch«, sagt Tamara und presst die Lippen zusammen.
»Hat er mit jemandem telefoniert, als Sie da waren?«
»Jetzt mal im Ernst … er war gestresst und hat jede Menge getrunken, redete die ganze Zeit davon, dass die Bullen vor ihm strammstehen sollten … er hat es ungefähr hundertmal gesagt«, grinst sie.
»Dass die Polizei strammstehen sollte?«
»Ja … und dass es einen Typen mit zwei Gesichtern gab, der hinter ihm her war.«
Sie trinkt noch mehr Pepsi und schüttelt den Becher, sodass die Eiswürfel klackern.
»Auf welche Weise war er hinter ihm her?«
»Ich habe nicht gefragt.«
Tamara tunkt die Pommes in den Ketchup und isst.
»Was meinte er mit den zwei Gesichtern?«
»Ich weiß nicht, er war voll, vielleicht meinte er, dass der Typ zwei Seiten hatte«, schlägt Tamara vor.
»Was hat er noch über diesen Mann gesagt?«
»Nichts, es war nicht wichtig, nur Gerede.«
»Wollte er ihn treffen?«
»Ich weiß nicht, er hat nichts mehr darüber gesagt … ich wollte nur, dass er sich wohlfühlte, also brachte ich ihn dazu, über die Bilder an den Wänden zu reden.«
»War er Ihnen gegenüber gewalttätig?«
»Er war ein Gentleman«, antwortet sie verschlossen.
Tamara nimmt die Tüte mit den Süßigkeiten vom Tisch, steht auf und taumelt zum Ausgang. Saga folgt ihr, als das Telefon klingelt. Sie schaut auf das Display, sieht, dass es ihr Kollege Janus Mickelsen ist, lässt die Fingerspitze über das grüne Symbol gleiten, hält das Telefon ans Ohr und meldet sich mit ihrem Nachnamen.
»Bauer.«
»Wir sind alle Überwachungsfilme auf der Festplatte des Außenministers durchgegangen … dreizehn Kameras über zwei Monate, beinahe zwanzigtausend Stunden Film«, erzählt Janus.
»Sieht man den Täter? War er dort und hat die Lage erkundet?«
»Nein, aber eine andere Person ist deutlich auf einem der Filme zu erkennen – du musst es dir einfach anschauen, ruf an, wenn du vor dem Büro stehst, dann komme ich runter und öffne die Tür.«
Saga weiß, dass Janus bipolar ist und dass er sich in einem manischen Schub befindet, dass er aus irgendeinem Grund seine Tabletten nicht genommen hat.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragt Saga.
»Scheißegal«, antwortet er hastig.
»Ich muss schlafen, wir sehen uns morgen«, sagt sie leise.
»Schlafen«, wiederholt Janus und lacht schließlich laut, als er sie durchschaut. »Mit mir ist alles in Ordnung, Saga, ich bin nur voller Energie, genau wie du.«
Sie geht zum Parkplatz, sieht den Verkehr unter sich, die breite, graue Autobahn in der Dunkelheit, und ruft Jeanette an.
Sofia scheint sich tatsächlich prostituiert zu haben, sie hat vermutlich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt und ist in keiner Weise in den Mord verwickelt.
Aber warum durfte sie dann leben?, fragt sich Saga, als sie vor dem Auto steht. Sie haben immer noch keine Ahnung, was den Mörder antreibt.