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IN DER CEDERGATAN vor den Toren von Helsingborg liegt ein großes Privatanwesen mit weiß verputzter Fassade und einem hellen Reetdach. Der frühe Morgen hat den schönen Park in einen grauen Nebel gehüllt, aber aus den Fenstern im Erdgeschoss strahlt ein gelbes Licht.
Die Villa ist eingefasst wie ein Bernstein in eine Silberbrosche.
Nils Gilbert wird mit einem Ruck aus dem Schlaf gerissen. Er muss im Rollstuhl eingeschlafen sein. Sein Gesicht ist erhitzt, und sein Herz schlägt heftig. Die Sonne ist noch nicht über die Baumspitzen gestiegen, das Haus und der Park liegen im Schatten.
Immer noch gleicht der Garten einem finsteren Totenreich.
Er versucht zu sehen, ob Ali gekommen ist, ob er die Schubkarre und den Spaten aus dem Schuppen geholt hat.
Als Nils gerade zur Küchentür gerollt ist, um ein bisschen Luft hereinzulassen, hört er ein seltsames Scharren. Das Geräusch scheint aus dem großen Salon zu kommen, und er nimmt an, dass es die Katze ist, die nach draußen möchte.
»Lizzy?«
Das Geräusch verstummt sofort, er lauscht noch eine Weile, bevor er sich wieder zurücklehnt.
Seine Hände auf den Armstützen des Rollstuhls beginnen zu zittern. Die Beine zucken und hüpfen in einem sinnlosen Tanz, den niemand sehen möchte.
Er hatte die Anzeichen der Parkinson-Krankheit so lange verborgen, wie er konnte, die Steifheit in einem Arm, der Fuß, den er nachzog, die Handschrift, die sich veränderte und am Schluss so klein wurde, dass nicht einmal er selbst seine mikroskopischen Buchstaben entziffern konnte.
Er wollte nicht, dass Eva etwas bemerkt.
Und dann war sie es, die vor drei Jahren starb. Sie hatten nicht gewusst, dass es ein Herzinfarkt war, wussten nicht, dass die Symptome bei einer Frau anders sein konnten.
Eva hatte mehrere Wochen lang über Müdigkeit geklagt.
Es war Samstag, und sie war gerade mit schweren Taschen vom Einkaufszentrum Väla zurückgekommen, als ihr das Atmen plötzlich schwerfiel und sie einen Druck auf der Brust verspürte. Mit einem Lächeln sagte sie, dass sie sich eine dicke Erkältung eingefangen habe.
Schweiß rann die glänzenden Wangen herunter, als sie sich ins Sofa setzte. Sie legte sich hin und war tot, als er fragte, ob er den Fernseher anschalten solle.
Jetzt sind nur noch er und die fette Lizzy übrig.
Es können Wochen vergehen, ohne dass er jemanden trifft, mit dem er sich unterhalten kann. Manchmal macht er sich Sorgen, dass er vielleicht keine Stimme mehr haben könnte.
Einer der wenigen Menschen, denen er überhaupt begegnet, ist das Mädchen, das den Swimmingpool pflegt. Sie läuft in Jeans und einem goldgefärbten Bikinioberteil herum und ist peinlich berührt, wenn er versucht, mit ihr zu sprechen.
Als er das erste Mal etwas zu sagen versuchte, schaute sie ihn an, als wäre er neunzig Jahre alt oder ernsthaft geistig behindert.
Diejenigen, die ihm das Essen liefern, haben es immer eilig, sie wollen seine Unterschrift und dann gleich weiter. Und die Krankengymnastin, eine übellaunige Frau mit großen Brüsten, erledigt nur ihre Arbeit, gibt ihm kurze Befehle und tut so, als würde sie seine Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, nicht hören.
Nur der Iraker von der Gartenfirma hat ein bisschen Zeit. Ali kommt manchmal herein und trinkt einen Kaffee.
Im Grunde unterhält Nils nur seinetwegen den Pool noch, aber er hat niemals gewagt, ihm anzubieten, den Pool zu nutzen.
Ali arbeitet hart und bekommt einen schweißnassen Rücken.
Nils weiß, dass er ihn zu oft bestellt, deshalb sieht der Garten auch so aus, wie er aussieht, mit formgeschnittenen Büschen und gestutzten Hecken, grünen Portalen und perfekten Steinwegen.
Es ist still, es ist immer so still hier.
Nils schaudert, legt seine Hände auf die Greifringe, zieht und drückt in entgegengesetzte Richtungen, wendet den Rollstuhl und fährt zur Musicbox.
Er hat sie gekauft, als er zwanzig Jahre alt war: ein echter Seeburg, konstruiert vom Schweden Sjöberg.
Früher hat er die Singles manchmal ausgetauscht, hat neue Etiketten mit der Schreibmaschine geschrieben und sie unter der Glasscheibe platziert.
Jetzt nimmt er die Münze aus dem Fach, steckt sie in den Schlitz, hört sie hinunterklimpern, die Maschinerie in Gang setzen, bevor sie wieder im Fach landet.
Er hat die ganzen Jahre immer dieselbe Einkronenmünze verwendet.
Mit zitternder Hand drückt er C7 auf den Tasten ein. Mit einem Summen wird die Single ausgewählt und auf den Plattenteller gelegt.
Nils rollt weg und hört das einzigartige Intro von Stargazer mit dem rasanten Schlagzeugsolo. Er wird in die Zeit zurückgeworfen, in der er Ende der Siebzigerjahre Rainbow im Konzerthaus von Stockholm sah.
Die Band hatte mit mehr als einer Stunde Verspätung begonnen, aber als Dio hereinkam und Kill the King zu singen begann, brandete das Publikum bis an die Bühne heran.
Nils rollt zu den großen Fenstern hinüber. Jeden Nachmittag lässt er den Sonnenschutz vor den großen, nach Westen zeigenden Glasscheiben herunter, um seine Kunst vor dem grellen Licht zu schützen.
Durch das Nylongewebe sieht der Garten dunkler und grauer aus.
Für Ali muss dieses ganze Anwesen wie eine traurige Manifestation der Abwesenheit von Kindern und Enkelkindern aussehen.
Nils weiß, dass das Haus ein schrecklicher Protzbau, dass der Park übertrieben groß ist und niemand den Swimmingpool benutzt.
Seine Firma hat komplexe elektronische Bauteile für Radaranlagen und automatische Steuersysteme entwickelt. Er hat sehr gute Beziehungen zur Regierung und konnte beinahe zwanzig Jahre lang Dual-Use-Produkte exportieren.
Plötzlich zieht es kalt über seine Arme.
Durch die laute Musik hindurch hört er, wie ein kleines Kind einen Reim aufsagt.
Er dreht den Rollstuhl und fährt in die Halle hinaus.
Die Stimme kommt aus dem ungenutzten Obergeschoss. Er rollt bis zur Treppe, die er seit so vielen Jahren nicht mehr betreten hat, und sieht, dass dort oben die Tür zum Schlafzimmer nur angelehnt ist.
Die Musik aus der Musicbox endet, es knistert und summt, als die Single an ihren Platz zwischen den anderen zurückgestellt wird, und dann wird es still.
Nils begann sich vor einem halben Jahr vor der Dunkelheit zu fürchten, nachdem er einen Albtraum über seine Frau hatte. Sie kehrte vom Tod zurück, konnte aber nur aufrecht stehen, weil sie auf einen groben Holzpflock gepfählt war, der zwischen den Beinen hinauf durch den Körper und den Hals bis zum Kopf ging.
Sie war zornig, weil er nichts getan hatte, um ihr zu helfen, weil er nicht das Krankenhaus angerufen hatte.
Der blutige Pfahl ging bis zum Boden hinunter, und Eva war gezwungen, auf eine seltsame, breitbeinige Weise zu gehen, als sie ihm folgte.
Nils legt die Hände in den Schoß. Sie rütteln und schütteln, zucken herum in einer leeren und übertriebenen Gestik, die nichts bedeutet.
Als sie still werden, zieht er den Gurt über die Oberschenkel, damit er nicht aus dem Stuhl rutscht, wenn das Schütteln wieder beginnt.
Er rollt in den Salon und sieht sich um. Alles ist wie immer. Der Kronleuchter, die persischen Teppiche, der Marmortisch und die gustavianische Sitzgruppe, die Eva aus ihrem Elternhaus mitgebracht hat.
Das Telefon liegt nicht mehr auf dem Tisch.
Manchmal ist Evas Anwesenheit im Haus so spürbar, dass er glaubt, ihre große Schwester hätte einen Extraschlüssel und schleicht wie in einem Scooby-Doo-Film hier herum, um ihn zu erschrecken.
Er rollt wieder in Richtung der Küche, als eine Gestalt in seinen Augenwinkeln vorüberflattert. Schnell dreht er den Kopf und meint ein Gesicht in dem antiken Spiegel zu erkennen, bevor er wie so viele Male zuvor begreift, dass es nur die Feuchtigkeitsflecken auf dem Glas sind.
»Lizzy?«, ruft er matt.
Eine Küchenschublade rasselt, er hört Schritte auf dem Boden, bleibt mit klopfendem Herzen stehen, wendet den Rollstuhl und stellt sich vor, wie das Blut an dem Pfahl zwischen Evas Beinen herunterläuft.
Lautlos schiebt er die Greifringe nach vorn, rollt zu den großen Verandatüren und hört das schwache Sausen der Räder auf dem Parkett.
Eva geht breitbeinig durch die Küche, der Pfahl kratzt über den Klinkerboden, zieht eine Blutspur und stößt gegen die Schwelle zum Speisezimmer.
Erneut hört er den dummen Kinderreim.
Es muss von dem Radio kommen, das in der Küche steht.
Die Fußstütze des Rollstuhls schlägt mit einem leisen Geräusch gegen die Glastür.
Er schaut auf die geschlossene Tür zum Speisesaal, die sich im Fenster zum Garten spiegelt.
Seine Hände zittern, und wegen des steifen Nackens fällt es ihm schwer, sich nach vorne zu beugen und auf den Schalter für den Sonnenschutz zu drücken.
Summend rollt das graue Nylontuch wie ein Vorhang nach oben, und der Garten erscheint Stück für Stück in klareren Morgenfarben.
Die Sonnenstühle stehen draußen, Fichtennadeln haben sich in den Falten der Bezüge gesammelt. Die Beleuchtung des Schwimmbeckens ist ausgeschaltet, aber vom Wasser steigt warmer Dampf auf.
Sobald der Sonnenschutz oben ist, kann er die Tür öffnen und nach draußen rollen.
Er wird draußen auf Ali warten, ihn bitten, sich im Haus umzuschauen, gestehen, dass er Angst vor der Dunkelheit hat, dass er die Lampen jede Nacht anlässt, und ihn vielleicht zusätzlich dafür bezahlen, dass er noch eine Weile bleibt.
Zitternd dreht er den Schlüssel um. Es klickt, er legt den Handgriff um und zieht die Tür ein bisschen auf.
Er rollt zurück, schaut zum Speisesaal und sieht, wie sich die Tür im Windzug langsam öffnet.
Er rollt direkt in die Verandatür, mit aller Kraft, sie schwingt auf, und er sieht flüchtig den Widerschein einer Gestalt, die sich von hinten nähert.
Nils hört die schweren Schritte, als er auf die Steinplatten rollt und die kühle Luft im Gesicht spürt.
»Ali, bist du das?«, ruft er mit ängstlicher Stimme, während er weiter nach vorne rollt. »Ali!«
Der Garten ist still, der Werkzeugschuppen abgeschlossen. Der Morgendunst fließt über den Boden. Der Rohrkolben am Teich zittert im schwachen Wind.
Er versucht den Rollstuhl zu drehen, aber ein Reifen ist in die Fuge zwischen zwei Steinen gerutscht. Nils kann kaum atmen. Er versucht das Schütteln zu unterdrücken, indem er die Hände in die Achselhöhlen presst.
Jemand nähert sich ihm vom Haus aus, und er sieht sich über die Schulter um.
Es ist ein maskierter Mann mit einer schwarzen Tasche in der Hand. Er kommt auf ihn zu, verkleidet wie ein Henker.
Nils reißt an den Greifringen, ohne loszukommen.
Er will gerade nach Ali rufen, als eine kalte Flüssigkeit über seinen Kopf fließt, durch das Haar, den Nacken hinunter, über das Gesicht und die Brust.
Er braucht ein paar Sekunden, bis er begreift, dass es sich um Benzin handelt.
Die schwarze Tasche ist der Plastikkanister für den Rasenmäher, und der maskierte Mann tränkt ihn mit Benzin.
»Warten Sie, bitte, ich habe jede Menge Geld … ich verspreche Ihnen, ich kann alles überweisen«, keucht er und beginnt, wegen der Dämpfe zu husten.
Der maskierte Mann geht um ihn herum, schüttet den Rest auf seine Brust und wirft den leeren Kanister auf den Boden vor dem Rollstuhl.
»Großer Gott, bitte … ich tue alles, was Sie wollen …«
Der Mann holt eine Streichholzschachtel heraus, sagt ein paar unverständliche Worte, Worte, die die Hysterie nicht durchdringen, die durch ihn hindurchrauscht, die heruntersegeln wie glänzende Münzen in einem Wunschbrunnen.
»Tun Sie das nicht, tun Sie das nicht, tun Sie das nicht …«
Er versucht, den Riemen über den Oberschenkeln zu lösen, aber er ist verdreht und zu fest angezogen. Die Hände zerren und ziehen. Ohne Eile reißt der Mann ein Streichholz an und wirft es auf seinen Schoß.
Es seufzt und dröhnt, als würde man Fallschirm springen.
Der Todesengel breitet seine furchtbaren Schwingen um ihn aus.
Der Pyjama und das Haar brennen.
Und durch den blauen Schein sieht er den maskierten Mann vor der Hitze zurücktaumeln.
Der Kinderreim rollt durch seinen Kopf, während es um ihn herum stürmt. Er bekommt keine Luft mehr in die Lungen, es ist, als würde er ertrinken, und dann plötzlich kommt der Schmerz, so absolut und umfassend.
Er hätte sich niemals vorstellen können, dass irgendetwas so entsetzlich sein könnte.
Er beugt sich nach vorne in die Embryonalhaltung und hört wie von fern das metallische Knacken, mit dem sich der Rollstuhl in der Hitze zusammenzieht.
Nils kann noch denken, dass es so klingt wie die Musicbox, wenn sie eine neue Scheibe heraussucht, bevor er das Bewusstsein verliert.