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DAS UNWETTER IST direkt über ihnen, und schwere Böen peitschen ihnen den Regen in die Augen.

Als sie zu dem Ort kommen, an dem die Notrakete abgefeuert wurde, entdeckt Rex seinen Sohn. Er sitzt zusammen mit DJ zusammengekrümmt an einem Baumstamm. Ihre grüne Jagdkleidung ist vollkommen durchnässt, und Regenwasser rinnt über ihre Gesichter.

»Sammy?«, ruft Rex und läuft zu ihm. »Was ist passiert? Du warst einfach weg, und ich …«

»Hört mir zu«, sagt DJ und steht auf. Wasser rinnt aus seinem blonden Bart auf die Jacke, und seine blauen Augen sind blutunterlaufen. »Wir hatten einen Unfall … Kent ist tot, er ist in den Canyon gefallen …«

»Was zum Teufel sagst du da?«, brüllt James durch den donnernden Regen.

»Er ist tot«, ruft DJ. »Da ist nichts mehr zu machen.«

Der Sturzregen ändert mit den starken Böen die Richtung. Die Kleidung zerrt und flattert an ihren Körpern.

»Was ist passiert?«, keucht Rex.

»Es ist ziemlich viel Gestrüpp an der Kante«, sagt DJ und schaut ihn aus leeren Augen an. »Vielleicht hat er den Abgrund nicht gesehen … er wusste vielleicht nicht, wo er sich befand.«

»Sammy?«, fragt Rex. »Du bist einfach verschwunden …«

Sein Sohn schaut ihn an und wendet das Gesicht dann wieder ab.

»Er ist gestürzt«, sagt Sammy leise.

»Du hast es gesehen?«

»Er liegt dort unten«, sagt Sammy und zeigt mit dem Finger in die Richtung.

Rex und James gehen vorsichtig an die Kante heran, um zu schauen. Der Regen rinnt den Nacken hinunter, über den Rücken und in die Hosen hinein.

»Seid vorsichtig«, ermahnt sie DJ.

Es ist schwierig, in dem dichten Regen auszumachen, wo der Boden endet. Langsam nähern sie sich der Kante und sehen, wie sich die tiefe Schlucht vor ihnen öffnet. Der Wind zerrt an James’ Kleidung, und er taumelt ein paar Schritte nach vorn, bevor er das Gleichgewicht wiederfindet.

Rex geht vorsichtig näher heran, sorgt dafür, dass er guten Halt unter den Stiefeln hat, und hält sich an den struppigen Büschen fest, als er sich über die Kante beugt.

Zuerst sieht er nichts. Er kneift die Augen zusammen und wischt sich den Regen aus dem Gesicht. Seine Blicke wandern über Bäume, Steine, ausgerissene Wurzeln, Büsche. Dann entdeckt er Kent. Sein Körper liegt vielleicht fünfundvierzig Meter weiter unten, neben dem Abhang.

»Er bewegt sich«, ruft James neben ihm. »Ich klettere hinunter, das muss doch möglich sein.«

Rex hebt den Feldstecher, muss aber den Busch loslassen, um sehen zu können. Er bewegt sich auf der Klippe zur Seite und hält das Fernglas vor die Augen.

Die steile Kante versperrt immer noch die Sicht. Er geht näher heran, beugt sich vor und sieht das grüne Bündel. Plötzlich bewegt sich die Erde unter seinen Füßen. Rex greift nach ein paar Zweigen in seiner Nähe und fällt nach hinten, während eine Schicht Moos und festgetretene Erde über die Kante rutscht und in die Tiefe fällt.

»Großer Gott«, murmelt er.

Die Todesangst jagt durch seinen Körper, und das Herz schlägt schnell, als er den Feldstecher wieder hebt, sich vorbeugt und die richtige Brennweite einstellt. Trotz des Wassers, das über die Linsen läuft, sieht er den Körper jetzt deutlich.

Das Blut von einem Aufprall weiter oben wird vom Regen fortgewaschen.

Kent liegt festgekeilt in einer Spalte, der Nacken muss weggedreht worden sein, denn das Gesicht ist nach hinten gewandt, und das eine Bein ragt in einem unmöglichen Winkel nach oben.

Es gibt keinen Zweifel, dass er tot ist.

»Wir müssen einen Rettungshelikopter rufen«, schreit James, und seine schmalen Augen sind dunkel vor Panik.

»Er ist tot«, sagt Rex und lässt den Feldstecher sinken.

»Ich klettere runter«, beharrt James.

»Das ist zu gefährlich«, ruft DJ hinter ihnen.

»Scheiße«, wimmert James und sinkt neben der Kante nieder.

Lawrence kommt keuchend hinzu, seine Brille ist nass, und er hat sich irgendwo eine Schramme geholt, es blutet am Oberschenkel durch den dicken Stoff der Hose. Der kräftige, graue Bart ist voller Nadeln und Zweige.

»Was ist los?«, keucht er und wischt sich das Wasser aus den Augen.

»Kent ist in die Schlucht gefallen«, antwortet James.

»Ist es etwas Ernstes?«

»Er ist tot«, sagt DJ.

»Das wissen wir nicht«, ruft James empört.

»Er kann diesen Fall nicht überlebt haben«, sagt DJ zu Lawrence und zeigt in die Schlucht hinunter.

»Er ist tot«, bestätigt Rex.

»Halt den Mund«, kreischt James hysterisch.

»Hört mir zu«, sagt DJ mit erhobener Stimme. »Wir gehen zurück ins Hotel und rufen den Rettungsdienst.«

Lawrence entfernt sich, schüttelt den Kopf und setzt sich mit dem Gewehr auf dem Schoß auf einen Stein und starrt ins Leere. James steht regungslos da, seine Lippen sind weiß vor Wut und Schock.

»Ich wusste es«, sagt er leise vor sich hin.

»Es gibt nichts, was wir jetzt für ihn tun können«, sagt DJ. »Wir brauchen ein Telefon …«

Rex geht zu seinem Sohn, hockt sich vor ihm hin und kann endlich seinen Blick einfangen.

»Wir gehen zurück zum Hotel«, sagt er sanft.

»Ja, danke«, antwortet Sammy.

DJ versucht mit den beiden anderen Männern zu diskutieren, aber sie gehen nicht auf ihn ein.

»Ich verstehe, dass es euch belastet, ihn einfach dort liegen zu lassen«, fährt er fort. »Aber wir müssen so schnell wie möglich den Rettungsdienst verständigen.«

Rex hilft Sammy, als er aufsteht. DJ deutet in eine bestimmte Richtung, und sie gehen los.

»Kommt jetzt mit«, ruft DJ. »Wir wollen nicht noch mehr Unfälle.«

Die beiden Männer schauen ihn an und beginnen sich langsam zu regen. Die Gruppe geht an der Bergflanke entlang, schräg hinunter zum Tal in Richtung Hotel und Torneträsk.

»Das hier ist doch total krank«, sagt James.

Der Regen rauscht nach wie vor vom Himmel, und die Kleidung hängt schwer an ihren Körpern.

»Können wir nicht einfach nach Hause fahren?«, fragt Sammy.

»Tut mir leid, dass du das hier erleben musstest«, entschuldigt sich Rex und wendet sich den anderen zu.

Er sieht die drei Männer durch den Regen an. Wasserpfützen bilden sich in jedem Loch und jeder Senke, der Boden scheint zu kochen. Die Klippen bekommen einen weißen Schimmer von den harten Aufschlägen der Tropfen.

»Pass auf, dass du nicht ausrutschst«, erinnert er Sammy.

»Ich habe gesehen, wie er gestürzt ist«, flüstert der Sohn. »Ich bin von der Seite gekommen … es war vor dem Regen, es ging so verdammt schnell … ich verstehe es nicht.«

»Wir hätten nicht mit auf die Jagd kommen sollen«, sagt Rex und spürt, wie eine starke Angst seine Kehle umklammert. »Ich glaube immer, dass ich alle möglichen Dinge tun muss, aber ich bin im Grunde kein Jäger, das hätte ich direkt sagen sollen.«

»Du bist zu nett dafür«, sagt Sammy müde.

»Wir hätten stattdessen im Hotel warten können«, fährt Rex fort und hält einen Zweig zur Seite. »Wir hätten kochen können, herumsitzen und uns unterhalten, genau wie du es gewollt hast.«

»Mama hat erzählt, dass ich nicht geplant war, ganz im Gegenteil …«

»Hör mal zu«, sagt Rex. »Ich war unglaublich unreif, als sie und ich uns kennengelernt haben, ich hatte keinen einzigen Gedanken an Kinder verschwendet, es fühlte sich an, als hätte ich gerade erst zu leben begonnen.«

»Wolltest du, dass Mama abtreibt?«, fragt sein Sohn.

»Sammy, alles hat sich verändert, als ich dich das erste Mal sah, als ich wirklich begriff, dass ich einen Sohn hatte.«

»Mama hat immer gesagt, dass ich dir wichtig bin, aber dass du es nicht so gut zeigen kannst.«

»Ich habe mir die ganze Zeit einzureden versucht, dass ich für dich da sein werde, wenn es wirklich nötig ist, aber das war ich nicht«, sagt Rex und muss schlucken. »Ich war nie für dich da.«

Er verstummt, als er spürt, dass seine Stimme nicht mehr trägt. Er versucht, zu Atem zu kommen und sich zu beruhigen.

»Ich komme alleine zurecht«, erwidert Sammy.

Rex bleibt stehen und versucht, Augenkontakt zu seinem Sohn herzustellen.

»Sammy«, sagt er. »Du weißt hoffentlich, dass ich sehr glücklich darüber bin, dass du bei mir wohnst? Das musst du doch spüren, es waren die besten Stunden meines Lebens, als wir zusammen gekocht haben, als wir Gitarre gespielt haben.«

»Papa, du musst das nicht sagen«, erwidert Sammy.

»Aber ich liebe dich«, fährt Rex mit gerührter Stimme fort. »Du bist mein Sohn, ich bin stolz auf dich, du bist das Einzige, was mir wichtig ist.«

Hasenjagd
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