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NACH DREI STUNDEN haben sie sich dreizehn Nachtfilme angeschaut. Dreizehn Perspektiven auf ein schlafendes Haus am ersten Mai zwischen 03.46 und 03.55 Uhr. Vier Kameras fangen Rex während dieser neun Minuten ein, von dem Moment, in dem er seine Flasche auf dem Weg abstellt und über den schwarzen Eisenzaun klettert, bis er das Grundstück verlässt und sich darüber freut, eine Weinflasche mitten auf dem Weg zu finden.

»Nichts«, seufzt Johan Jönson.

Rex befindet sich neun Minuten lang auf dem Grundstück, und während dieser Zeit ist auf keinem der Filme irgendein anderer Mensch zu sehen, kein Fahrzeug auf der Straße, keine Bewegung hinter den Gardinen.

»Aber er hat den Mörder gesehen«, sagt Joona. »Er muss ihn gesehen haben, seine Beschreibung stimmt mit anderen Zeugenaussagen überein.«

»Vielleicht war es zu einem anderen Zeitpunkt«, brummelt Johan.

»Nein, es ist in dieser Nacht passiert … er sieht den Mörder, auch wenn wir es nicht tun«, wiederholt Joona.

»Aber wir können nicht sehen, was er gesehen hat – wir haben nichts anderes als unsere Kameras.«

»Wir müssen herausfinden, wann genau er ihn gesehen hat … fang mit Kamera sieben an, die direkt auf den Swimmingpool gerichtet ist.«

Erneut sehen sie Rex am Rand des Bildschirms, wie er in der verzerrten Peripherie des Objektivs über die Terrassendielen stolpert, sich das Knie aufschlägt, den Sturz aber abfängt und wieder auf die Beine kommt.

Er geht zum Rand des Beckens, schwankt eine Weile hin und her, zieht den Hosenschlitz auf und uriniert in das Wasser, torkelt dann auf die marineblauen Terrassenmöbel zu und lässt den Urin über die Sitzgruppe und den runden Tisch fließen.

Er schließt die Hose wieder, dreht den Kopf zum Garten und schaut etwas an, taumelt, bevor er zum Haus zurückgeht, bleibt vor den Terrassentüren stehen und schaut in das Wohnzimmer, stützt sich an dem Brett ab und verschwindet aus dem Bild.

»Was schaut er an, als er sich gerade den Hosenstall zugemacht hat? Im Garten ist irgendetwas«, sagt Joona.

»Du willst, dass ich sein Gesicht vergrößere.«

Rex geht rückwärts zurück zum Becken, umkreist die Möbel und wendet den Rücken der Kamera zu.

Der Verlauf kehrt in die richtige Richtung zurück, und Johan vergrößert Rex’ Gesicht und folgt ihm, während er auf den Tisch uriniert. Er drückt das Kinn gegen die Brust, schließt die Augen und pustet, bevor er den Hosenstall öffnet.

Rex wendet sich wieder dem Garten zu, sieht etwas und lächelt schlapp, bevor das Gesicht aus dem Bild verschwindet, weil er ins Torkeln gerät.

»Nein, das ist es nicht … lass es weiterlaufen«, sagt Joona.

Rex dreht sich zum Haus um und geht zurück. Johan Jönson vergrößert das Bild noch stärker. Das betrunkene Gesicht füllt den ganzen Bildschirm mit vollkommener Schärfe: die rot unterlaufenen Augen, die Unterlippe, die rot vom Wein ist, und der beginnende Bartschatten.

Sie sehen, wie er vor den Terrassentüren stehen bleibt und in das Wohnzimmer schaut. Er öffnet den Mund ein Stückchen, wie zu einem unsicheren Lächeln, als hätte er verstanden, dass man ihn ertappt hat, bevor die Augen ernst werden, ängstlich, und er sich abwendet und verschwindet.

»Hier! In diesem Moment sieht er ihn«, sagt Joona mit erregter Stimme. »Spiel es noch einmal ab, wir müssen es ein weiteres Mal anschauen.«

Johan Jönson erzeugt eine Schleife aus den zwanzig Sekunden vor der Glasscheibe, als Rex etwas sieht und lächelt, bevor er Angst bekommt.

»Was siehst du?«, flüstert Joona.

Sie zoomen heraus und versuchen, der Richtung des Blicks zu folgen. Er scheint direkt in das Wohnzimmer zu gehen.

Ohne die Schleife zu unterbrechen, wechseln sie zu Kamera sechs und sehen Rex schräg von hinten. Sein Gesicht wird vom Glas reflektiert, als würde er sein eigenes Spiegelbild anschauen.

»Ist er dort drinnen?«, flüstert Joona.

Der Wechsel in Rex’ Mienenspiel von Verwunderung zu Angst ist sogar in seinem Spiegelbild wahrnehmbar. Hinter dem Glas erahnt man die Möbel im Wohnzimmer als schwache Schatten.

»Steht dort jemand?«, fragt Johan Jönson und beugt sich vor.

»Probier die Kamera fünf.«

Die fünfte Kamera steht vor dem großen Speisesaal in dem Teil der Villa, der in einem rechten Winkel zum Rest des Gebäudes steht. Aus dieser Richtung filmt sie das Wohnzimmer von außen bis zu der Ecke, an der die sechste Kamera installiert ist, sowie die ganze Fensterfront und Teile des Innenraums.

Johan zoomt durch das Glas.

Der zwanzig Sekunden lange Filmausschnitt wiederholt sich immer wieder in der Schleife, aber in dem dunklen Speisesaal ist alles absolut still: der Kronleuchter über dem Tisch, die Spiegelungen auf der Tischplatte, die Stühle, die fein säuberlich untergeschoben sind, ein Paar schwarze Herrenstrümpfe auf dem Fußboden.

»Dort ist niemand – was starrt er denn an?«

»Vergrößere das Bild unter dem Sofa«, sagt Joona.

Johan Jönson zoomt heraus, richtet das Bild auf den Fuß der Stehlampe und folgt dem Stromkabel unter das Sofa.

Dort liegt etwas. Johan Jönson schluckt und macht das Bild heller, wobei es an Kontrast verliert. Die milchige Dunkelheit ist beinahe genauso undurchdringlich wie die Schwärze. Ein blasses Staubknäuel zittert im Luftzug. Das Bild wandert langsam nach rechts und erfasst eine Ansammlung blasser Fransen neben dem Sofabein.

»Das ist nur ein zusammengerollter Teppich«, sagt Joona.

»Ich hätte beinahe Angst bekommen«, bemerkt Johan Jönson mit einem Lächeln.

»Jetzt bleibt nur noch eine Möglichkeit«, sagt Joona. »Wenn der Täter sich nicht in dem Zimmer aufhält, dann sieht Rex sein Spiegelbild im Fenster.«

»Obwohl er sternhagelvoll ist. Vielleicht war da auch gar nichts«, schlägt Johan Jönson vor.

»Geh zurück zu Kamera sechs.«

Auf dem Bildschirm erkennt man Rex erneut von schräg hinten vor der Fensterpartie zum Wohnzimmer. Immer wieder wechselt das Spiegelbild seines Gesichts von Verwunderung zu Angst.

»Was erschreckt ihn?«

»Er sieht doch nur sich selbst.«

»Nein, das ist der Venuseffekt«, antwortet Joona und beugt sich näher an den Bildschirm heran.

»Was?«

»Wenn er von der Seite gefilmt wird und wir sein Gesicht direkt von vorne sehen, dann sieht er nicht sich selbst.«

»Denn er schaut direkt auf die Kamera«, sagt Johan und zupft erneut an seinem Bart.

»Also befindet sich das, worauf er reagiert, irgendwo unter Kamera Sechs.«

Der Techniker wechselt die Kamera und schwenkt von den großen Fenstern des Wohnzimmers bis zum Rand der Aufnahme, wo Kamera sechs an der äußersten Ecke vor einem Gebüsch aus schwarzen Laubbäumen hängt.

»Noch näher, unter der Trauerweide«, sagt Joona.

Die langen Ranken hängen bis zum Gras hinunter und schaukeln im schwachen Wind wie ein silberschwarzer Vorhang.

Joona läuft es kalt den Rücken herunter, als er einen ersten Blick auf den Mörder wirft.

Schatten des Laubwerks wandern über ein maskiertes Gesicht, und dann ist es wieder verschwunden.

Hasenjagd
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