110

ALS REX AUFWACHT, beginnt sein Herz vor Angst zu rasen. Er liegt mit dem Bauch auf dem Boden, und seine Arme sind hinter dem Rücken zusammengebunden. Das Gesicht ist geschwollen und schmerzt nach den vielen Schlägen mit dem Gewehrkolben.

Mitten auf dem Boden liegt seine ausgeleerte Tasche, sie haben den Inhalt mit den Füßen auf dem Boden verteilt.

Er hört Stimmen und rollt vorsichtig auf die Seite. Unauffällig versucht er seine Hände zu befreien und bemerkt, dass er kein Gefühl in den Fingern hat.

Durch halb geschlossene Augen sieht er, dass Sammy mit dem Rücken an der Wand sitzt und die Arme um seine Knie geschlungen hat. Rex dreht sich vorsichtig, begegnet dem Blick seines Sohns und sieht ihn unmerklich den Kopf schütteln.

Rex schließt sofort die Augen, tut so, als wäre er bewusstlos und hört seinen Sohn jetzt mit gedämpfter Stimme reden.

»Ich habe nichts damit zu tun … ich nehme an, das ist dir auch klar, ich wäre gar nicht hier, wenn mein Vater nicht versuchen würde, mich daran zu hindern, meinen Freund zu treffen.«

»Du bist schwul?«, fragt James neugierig.

»Aber bitte nicht Papa sagen«, scherzt Sammy.

»Was gefällt dir denn an Jungs?«

»Ich treffe mich auch mit Mädchen, aber der Sex ist mit Jungen besser.«

»Zu meiner Zeit«, sagt James. »Ich hätte so etwas niemals sagen dürfen … es hat sich viel verändert … auf eine positive Weise.«

Mit eiskalten Fingern versucht Rex, die fest zusammengeknoteten Stoffstreifen zu lockern.

»Ich werde mich jedenfalls nicht dafür schämen, wer ich bin«, antwortet Sammy.

»Triffst du auch ältere Männer?«, fragt James mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.

»Ich interessiere mich für Individuen, für Situationen, ich habe keine festgelegten Regeln«, sagt Sammy ruhig.

Rex liegt still und hört, wie James über den Boden geht. Er öffnet vorsichtig die Augen und sieht, dass James sich vor Sammy aufgestellt hat. Er hält das Gewehr lässig in der Hand, lässt den Lauf von der rechten Hüfte am Bein herunterhängen. Auf dem Couchtisch steht die schlanke Glasflasche mit Wasser direkt neben der Weinflasche, die das Hotel den Gästen zu einem absurden Preis anbietet.

Als James sich umdreht, schließt Rex schnell die Augen und versucht, den Körper zu entspannen. Er liegt regungslos da und hört, wie James auf ihn zukommt und vor ihm stehen bleibt. Der Geruch nach Metall lässt ihn erahnen, dass der Gewehrlauf auf sein Gesicht gerichtet wird.

»Die meisten, die ich kenne, bezeichnen sich als pansexuell«, fährt Sammy fort.

»Was bedeutet das?«

»Dass man die Persönlichkeit für entscheidend hält, nicht das Geschlecht.«

»Das klingt ganz vernünftig«, sagt James und kehrt zu seinem Sohn zurück. »Tut mir leid, dass Lawrence dich mit dem Messer verletzt hat. Tut es weh?«

»Ein bisschen …«

»Du wirst eine Narbe in deinem hübschen Gesicht behalten«, sagt er mit einer unerwarteten Intimität in der Stimme.

»Scheiße«, seufzt Sammy.

»Eigentlich solltest du die Wundränder zusammenkleben«, fährt James fort.

»In Papas Kulturbeutel sind vielleicht Pflaster«, fällt Sammy ein.

Es wird still im Raum, und Rex lässt die Augen geschlossen. Er ist sich beinahe sicher, dass James ihn beobachtet.

»Vielleicht liegt er dort beim Sessel«, sagt Sammy.

Rex ahnt, wie James einen Schritt macht und den Kulturbeutel zu Sammy hinüberkickt.

»Danke.«

Rex hört, wie Sammy den Reißverschluss des Kulturbeutels aufzieht, das Geräusch kleiner Gegenstände, die auf den Boden fallen, und das Knistern, als er die Pflaster findet.

»Du solltest die Wunde vorher auswaschen«, merkt James an.

Als er hört, wie James die Wasserflasche vom Couchtisch nimmt und den Deckel abdreht, winkelt Rex die Arme an und zieht so fest er kann, bis sich eine Hand aus den verknoteten Stoffstreifen löst. Es kribbelt und sticht in den kalten Fingerspitzen, als das Blut langsam zurückkehrt.

»Sitz still«, murmelt James. »Heb das Gesicht ein bisschen an …«

»Au«, flüstert Sammy.

Rex öffnet die Augen und sieht, dass James das Gewehr auf den Boden gelegt hat und sich mit der Wasserflasche und einem Stapel Papierservietten über Sammy beugt.

Er steht vorsichtig auf. Die Beine sind taub und fühlen sich wie schwere Stöcke an. Einer der Stoffstreifen hängt mit ein paar Fäden noch am Knopf an der Hemdmanschette fest, aber er löst sich und fällt mit einem leisen Geräusch auf den Boden.

Rex hält inne und wartet.

James hat nichts gehört, er setzt den Hals der Wasserflasche auf die Papierservietten und tupft weiter Sammys Wange ab.

Rex geht langsam zum Couchtisch und hebt die Weinflasche hoch in die Luft, um das Geräusch zu unterdrücken.

»Ein bisschen mehr Wasser«, sagt Sammy. »Au … au, das …«

»Ich bin gleich fertig«, sagt James mit einem seltsamen Eifer in der Stimme.

Rex nähert sich James von hinten, tritt unglücklicherweise aber auf ein Hemd aus seiner Tasche. Es steckt noch in der Plastikverpackung und knistert unter seinem Fuß.

Er stürmt mit langen Schritten los, hebt die Flasche, sieht, wie James den Stapel Servietten fallen lässt und sich in dem Moment zu ihm umdreht, in dem er zuschlägt. James hebt den Arm in einer Abwehrbewegung, aber die Flasche trifft ihn schräg an der Wange und an der Schläfe und so hart, dass sie zerbricht. Grüne Scherben und dunkelroter Wein spritzen über James und auf die Wand hinter ihm.

James stöhnt tief und fällt auf die Seite, stützt sich mit der Hand ab und versucht die Augen zu öffnen. Sammy bewegt sich zur Seite, und Rex hebt schnell das Gewehr auf und weicht ein Stück zurück. James setzt sich mit dem Rücken an die Wand, tastet sich die Schläfe ab und wirft Rex einen trüben Blick zu, als dieser einen Schritt auf ihn zu macht und den Kolben auf James’ Nasenrücken rammt, sodass sein Hinterkopf gegen die Wand schlägt.

»Komm«, sagt Rex zu Sammy. »Wir müssen von hier verschwinden.«

Sie verlassen den Raum, schließen die Tür und eilen gemeinsam durch den kühlen Korridor zur Rezeption.

»Gut gemacht, Papa«, sagt Sammy mit einem Lächeln.

»Es war ganz allein dein Verdienst«, entgegnet Rex.

Von irgendwo hört man etwas laut rumsen, und Rex dreht sich um, aber in dem dunklen Korridor rührt sich nichts, und die Tür zu seiner Suite ist verschlossen.

Der Gewehrlauf schrammt an der Wand entlang, und Rex hebt ihn ein Stück an. Im selben Augenblick überfällt ihn ein so heftiger Kopfschmerz, dass er stehen bleiben muss.

»Was ist los?«, flüstert Sammy.

»Nichts, gib mir nur eine Sekunde«, antwortet Rex.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir verschwinden einfach von hier … Lass mich dich anschauen«, sagt er und führt seinen Sohn in das Licht einer Wandleuchte. »Das wird vielleicht eine kleine Narbe …«

»In meinem hübschen Gesicht«, scherzt Sammy.

»Ja.«

»Du solltest dich selbst mal sehen, Papa.«

Rex schaut noch einmal hinter sich in den Korridor, und sieht, dass eine der Türen, an denen sie vorbeigekommen sind, einen Spalt offen steht.

Hasenjagd
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