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VALERIA NIMMT DIE Sackkarre und geht wieder zum Gewächshaus. Sie laden die restlichen Walnussbäume unter Schweigen auf. Das Vergangene bewegt sich unruhig in ihnen beiden, Erinnerungsbilder schwirren in ihrem Meer herum und ziehen noch mehr Erinnerungen in ihren Wirbel mit hinunter.
Als Joona elf war, wurde sein Vater Yrjö, ein Polizist, im Dienst getötet, von einem Mann mit einem Schrotgewehr bei einem häuslichen Streit in Upplands Väsby. Seine Mutter Ritva war Hausfrau und hatte kein Einkommen. Das Geld ging aus, und sie und Joona waren gezwungen, aus dem Haus in Märsta auszuziehen.
Joona lernte schnell, Nein zu sagen, wenn seine Freunde ihn fragten, ob er mit ins Kino kommen wollte, er lernte zu sagen, dass er nicht hungrig war, wenn man im Café saß.
Jetzt hebt er den letzten Baum auf den Anhänger, drückt einen Zweig hinein und schließt vorsichtig die Gittertür.
»Du hast gerade von deiner Mutter erzählt«, sagt Valeria.
»Ich weiß, dass sie wusste, dass ich mich dafür schämte, wie wir lebten«, sagt Joona und reibt sich die Hände ab. »Es muss schwer für sie gewesen sein, denn es ging uns eigentlich gut, sie nahm alle Jobs an, die sie als Treppenhausreinigerin bekommen konnte, und lieh Bücher in der Bibliothek aus, über die wir uns später am Abend unterhielten, wenn wir sie gelesen hatten.«
Nachdem er die Sackkarre in den Schuppen gerollt hat, gehen sie zu ihrem kleinen Haus hinauf. Valeria öffnet eine Kellertür, die zu einer Waschküche führt.
»Hier kannst du die Hände waschen«, sagt sie und dreht den Hahn über einem großen Becken aus Stahl auf.
Er stellt sich neben sie und hält seine dreckigen Hände in den lauen Wasserstrahl. Sie schäumt eine Seife auf, die schwarz vom Schmutz wird, und wäscht seine Hände.
Das Einzige, was man hört, ist das Wasser, das glitzernd in das schiefe, geriffelte Becken läuft.
Das Lächeln verschwindet von ihrem Gesicht, während sie abspülen, die Seife erneut aufschäumen und sich gegenseitig die Hände waschen.
Sie bleiben unter dem lauen Wasserstrahl, werden sich der Berührung plötzlich bewusst. Sie drückt sanft zwei seiner Finger mit ihrer Hand und begegnet seinem Blick mit ernsten Augen.
Er ist viel größer als sie, und obwohl er sich hinunterbeugt, um sie zu küssen, muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen.
Sie haben sich seit der Zeit im Gymnasium nicht mehr geküsst, und schauen einander schüchtern an. Sie nimmt ein sauberes Handtuch aus dem Regal und trocknet seine Hände und Unterarme ab.
»Dass du bei mir bist, Joona Linna«, sagt sie zärtlich und streichelt ihm die Wange, folgt seinem Jochbein bis zum Ohr, bis zu dem blonden, struppigen Haar.
Sie zieht den Pulli aus und wäscht sich unter den Armen, ohne den weißen BH mit den verfärbten Trägern auszuziehen. Ihre Haut hat eine gleichmäßige Farbe wie Olivenöl in einer Schale aus Porzellan. Beide Schultern sind tätowiert und die Arme unerwartet muskulös.
»Hör auf zu gucken«, sagt sie und lächelt.
»Das ist ziemlich schwierig«, sagt er und wendet sich ab.
Valeria zieht schwarze Trainingshosen mit weißen Streifen an und ein gelbes Unterhemd.
»Sollen wir nach oben gehen?«
Ihr Haus ist klein und einfach eingerichtet. Decken, Boden und Wände sind ganz in Weiß gestrichen. Joona stößt sich den Kopf an der Lampe, als er in die Küche kommt.
»Pass auf deinen Kopf auf«, sagt Valeria und stellt die Blumen in ein Glas mit Wasser.
Es stehen keine Stühle am Küchentisch, und auf der Arbeitsplatte stehen drei Bleche mit Brot unter Handtüchern.
Valeria legt ein bisschen mehr Holz in den alten Herd, bläst die Glut an und holt einen Topf heraus.
»Bist du hungrig?«, fragt sie und holt Brot und Käse aus dem Schrank.
»Ich bin immer hungrig«, antwortet Joona.
»Gut.«
»Gibt es Stühle?«
»Nur einen Stuhl … damit du gezwungen bist, auf meinem Schoß zu sitzen … Nein, ich trage die Stühle normalerweise raus, um mehr Platz zu haben, wenn ich backe«, sagt sie und zeigt auf das Wohnzimmer.
Er geht in den Nachbarraum, in dem ein Fernseher, ein Sofa und ein alter, handbemalter Schrank stehen. An der einen Wand sind sechs Stühle aufgereiht, er nimmt zwei von ihnen und kehrt in die Küche zurück, stößt sich den Kopf wieder an der Lampe, stoppt sie mit der Hand und setzt sich.
Das Licht zittert noch eine Weile, gleitet über die Wände.
»Valeria … eigentlich bin ich nicht auf Freigang«, erklärt Joona.
»Du bist doch nicht ausgebrochen?«, fragt sie mit einem Lächeln.
»Dieses Mal nicht«, antwortet er.
Ihre hellbraunen Augen weichen ihm aus, und sie wird beinahe grau im Gesicht, als befände sie sich hinter einer Wand aus Eis.
»Ich wusste, dass es passieren würde, ich wusste, dass du wieder Polizist wirst«, sagt sie und muss schlucken.
»Ich bin kein Polizist, aber ich war gezwungen, einen letzten Einsatz zu leisten, es gab keine andere Möglichkeit.«
Vorsichtig stützt sie sich mit einer Hand an der Wand ab. Sie weicht seinem Blick aus. Die Adern an ihrem Hals pochen hart, und die Lippen sind blass geworden.
»Hast du überhaupt richtig im Gefängnis gesessen?«
»Ich habe den Auftrag vorgestern angenommen«, antwortet er.
»Ich verstehe.«
»Ich werde nicht mehr als Polizist arbeiten.«
»Nein«, sagt sie lächelnd. »Zumindest glaubst du das, aber ich wusste im Grunde, dass du zurückwolltest.«
»Das ist nicht wahr«, sagt er, obwohl er in diesem Augenblick erkennt, dass sie recht hat.
»Ich war niemals so verliebt wie in dich«, sagt sie langsam und schaltet den Herd ab. »Ich weiß, dass mir das Meiste in meinem Leben missglückt ist, und ich weiß, dass man mit dieser Gartenarbeit nicht angeben kann … Aber als ich herausfand, dass du in Kumla sitzt … Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl, dass ich mich vor dir nicht länger schämen musste, dass du es verstehen würdest. Aber jetzt … Du willst hier gar nicht arbeiten, warum solltest du das auch wollen? Du wirst immer ein Polizist sein, denn das bist du, das weiß ich.«
»Ich würde mich hier wohlfühlen«, sagt Joona.
»Es wird nicht funktionieren«, antwortet sie mit trüber Stimme.
»Doch.«
»Lass gut sein, Joona, es ist, wie es ist«, sagt sie und schaut ihn mit leeren Augen an.
»Ich bin Polizist, das ist ein Teil von mir, mein Vater starb in der Uniform … er hätte es nicht gemocht, mich im Anzug zu sehen, aber besser das als in Häftlingskleidung.«
Sie steht mit gesenkten Augen und vor der Brust verschränkten Armen da.
»Ich überreagiere vielleicht, aber ich möchte, dass du gehst«, sagt sie leise.
Joona nickt langsam, streicht mit der Hand über die Tischplatte und steht schließlich auf.
»Wir machen es so«, sagt er und versucht, ihren Blick zu fangen. »Ich gehe in ein kleines Hotel in Vasastan, Hotel Hansson heißt es. Morgen muss ich mich wieder in Kumla einfinden, aber bis dahin hoffe ich auf einen Besuch, ganz egal, ob ich Polizist bin oder nicht.«
Als er die Küche verlässt, wendet sie das Gesicht schnell ab, damit er nicht sieht, dass sie weinen muss. Sie hört seine schweren Schritte in der Diele, hört, wie die Tür geöffnet und geschlossen wird.
Valeria geht zum Fenster, sieht, wie er sich in das Auto setzt und wegfährt. Als er verschwindet, sinkt sie zu Boden, lehnt sich an die Heizung und lässt das Weinen zu, das alte Weinen, das in ihr wartet seit dem Augenblick, an dem sich ihre Wege trennten und ein Abgrund sich zwischen ihnen öffnete.