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SIEBEN MINUTEN SPÄTER wimmelt es im Garten von Mitgliedern der Spezialeinheit des Staatsschutzes, die intern Electrolux genannt wird, nach einem Scherz, an den sich niemand mehr erinnert.
In den vergangenen zwei Jahren hat der Staatsschutz die Sicherheit für die zentrale Staatsführung ziemlich drastisch erhöht, mit Personenschutz und modernen Überfallalarmsystemen, auf unterschiedlichen Niveaus. Die Frau hat jedoch beide Knöpfe des Alarms mehr als drei Sekunden lang gleichzeitig gedrückt, sodass Alarmstufe Platin aktiviert wurde.
Der Tatort ist abgesperrt, drei Zonen um den Großraum Stockholm herum sind streng bewacht, und Straßensperren sind errichtet worden.
Janus Mickelsen kommt herein und gibt Saga die Hand. Er übernimmt die Leitung der Operation im Haus selbst, und sie informiert ihn kurz über die Lage.
Janus strahlt mit seinen rotblonden Locken und dem hellroten Dreitagebart eine Art abgelebten Hippiecharme aus. Saga findet, dass er nach Peace and Love aussieht, weiß aber, dass er Berufssoldat war, bevor er beim Staatsschutz landete. Er hat an der Operation Atalanta teilgenommen und war in den Fahrwassern vor Somalia stationiert.
Janus platziert einen Agenten an der Tür, auch wenn nicht die übliche Liste über all diejenigen angelegt wird, die den Tatort betreten haben. Dieses Mal wird es keine Dokumentation darüber geben, wer sich nach dem Mord im Haus aufgehalten hat. Bei Alarmstufe Platin darf niemand im Nachhinein Angaben darüber finden, wer informiert wurde oder Kenntnis von den Ereignissen hatte und wer nicht.
Zwei Staatsschutzbeamte gehen direkt auf die junge Frau zu, die mit gefesselten Armen und Beinen auf der Seite liegt. Ihre Augen sind rotgeweint, Wimperntusche ist die Schläfe heruntergelaufen.
Einer der beiden Männer kniet sich neben sie und holt eine Spritze mit Ketamin heraus. Sie bekommt solche Angst, dass ihr Körper zu zittern beginnt, aber der andere hält sie fest, während sie die Injektion in den Hals bekommt, direkt in die obere Hohlvene.
Die Wangen der Frau laufen rot an, sie biegt den Nacken zurück, spannt den Körper, bevor sie sich schließlich entspannt.
Saga sieht, wie sie die Kabelbinder abknipsen, eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase stülpen, die betäubte Frau in einen Leichensack stecken und den Reißverschluss zuziehen. Sie tragen den leblosen Körper zu einem wartenden Lieferwagen, um sie zum »Zuchthaus« zu fahren.
Die vier anderen Teammitglieder führen bereits eine beschleunigte Tatortuntersuchung mit exakter Dokumentation durch. Effektiv nehmen sie Schuh- und Fingerabdrücke, erfassen Blutspritzmuster, Einschusslöcher und Schusswinkel, sammeln biologische Spuren, Textilfasern, Haare, Körperflüssigkeiten, Knochenteile, Amygdala, Glasscherben, Splitter und Holzspäne ein.
»Frau und Kinder des Ministers sind bereits auf dem Weg nach Hause«, sagt Janus. »Das Flugzeug landet um 8.15 Uhr in Arlanda, bis dahin muss es hier sauber sein.«
Die Gruppe muss sämtliche Informationen in einem Durchgang sichern, weil es keine weitere Gelegenheit mehr geben wird.
Saga geht die knarrende Treppe hinauf und weiter in das Schlafzimmer des Außenministers. In dem Zimmer riecht es nach Urin und Schweiß. Lederriemen hängen an den vier Bettpfosten. Blut ist auf der Bettwäsche verschmiert.
Auf einem Schreibtisch liegt eine Reitpeitsche im schwachen Licht eines Uhrenbewegers. Hinter der Glasscheibe rotiert eine Rolex völlig lautlos neben einer Breguet.
Saga fragt sich, ob die Ehefrau von den Besuchen der Prostituierten wusste.
Wahrscheinlich nicht.
Vielleicht hat sie auch einfach nicht gefragt.
Mit den Jahren merkt man, dass man manche Risse im Selbstbild aushalten und sich an dem festklammern kann, was man trotz allem als sicher erlebt.
Saga selbst war viele Jahre mit dem Jazzpianisten Stefan Johansson zusammen, bevor er sie verließ.
Er ist nach Paris gezogen, spielt in einer Band und hat sich verlobt.
Saga weiß, dass es nicht leicht ist, mit ihr zusammenzuleben, sie hat ein hitziges Temperament und kann in bestimmten Situationen überreagieren.
Sie arbeitet viel, und die einzige sexuelle Beziehung seit ihrer Trennung hatte sie mit Stefan, wenn er auf Tournee in Schweden war. Er ruft sie dann spät am Abend an, und sie lässt ihn bei sich übernachten. Sie weiß, dass er seine Verlobte nicht für sie verlassen wird, schläft aber trotzdem mit ihm.
Saga kehrt ins Erdgeschoss zu der zerschossenen Leiche in der Küche zurück.
Das Scheinwerferlicht glänzt auf den Trittplatten aus geriffeltem Aluminium. Es kommt ihr vor, als würde sie auf einer Brücke aus Silber über einem blutigen Chaos stehen.
Saga betrachtet lange die nach oben gewendeten Handflächen des Toten, die gelbe Schwiele unter dem Ehering, die Schweißflecken auf dem Hemd unter den Achselhöhlen.
Das Team um sie herum arbeitet schnell und schweigend. Sie filmen alles und katalogisieren es in einem dreidimensionalen Koordinatensystem auf einem iPad. Mit maschinenhafter Präzision werden Haare und Textilfasern auf Overheadfolien geklebt, während Gewebe und Schädelfragmente in Rohre gelegt und anschließend gekühlt werden, um das Bakterienwachstum zu verhindern. Es werden keine Proben an das NFC, das Nationale Forensische Zentrum in Linköping geschickt, weil der Staatsschutz für Situationen wie diese sein eigenes Labor unterhält.
Saga geht zur Verandatür und betrachtet die kreisrunden Löcher in der Dreifachverglasung.
Erst als der Stuhl gegen das Fenster geschleudert wurde, reagierten die akustischen Glasbruchdetektoren und die Magnetkontakte und lösten den Alarm aus.
Es kann nicht der Täter gewesen sein, der den Stuhl warf.
Saga denkt an das angstverzerrte Gesicht der Frau, die zerschundenen Handgelenke, den Geruch nach Urin.
Wurde sie hier gefangen gehalten?
Zwei Männer bedecken den Boden mit großen Bögen gekühlter Folie und drücken sie mit breiten Gummirollen fest.
Ein IT-Techniker wickelt die Festplatte der Überwachungskameras vorsichtig in Luftpolsterfolie und steckt das Paket in eine Kühltasche.
Janus ist gestresst, seine Kiefer sind zusammengepresst, die Augenbrauen beinahe weiß und die Stirn in Schweiß getränkt.
»Okay, scheiße … was sagst du?«, fragt er und stellt sich neben Saga.
»Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Die ersten Schüsse in den Körper sind aus größerem Abstand und einem seltsamen Winkel abgefeuert worden.«
Das Blut hat den Außenminister in einem Schwall verlassen, Venenblut ist aus dem Bauch geflossen und hat sich auf dem Fußboden ausgebreitet.
Die Geschwindigkeit einer Pistolenkugel beträgt ungefähr tausend Kilometer pro Stunde, und die Kugel hinterlässt einen Schmauchring um die Eintrittswunde. Zwei zarte Kreise aus Pulverrückständen sind um die Einschusslöcher im Hemd auszumachen.
Erst zwei Distanzschüsse und dann zwei Schüsse aus nächster Nähe.
Saga beugt sich über die Leiche, betrachtet die Eintrittswunden in den Augenhöhlen und sieht, dass es um die Wunden herum keine Krater gibt.
»Er hat einen Schalldämpfer benutzt«, flüstert sie.
Der Täter muss einen Schalldämpfer verwendet haben, der zusätzlich die Flamme reduziert, weil es keine Schmauchhöhlen gibt. Ansonsten wären die austretenden Gase unter die Haut gedrungen und hätten eine trichterförmige Einmündung hinterlassen.
So sieht es normalerweise jedenfalls aus.
Sie steht auf und macht einen Schritt zur Seite, um einem Techniker Platz zu machen, der selbstklebende Folie auf das Gesicht des Toten streicht. Er drückt sie gegen die Einschusslöcher, um die Partikel des Schmauchrings aufzunehmen, und markiert das Zentrum der Eintrittswunde mit einem Faserstift auf der Folie.
»Er wurde nach seinem Tod auf den Bauch gerollt und dann wieder auf den Rücken«, bemerkt Saga.
»Wie kommst du darauf?«, grinst der Techniker. »Warum sollte …«
»Halt die Klappe«, fällt ihm Janus ins Wort.
»Ich will seinen Rücken sehen«, meint Saga.
Alle spüren, wie ihnen die Zeit unter den Händen zerrinnt. In zunehmendem Stress befestigt man Tüten an den Händen des Außenministers und legt einen offenen Leichensack neben ihm ab. Sie heben seinen kräftigen Körper kurz an und legen ihn mit dem Bauch nach unten in den Sack. Saga betrachtet die weiten Austrittswunden im Rücken und die breiige Öffnung im Hinterkopf.
Sie betrachtet die Stelle, an der er lag, sieht die Einschusslöcher der letzten beiden Schüsse im Parkett und versteht, warum der Körper zur Seite gerollt wurde.
»Der Täter hat die Kugeln mitgenommen.«
»Niemand macht das«, murmelt Janus.
»Er hat eine halbautomatische Pistole mit Schalldämpfer benutzt … vier Schüsse sind abgegeben worden, wovon zwei unmittelbar tödlich waren«, sagt sie.
Ein kräftiger Mann geht um die dunklen Salonmöbel herum und sprüht Hungarian Red über die Bezüge, während ein anderer Techniker einen Sessel in die Vertiefungen zurückstellt, die seine Beine auf dem Teppich hinterlassen haben.
»Alle werden jetzt bitte fertig«, ruft Janus und klatscht in die Hände. »Wir reinigen das Haus in zehn Minuten und haben in spätestens einer Stunde die Glaser und Maler hier.«
Der kräftige Mann sammelt die Trittplatten hinter ihnen ein, nachdem sie den Raum verlassen haben. Sobald sie durch die Haustür nach draußen getreten sind, geht ein Team ins Haus und saniert es mit einem knisternden Schaum, der stark nach Chlor riecht.
Der Täter hat nicht nur die Patronenhülsen mitgenommen, sondern auch die Kugeln aus dem Boden und den Wänden gekratzt, während die Alarmanlage heulte und die Polizei ausrückte. Nicht einmal ein Profikiller von internationaler Klasse würde so etwas tun. Es handelt sich um einen perfekt durchgeführten Mord, und trotzdem hat er eine Zeugin zurückgelassen. Er kann nicht übersehen haben, dass sich eine Person am Tatort befand und ihn beobachtet hat.
»Ich fahre zur Zeugin und rede mit ihr.« Saga glaubt, dass die Frau in die Tat verwickelt sein muss.
»Du weißt, dass wir schon unsere Experten bei ihr haben«, sagt Janus.
»Ich muss meine Fragen selber stellen«, antwortet Saga und macht sich auf den Weg zu ihrem Motorrad.