36
SOFIA SITZT STILL, mit gesenktem Blick und zitternden Wimpern. Joona denkt, dass sie sich an alles wie von der Seite erinnert, als würde sie neben sich stehen und sich selbst beobachten.
»Glauben Sie, dass der Täter ein Terrorist war?«, fragt er nach einer Weile.
»Warum fragen Sie mich? Ich weiß es nicht.«
»Aber was glauben Sie?«
»Es kam mir persönlich vor … aber so ist es für Terroristen vielleicht auch?«
Erst wird sie Zeugin der beiden Schüsse aus der Distanz und des Standortwechsels des Täters, bevor sie zu fliehen versucht und im Blut ausrutscht.
»Sie fallen hin und bleiben auf dem Boden liegen«, sagt Joona und zeigt ihr eine Fotografie der blutigen Küche, die aus ihrer Perspektive aufgenommen wurde.
»Ja«, antwortet sie leise und wendet den Blick ab.
»Der Außenminister kniet, blutet aus zwei Schusswunden im Rumpf, der Täter hält ihn an den Haaren fest und drückt die Mündung in sein Auge.«
»Das rechte«, flüstert sie mit verschlossenem Gesichtsausdruck.
»Sie haben von dem Gespräch zwischen den beiden erzählt – aber was ist danach passiert?«
»Ich weiß nicht, nichts, er hat ihn erschossen.«
»Aber nicht sofort, oder?«
»Hat er nicht?«, fragt sie zaghaft.
»Nein«, antwortet Joona und sieht, dass sich die kleinen, hellen Härchen auf ihren Armen aufrichten.
»Ich war mit dem Kopf auf den Boden geschlagen, und alles wurde irgendwie langsam«, sagt sie und steht vom Sofa auf.
»Was passierte?«
»Es sah aus, als würde die Zeit einfach stillstehen und … Nein, ich weiß nicht.«
»Was wollten Sie sagen?«
»Nichts«, antwortet sie.
»Nichts? Wir reden über einen Zeitraum von zehn Minuten«, sagt er.
»Zehn Minuten.«
»Was ist da passiert?«, hakt Joona nach.
»Ich weiß nicht«, sagt sie und kratzt sich am Arm.
»Hat er den Außenminister gefilmt?«
»Nein, das tat er nicht – was reden Sie da überhaupt?«, stöhnt Sofia, geht weg, weiter zur Tür und klopft.
»Hat er mit jemandem gesprochen?«
»Ich kann nicht mehr«, flüstert sie.
»Doch, Sie können noch, Sofia.«
Sie wendet sich ihm wieder zu, ihr Gesichtsausdruck ist verzweifelt.
»Tue ich das?«, fragt sie.
»Hat er mit jemandem gesprochen?«
»Nein.«
»Sah es so aus, als würde er beten?«, fragt Joona.
»Nein«, antwortet sie mit einem Lächeln und wischt sich ein paar Tränen von der Wange.
»Könnte er den Außenminister gezwungen haben, etwas zu sagen?«
»Sie haben beide geschwiegen«, antwortet sie.
»Die ganze Zeit?«
»Ja.«
»Sie haben dagelegen und sie gesehen, Sofia. Hat der Täter wirklich nichts getan?«, fragt Joona. »Ich meine, hatte er vielleicht Angst, zitterte er?«
»Er schien ruhig zu sein«, antwortet sie und wischt sich noch mehr Tränen ab.
»Vielleicht trug er einen inneren Kampf aus … vielleicht wusste er nicht, ob er ihn töten sollte oder nicht?«
»Aber er hat nicht gezögert, das war es nicht … ich glaube einfach, dass er gerne so dastand … Der Minister atmete die ganze Zeit eher schnell, war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren … Aber der Mörder hielt ihn am Haar fest und schaute ihn an.«
»Was brachte ihn dazu, zu schießen?«
»Ich weiß nicht … nach einer Weile ließ er das Haar einfach los, aber hielt weiter die Pistole an das Auge … und plötzlich knallte es, aber nicht von der Pistole, die rasselte nur … es war der Hinterkopf, der knallte – oder? – als der Schädel platzte.«
»Sofia«, sagt Joona ruhig. »Ich werde gleich eine Pistole herausholen. Sie ist nicht geladen und absolut ungefährlich, aber wir müssen sie uns anschauen, um die letzten Einzelheiten herauszubekommen.«
»Okay«, sagt sie, und ihre Lippen werden weiß.
»Haben Sie jetzt keine Angst.«
Vorsichtig löst er seine Sig Sauer vom Holster, zieht sie heraus und legt sie auf den Tisch.
Er merkt, dass es ihr schwerfällt, auf die Pistole zu schauen, und dass die Adern an ihrem Hals anschwellen.
»Ich weiß, dass es anstrengend ist«, sagt Joona leise. »Aber ich möchte, dass wir uns darüber unterhalten, wie er die Waffe hielt, ich weiß, dass Sie sich daran erinnern … denn Sie haben erzählt, dass der Täter die Waffe mit beiden Händen hielt.«
»Ja.«
»Welche war die stützende Hand?«
»Wie, was meinen Sie damit?«
»Die eine Hand ist innen, mit dem Finger am Abzug, die andere stützt ab«, erklärt er.
»Es war … die linke, die abstützte«, antwortet sie und versucht ihn anzulächeln, bevor sie den Blick senkt.
»Er zielte also mit dem rechten Auge?«
»Ja.«
»Und kniff das linke zusammen.«
»Er hat mit beiden geschaut.«
»Verstehe«, sagt Joona und denkt, dass das eine ziemlich ungewöhnliche Technik ist.
Wenn er selbst schießt, hat er beide Augen geöffnet. Das gibt ihm einen besseren Überblick in Kampfsituationen, aber man muss es trainieren, um so effektiv zu handeln.
Er stellt weitere Fragen über die Bewegungsmuster des Täters, geht die Position der Schultern durch, als er aus der Distanz schoss, wie er die Pistole zur anderen Hand bewegte, um die Schusslinie nicht zu verlieren, während er die Hülsen vom Boden aufsammelte.
Sie erzählt noch einmal von der Langsamkeit, dem Schuss ins Auge, wie der Körper schräg nach hinten fiel, das eine Bein ausgestreckt unter dem anderen liegend, wie der Mörder sich über ihn stellte und in das andere Auge schoss.
Joona lässt die Pistole auf dem Tisch liegen, steht auf und holt zwei Gläser aus dem Schrank in der Küchenecke und denkt, dass der Mörder des Außenministers das Magazin nicht unbedingt wechseln musste.
Aber wenn er an seiner Stelle gewesen wäre, hätte er es direkt nach dem vierten Schuss getan, um ein volles Magazin in der Pistole zu haben, wenn er den Ort verlässt, sagt er sich und schenkt Cola ein.
Sie trinken und stellen beide die Gläser vorsichtig auf den Tisch. Joona nimmt die Pistole auf und wartet, während Sofia sich den Mund mit der Hand abwischt.
»Nach dem letzten Schuss … hat er da das Magazin der Pistole ausgetauscht?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie müde.
»Man löst eine Sperre und lässt das Magazin in die Hand fallen, so wie hier«, zeigt Joona. »Und dann drückt man ein neues hinein.«
Sie zuckt bei dem Geräusch zusammen, schluckt trocken und nickt schließlich.
»Ja, das hat er getan«, sagt sie.