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DIE GEFESSELTE FRAU blickt Joona mit aufgerissenen Augen an. Sie ist schwarz unter der Nase von getrocknetem Blut, und grobes Textilklebeband ist um ihre Arme und Füße gewickelt worden.

»Caroline?«, wiederholt Joona. »Haben Sie keine Angst, ich bin Polizist und hier, um Ihnen zu helfen.«

Hinter ihr steht der Esstisch mit geöffneten Konservendosen, in denen Löffel stecken, Knäckebrot und einem großen Wasserkanister aus Plastik.

»Was zum Teufel ist das hier?«, flüstert Jack.

Das Bootshaus ist nicht winterfest, und es zieht kalt durch die Ritzen im Boden. Das düstere Licht, das durch ein Fenster mit schmutziger Spitzengardine hereinfällt, glänzt in einer Kette mit Haken, die von der Decke hängt. Messinglampen, Seile und Klötze aus altem Holz hängen an einem Balken. Eine Seemannskiste steht an einer Wand, und ganz hinten kann man die lackierten Türen des alten Schranks für Fischernetze erahnen.

Die junge Frau schüttelt aufgeregt den Kopf, und Tränen beginnen ihre Wangen hinunterzulaufen.

»Haben Sie keine Angst«, wiederholt Joona. »Ich bin Polizist.«

Er steckt die Pistole wieder zurück und geht langsam weiter über den knarrenden Boden. Der Wind drückt gegen das Einfachfenster. Joona dreht sich um und sieht durch die Öffnung in die Küche, bleibt mit den Augen an den regungslosen Schatten hängen, bevor er sich der Frau weiter nähert.

Vorsichtig zieht er das Klebeband von ihrem Gesicht. Sie hustet und befeuchtet sich mehrere Male die Lippen, bevor sie den Kopf hebt und ihm in die Augen schaut.

»Ich werde Sie töten«, sagt sie leise.

Unter ihnen gluckert das Meer, und die Stuhlbeine beginnen wieder gegen den Boden zu stoßen, als sie ihren Körper hin und her dreht, um loszukommen.

»Oscar meint, dass Sie mich vergewaltigen werden, aber ich bin da anderer Meinung.«

»Niemand wird Sie vergewaltigen – wir sind Polizisten.«

»Sie sehen aber nicht aus wie Polizisten.«

»Wo ist Oscar?«

»Ich habe nichts damit zu tun«, flüstert sie mit verzweifeltem Blick. »Ich kenne Oscar nicht einmal, ich will nur nach Hause. Ist mir egal, was Sie mit ihm machen, er ist paranoid geworden, man kommt nicht mehr zu ihm durch.«

Der Boden knackt seltsam unter ihnen, und der Löffel in einer der Konservendosen mit Ravioli klimpert durch die Vibrationen.

»Sagen Sie mir einfach, wo er ist«, wiederholt Joona leise.

»Im Netzschrank«, antwortet sie mit einem Nicken über ihre Schulter.

Es tickt seltsam, und Joona sieht, dass ein kleines, weißes Licht in dem maßgefertigten Schrank blinkt, wie bei einem Telefon, nur schneller.

»Ist er bewaffnet?«, fragt er.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht«, antwortet sie.

Jack bewegt sich auf die geschlossenen Schranktüren zu, stellt einen umgefallenen Stuhl wieder hin und schiebt ihn unter den Tisch.

Es knarrt im ganzen Raum wie von gespannten Seilen.

Joona hält die Pistole auf den Schrank gerichtet, wirft einen kurzen Blick zurück zur Küche und zieht sich ein paar Schritte zu den Falttüren zurück, um das gesamte, dunkle Bootshaus überblicken zu können.

Es knackt im Boden.

Er zielt direkt auf die Türen des Netzschranks, sieht kurz zu der gefesselten Frau hinüber, zu den leeren Taljenblöcken unter der Decke und zu Jack, der am Esstisch entlanggeht.

Ein rutschendes Geräusch ist unter dem Bootshaus zu hören, wie trockenes Holz, das über anderes Holz gezogen wird. Eine Locke blonden Haars wird von einem Luftzug vom Boden gehoben.

Jack macht einen Schritt nach vorn und hält die herunterhängende Kette mit dem Haken hoch, um darunter hindurchgehen zu können.

»Ich komme jetzt«, sagt er zu dem Schrank. »Und ich bitte Sie …«

Es scheppert und zwei große Bodenklappen öffnen sich unter Jack. Sie fallen direkt nach unten, knallen schwer gegen die Wand darunter und prallen ein bisschen ab.

Er rauscht abwärts durch das Loch im Boden, hält aber immer noch die Kette fest, die klappernd durch einen Block läuft.

Der Haken saust nach oben und bleibt in der Talje hängen, sodass es im Dachgebälk knackt.

Jacks Fall wird plötzlich gebremst, und er schreit auf, als ihm die Schulter ausgekugelt wird.

Tisch und Stühle fallen unter ihm ins Wasser.

Das schwarze Wasser füllt sich mit Möbeln.

Jack schaukelt gegen die Kante, und es gelingt ihm, sich daran festzuhalten.

Die Tür zum Angelschrank öffnet sich, und Joona sieht, wie Oscar mit einer Brandbombe in der Hand herausstürmt: eine Flasche mit Benzin und einem brennenden Stück Stoff.

Oscar wirft die Flasche auf Joona, trifft stattdessen einen der alten Taljenblöcke, die von der Decke hängen. Es klirrt, und Glas und brennendes Benzin fallen auf die Frau, die am Stuhl festgebunden ist.

Sie fängt unmittelbar Feuer, und Joona läuft zu ihr, tritt sie in den Brustkorb, damit sie mit großem Schwung nach hinten kippt, mit der Stuhllehne gegen die Kante der großen Öffnung schlägt und ins Wasser fällt.

Oscar schreit irgendetwas und versucht, eine neue Brandbombe zu entzünden, das Feuerzeug knistert, aber erzeugt keine Flamme.

Joona zählt die Sekunden, während er auf der schmalen Kante, an der die Scharniere der linken Bodenklappe befestigt sind, nach vorne läuft.

Die Frau sinkt mit wogendem Haar in das schwarze Wasser hinab.

Joonas Jacke bleibt an einem Fensterhaken hängen, er reißt sich los, droht fast das Gleichgewicht zu verlieren und hinunterzufallen, streckt den Arm aus und zieht die Gardine mit sich.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, schreit Oscar.

Das Feuerzeug knistert erneut, als Joona die andere Seite erreicht und auf ihn zuläuft. Er dreht den Rumpf und schlägt mit dem Unterarm von der Seite so kräftig gegen seinen Hals, dass der Kopf herumgeschleudert wird und die Brille davonfliegt.

Sie knallen beide gegen die Wand, und Joona zieht ein Knie zu seinen Rippen hoch, dreht den Körper in die entgegengesetzte Richtung und wirft Oscar über die Hüfte.

Oscar fällt stöhnend zu Boden, öffnet die Augen und blinzelt verwirrt zur Decke.

Die Flasche rollt über die Kante und fällt ins Wasser.

Joona weiß, dass die Sekunden bald gezählt sind, als er den Mann vom Schrank wegschleppt.

»Nein, nein, nein«, jammert Oscar und versucht sich am Boden festzukrallen.

Eine Lampe fällt um, und der Glasschirm zersplittert. Joona zerrt ihn hinter sich her, lässt die eine Klaue der Handschelle schnell um sein Handgelenk schnappen und befestigt die andere an einem Poller in der Wand.

»Lassen Sie mich leben«, keucht Oscar. »Bitte, hören Sie, ich kann bezahlen …«

Ohne zurückzuschauen, läuft Joona zur Kante und springt. Er durchbricht die Wasseroberfläche und stürzt in das kalte Wasser. Es dröhnt in den Ohren, und Blasen umgeben ihn wie der Staub einen Kometen.

Die Füße stoßen gegen einen der Stühle und bremsen ihn.

Joona dreht sich im Wasser um, tritt mit den Beinen und schwimmt in die Dunkelheit hinab.

Er sieht nichts, muss sich aber an dem herumtreibenden Gerümpel vorbeikämpfen.

Mit einem Arm versucht er den schweren Esstisch zur Seite zu schieben, rutscht an der Platte entlang und erreicht den Boden.

Die schweren Kleider bremsen seine Bewegungen, als er entlang der unregelmäßigen Felsformationen nach der Frau sucht. Er taucht noch tiefer, tastet sich über die verrottenden Reste eines alten Kahns, zwischen den Spanten und an einem schleimigen Ruder entlang nach unten.

Joona blinzelt in dem schwarzen Wasser und spürt die Kälte in den Augen.

Er schwimmt nach unten.

Die Hände gleiten über Kolonien von Schnecken an einem der Pfähle des Bootshauses, als ein schaukelndes Licht in das Wasser hinunterdringt.

Jack hält eine brennende Lampe über die Oberfläche.

Durch den herumwirbelnden Schmutz und die Blasen kann Joona die Frau erahnen. Sie ist die abfallende Klippe in tieferes Wasser hinuntergerutscht und liegt auf der Seite, festgezurrt am Stuhl.

Er stößt sich ab und schwimmt zu ihr hinunter.

Sie starrt in seine Augen, presst ihre weißen Lippen zusammen und hält immer noch die Luft an.

Er zieht an dem Stuhl, versucht sich mit dem einen Fuß am Fels abzudrücken, um mehr Kraft umsetzen zu können, aber die Frau hängt an anderen Stühlen fest, die sich um den äußersten Pfahl verkantet haben.

Schnell zieht er sein Messer, schneidet das Klebeband an ihren Beinen durch und zieht es ab. Sie bekommt Panik und beginnt zu strampeln und kann nicht länger gegen den Instinkt zu atmen ankämpfen.

Der Schmerz stellt sich sofort ein, als sie das Wasser in die Lungen saugt. Der Körper wirft sich nach hinten wie nach einem kräftigen Schlag, sie versucht alles auszuhusten, bekommt dadurch aber nur noch mehr Wasser in die Lungen und beginnt sich in Krämpfen zu winden.

Joona schneidet die Klebebänder um die Hände und den Leib durch, arbeitet hastig mit dem Messer, sie zuckt in Krämpfen, und Blut schwemmt aus dem Mund und der Nase. Joona lässt das Messer fallen, reißt ihren zitternden Körper vom Stuhl los, stößt sich mit den Beinen ab und schwimmt nach oben.

Er drückt Stühle weg, die sich in der Strömung drehen, macht einen letzten Beinschlag und bekommt ihr Gesicht über die Wasseroberfläche.

Sie hustet und erbricht Wasser, bekommt Luft in die Lungen und hustet erneut.

Jack steht mit einer brennenden Öllampe an einem Bootshaken über der Öffnung im Boden, und die vier Wände des Schachts leuchten warm.

»Rettungshubschrauber ist auf dem Weg«, ruft er.

Joona schlingt einen Arm um den Körper der Frau, klettert die Leiter hinauf und hebt sie über die Kante, sie krabbelt auf die Knie und hustet, atmet keuchend, weint und hustet noch einmal und spuckt Blut, als sich der Hubschrauber mit schmetternden Rotorblättern ankündigt.

»Nehmt sie, ihr dürft sie behalten«, jammert Oscar vor sich hin. »Wir sind quitt, ich bleibe hier, ich werde nichts sagen, ich schwöre, ich habe Sie nicht gesehen.«

Joona hilft der jungen Frau durch das dunkle Haus nach draußen, auf den Felsen hinter dem Haus hinauf, als der Hubschrauber langsam niedersinkt. Jack folgt ihnen und hat die Hand um den verletzten Arm gelegt. Er ist schwarz um die Augen von dem verlaufenen Kajal, und seine Kleidung flattert um den Körper.

Hasenjagd
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