26
Ich hatte die Wahl. Entweder wandte ich den Trick an, den Wyatt mir am Vorabend gezeigt hatte, um alle eventuellen Verfolger abzuhängen, und flüchtete mich in Wyatts Haus und verkroch mich dort wie ein Kaninchen in seinem Bau, oder ich wandte denselben Trick an, um mich zu befreien und dann meinen Geschäften nachzugehen. Ich beschloss, lieber meinen Geschäften nachzugehen.
Warum auch nicht? Ich musste eine Hochzeit auf die Beine stellen. Was konnte sonst noch schiefgehen? Welche Komplikationen konnten meine Aufgabenliste zusätzlich verlängern? Ich musste nicht nur innerhalb von drei Wochen für die Hochzeit bereit sein – eine Hochzeit, für die ich nicht einmal ein Kleid hatte! –, gleichzeitig versuchte mich jemand umzubringen, mein Haus war bis auf die Grundmauern abgebrannt, ich brachte kaum einen Ton über die Lippen, ich musste entscheiden, ob der Mann, den ich von Herzen liebte, meine Liebe genauso ernsthaft erwiderte oder ob ich die geplante Hochzeit absagen musste, und obendrein musste ich irgendwie die Ehe zweier Menschen kitten, deren eigene Kinder dabei gescheitert waren, sie zu einem Gespräch zusammenzuführen. Ich kam mir vor wie eine hilflose Biene, die wie besessen von Blüte zu Blüte summt, während gleichzeitig ein Wirbelsturm alle Blumen aus dem Boden reißt.
Um das Maß voll zu machen, hatten die Läden bereits ihre Weihnachtsdekoration aufgebaut. Zusätzlich zu allen anderen Erledigungen musste ich also mit den Weihnachtseinkäufen beginnen, weil die Weihnachtsdekoration zahllose wild gewordene Früheinkäufer anlockt, die wie Heuschrecken über die Geschäfte herfallen, alle brauchbaren Geschenke einsacken und den halbwegs vernünftigen Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe erst nach Thanksgiving – also nach dem offiziellen Beginn der Weihnachtssaison – erledigen wollen, nur noch ein paar Krumen übrig lassen. Selbst wenn ich nicht sofort mit den Weihnachtseinkäufen begann, setzten mich die bunten Kugeln und kleinen Plastikbäumchen in allen Schaufenstern unter massiven Druck.
Ich konnte keinesfalls auf Nummer Sicher gehen und mich verkriechen. Dazu hatte ich zu viel zu erledigen. Ich konnte mich nicht einmal mit rationalen Erklärungen beruhigen, wonach jede herumsausende Irre da draußen erwarten würde, dass ich auf Nummer Sicher ging, weshalb es sicherer war, nicht auf Nummer Sicher zu gehen, oder etwas in dieser Richtung.
Also fuhr ich zu Sally.
Nachdem ihr Jüngster die Highschool geschafft hatte, hatte sie wieder angefangen, fest zu arbeiten, und zwar in einem Antiquitätenauktionshaus. Hauptsächlich fuhr Sally auf alle möglichen Haushaltsauflösungen, Flohmärkte oder Privatverkäufe und suchte dort nach preiswerten Antiquitäten, die das Auktionshaus anschließend aufmöbelte und gewinnbringend versteigerte. Die Auktionen fanden jeden Freitagabend statt, und das hieß, dass man sie freitags im Auktionshaus finden konnte, wo sie bei der Preisauszeichnung, beim Katalogisieren und Arrangieren half. An den übrigen vier Arbeitstagen und manchmal auch samstags war sie unterwegs und machte ihr eigenes Ding.
Vor dem Auktionshaus parkten mehrere Wagen und Pick-ups sowie ein mittelgroßer, vor einer Laderampe abgestellter Lieferwagen, aber der Eingang war abgeschlossen, da noch kein Publikumsverkehr herrschte. Ich ging hinüber zur Laderampe, entdeckte eine Treppe nach oben und trat durch das offene Ladetor ein.
Ein dürrer Kerl um die fünfzig mit Froschaugen und colaflaschendicker Brille schob einen leeren Handwagen durch den Ladebereich und rief: »Brauchen Sie Hilfe, Madam?«
Wahrscheinlich war er gut zwanzig Jahre älter als ich, aber wir waren im Süden, darum war ich für ihn eine »Madam«. Wir legen hier Wert auf gutes Benehmen.
Ich hob die Hand, um ihn aufzuhalten, da er mich von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus unmöglich hören konnte, und lief hinüber. »Ich suche Sally Arledge«, flüsterte ich heiser.
»Gleich da hinten.« Er deutete auf eine Tür am Ende des kleinen Ladebereichs. »Das hört sich nach einer schlimmen Halsentzündung an, wenn Sie die Bemerkung erlauben. Sie sollten einen Tee mit Zitrone und Honig dagegen trinken, und wenn das nicht hilft, sollten Sie Ihren Hals mit Wick einreiben und dann ein heißes Handtuch darumwickeln, und dazu sollten sie einen Würfel Zucker mit ein paar Tropfen Kerosin lutschen. Hört sich verrückt an, aber das hat uns Mamma immer gegeben, wenn wir als Kinder heiser waren, und es hat geholfen. Umgebracht hat es uns jedenfalls nicht«, ergänzte er, und seine Augen knitterten an den Seiten zu fröhlichen Fältchen.
»Sie haben tatsächlich Kerosin gelutscht?«, fragte ich. Mann. Danach musste ich unbedingt Grandma fragen. Die Salbe und das heiße Handtuch hörten sich ganz vernünftig an, aber ich würde bestimmt kein Kerosin lutschen, ganz egal, worauf es geträufelt war.
»Sicher doch. Natürlich nicht viel. Nach einem ganzen Schluck wären wir mausetot umgekippt oder wir hätten uns wenigstens den Magen ausgekotzt, aber die paar Tropfen haben nicht geschadet.«
»Ich werde daran denken«, versprach ich. »Vielen Dank!« Ich eilte zu der Tür, auf die er gezeigt hatte, und versuchte mir gleichzeitig auszumalen, wie dieses Heilmittel wohl erfunden worden war. Irgendwann musste irgendwer gedacht haben: »Mann, mein Hals tut weh! Ich glaube, ich besorge etwas Kerosin und trinke es. Das muss einfach helfen. Aber am besten träufle ich es auf ein Zuckerstück; dann schmeckt es besser.«
Die Menschen verblüffen mich immer wieder.
Als ich die Tür öffnete, fiel mein Blick direkt auf Sally, die, auf einer Leiter thronend, über die Oberkante eines beschnitzten, an der Wand lehnenden Himmelbett-Kopfteiles wischte. Es war ein unglaublich schönes Stück, das Holz war altersgeschwärzt, und falls es umkippte, würde es jeden unter sich begraben. Auf gar keinen Fall würde ich mit einem Mann schlafen wollen, während dieses Ding über mir aufragte, auch wenn ich finde, dass es schlimmere Arten zu sterben gibt als durch einen finalen Bums.
Weil sie sich nicht umdrehte, musste ich zu ihr hinüber und gegen das Kopfende klopfen, damit sie auf mich aufmerksam wurde. »Blair!« Sallys agiles Gesicht drückte Freude und Sorge zugleich aus, was keine Kleinigkeit ist, wenn man mal darüber nachdenkt. Sie legte das Staubtuch über das Kopfende und kletterte die Leiter herunter. »Tina hat mir das von deiner Wohnung erzählt und das von deinem Hals und alles andere auch. Arme Kleine, du hattest wirklich eine schlimme Woche.« Kaum war sie auf dem Boden angekommen, da umarmte sie mich fest und voller Mitgefühl.
Sally war knapp einen Meter sechzig groß und wog wahrscheinlich keine fünfzig Kilo, ein winziger Dynamo, der sich ununterbrochen drehte. Ihr dunkelrotes Haar war unregelmäßig und strähnig gestylt, ohne dass es übertrieben gewirkt hätte, und sie hatte sich vorn peppige blonde Highlights setzen lassen, die ihr Gesicht einrahmten. Der Nasenbeinbruch, den sie sich zugezogen hatte, als sie Jazz zu überfahren versucht hatte und dabei in die Hauswand gekracht war, hatte einen winzigen Höcker auf dem Nasenrücken hinterlassen, der irgendwie gar nicht schlecht aussah. Bis zu dem Unfall hatte sie eine Brille getragen, doch genau genommen hatte ihr die Brille die Nase gebrochen, als ihr der Airbag ins Gesicht geschlagen war; seither trug sie lieber Kontaktlinsen.
Ich umarmte sie ebenfalls. »Können wir uns unterhalten? Ich muss dir etwas zeigen.«
Sie wirkte interessiert. »Natürlich. Gehen wir da rüber und setzen uns.«
Sie deutete auf ein paar Klappstühle, die unordentlich in der Mitte des Auktionssaales standen. Später würden sie für die Bieter in akkuraten Reihen aufgestellt. Wir setzten uns auf zwei davon, ich fasste in meine Ledertasche, zog die Rechnungen für ihr Schlafzimmer heraus und reichte sie ihr.
Verdutzt blickte sie ein paar Sekunden darauf, ehe sie begriff, worum es ging, dann riss sie entsetzt und wutentbrannt die Augen auf. »Zwanzigtausend Dollar!«, keifte sie. »Er hat … er hat zwanzigtausend Dollar für diesen Bockmist bezahlt?«
»Nein«, widersprach ich. »Er hat ihn nicht für diesen Bockmist bezahlt. Sondern für dich, weil er dich liebt.«
»Hat er dich geschickt?«, wollte sie zornig wissen.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich mache das aus eigenem Antrieb.« Na schön, auch weil Wyatt mich dazu gezwungen hatte, aber das blieb unter uns.
Sie starrte auf die Rechnung und versuchte zu begreifen, wie man so viel für ein Schlafzimmer bezahlen konnte. Für Sally waren die Möbel und Kunstwerke, mit denen Monica Stevens ihre heiß geliebten Antiquitäten ersetzt hatte, im allerbesten Fall ein paar Tausender wert. Zu behaupten, dass sich die beiden Frauen an entgegengesetzten Enden des Stilspektrums befanden, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen.
»Er wusste genau, wie sehr ich meine Antiquitäten liebe.« Ihre Stimme begann zu beben. »Und wenn nicht, hätte er es wissen müssen! Wieso hätte ich sonst so viel Arbeit in die Reparatur und Aufbereitung gesteckt? Es war nicht so, als hätten wir uns keine anderen Möbel leisten können, wenn wir gewollt hätten!«
»Nur dass er es tatsächlich nicht gewusst hat«, merkte ich an. »Zum einen hast du nie an deinen Antiquitäten gearbeitet, wenn er zu Hause war. Und zum anderen habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen getroffen, der so wenig Ahnung von Stil und Einrichtung hat wie Jazz Arledge. Diese orangefarbene Couch in seinem Büro –« Ich verstummte schaudernd.
Sie blinzelte verdattert. »Du warst in seinem Büro? Ist diese Höhle nicht grässlich?« Dann schüttelte sie das grauenhafte Bild wieder ab. »Das tut nichts zur Sache. Wenn er in den fünfunddreißig Jahren unserer Ehe auch nur einmal richtig zugehört hätte, wenn er einen Moment darüber nachgedacht hätte, in was für einem Haus wir leben, dann hätte er unmöglich auf den Gedanken kommen können –«
»Genau das trifft es, er hat im wahrsten Sinn des Wortes keine Ahnung von den verschiedenen Stilrichtungen. Er wusste nicht einmal, dass es verschiedene Stile gibt. Für ihn sind Möbel schlicht Möbel, basta. Ich glaube, allmählich entwickelt er eine vage Vorstellung von dem Konzept, er ahnt jetzt, dass verschiedene Stile existieren, trotzdem hat er keinen blassen Schimmer, wodurch sie sich unterscheiden und wie sie aussehen. Diese Sprache ist ihm vollkommen fremd, er versteht definitiv kein Wort, wenn du ihm etwas von deinen Antiquitäten erzählst.«
»Aber er weiß bei Gott, dass ›antik‹ alt bedeutet.«
»Vielleicht«, sagte ich zweifelnd. »Sag mal, kann er zwischen Nachtblau und Schwarz unterscheiden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das können die wenigsten Männer. Ihnen fehlen die nötigen Farbstäbchen in der Netzhaut, um den Unterschied wahrzunehmen, darum glauben Männer, dass eine nachtblaue und eine schwarze Socke ein Paar ergeben. Hier liegt der Fall ähnlich. Es ist nicht so, dass Jazz desinteressiert wäre, dass es ihm gleichgültig wäre, was dir gefällt, stattdessen ist sein Gehirn nicht darauf programmiert, Stile zu erkennen. Du verlangst von einem flügellosen Vogel doch auch nicht, dass er fliegen kann, oder?«
Tränen glänzten hell in ihren Augen, und ihr Blick senkte sich auf die Rechnungen in ihrer Hand. »Du meinst also, dass ich im Unrecht bin.«
»Ich sage nicht, dass es unrecht ist, sich wegen der Möbel aufzuregen. Ich hätte mich auch aufgeregt.« Die nächste Untertreibung. »Aber es war eindeutig unrecht, ihn mit dem Wagen überfahren zu wollen.«
»Das hat Tina auch gesagt.«
»Wirklich?« Mom war auf meiner Seite! Wann hatte sie mit Sally darüber geredet?
»Als du im Krankenhaus warst«, sagte Sally, als hätte sie meinen Gedanken gehört. »Sie sagte, sie hätte ihre Meinung geändert, als sie sah, wie sehr du leiden musstest, obwohl dich das Auto gar nicht erwischt hat. Sie meinte, verletzte Gefühle seien das eine, aber physische Verletzungen seien weitaus schlimmer.«
Ich seufzte. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die verletzte Gefühle leicht abtun, aber wenn ich bedachte, was in den letzten Monaten alles passiert war, musste ich ihr zustimmen. »Sie hat recht. Du hast ihn schließlich nicht bei einem Seitensprung ertappt, verstehst du? Er hat nur Möbel gekauft, die dir nicht gefallen.«
»Also soll ich mich zusammenreißen.«
Ich nickte.
»Ich soll mich bei ihm entschuldigen.«
Ich nickte wieder. »Verdammt, ich hasse es, mich zu entschuldigen! Es ist nicht nur das. Seit das passiert ist, haben wir uns Dinge an den Kopf geworfen, die besser unausgesprochen geblieben wären …«
»Reißt euch beide zusammen.« Inzwischen konnte ich kaum noch flüstern. Es ist verblüffend, wie Flüstern die Kehle anstrengen kann.
»Das Dumme ist, dass ich ihn gar nicht treffen wollte. Wir hatten uns gestritten und waren beide wütend aufeinander, aber ich hatte einen Termin und musste los. Er folgte mir nach draußen und redete dabei immer weiter auf mich ein. Du kennst Jazz, du weißt, wie stur er sein kann. Er wollte noch etwas klarstellen, und zwar laut und deutlich. Noch während ich vorsichtig zurücksetzte, blieb er auf der Auffahrt stehen, mit den Armen wedelnd und brüllend, ich war so wütend, dass ich den Ganghebel auf Parken stellte, damit ich aussteigen und ihn ebenfalls anbrüllen konnte, aber vor Wut schob ich den Hebel nicht weit genug, und mein Fuß war auf dem Gas, und na ja, in diesem Augenblick hätte es mich nicht besonders gestört, ihn zu überfahren, aber ich habe es nicht absichtlich getan. Und ehe ich mich’s versehe, knallt mir der Airbag ins Gesicht, meine Brille zerspringt und meine Nase fängt an zu bluten.« Traurig rieb sie über den Höcker auf ihrer Nase. »Eine gebrochene Nase in meinem Alter. Und jetzt muss ich mit diesem Bockmist leben.«
Lächelnd schüttelte ich den Kopf. »Ich habe mit Monica gesprochen. Sie wird die Möbel zurücknehmen und mit dir zusammenarbeiten, um dein Schlafzimmer so umzugestalten, wie es dir gefällt. Sie arbeitet auch in anderen Stilrichtungen, musst du wissen. Ich glaube, du wirst sie sogar mögen. Außerdem habe ich ihr zugesagt, Mom würde ihren Immobilienkäufern in Zukunft erzählen, dass Monica keine einseitige Innenarchitektin ist, sie muss nicht alles in Glas und Stahl gestalten.«
»Falls sie auch andere Stilrichtungen kennt, habe ich jedenfalls noch nie welche von ihr gesehen«, meinte Sally mürrisch.
»Nur weil die meisten ihrer Kunden ihren individuellen Stil mögen. Jetzt aber möchte sie diversifizieren und neue Kunden hinzugewinnen. Dein Schlafzimmer neu einzurichten würde sich für sie auszahlen.«
»Ich bin nicht gewillt, auch nur einen weiteren Cent zu bezahlen. Zwanzigtausend Dollar!«
»Sie will kein Geld. Sie ist nicht die Böse. Es gibt hier keine Bösen.«
»Ach, Scheißdreck.«
Wenn ich hätte lachen können, hätte ich gelacht. Wir sahen einander in vollkommener Übereinstimmung an.
»Na schön, ich rufe ihn heute Abend an.« Sie seufzte. »Ich werde mich entschuldigen. Ich bin ein Adler, er ist ein Pinguin. Er kann nicht fliegen. Kapiert.«
»Ich habe ihm ein Möbelstück gezeigt, das Mr Potts gerade restauriert, einen riesigen Kleiderschrank. Mr Potts hat ihm erzählt, dass er schon gut sechzig Stunden daran gearbeitet hat. Jazz wird sich nie mit Möbeln auskennen, aber vielleicht weiß er von nun an eher zu schätzen, wie viel Arbeit du in euer Schlafzimmer gesteckt hast.«
»O Gott, Blair, danke.« Sie packte mich und schloss mich erneut in die Arme. »Ich hoffe, dass wir das irgendwann auch selbst geklärt hätten, aber du hast den Prozess eindeutig beschleunigt.«
»Ihr habt nur jemanden gebraucht, der das Problem von außen betrachtet«, erklärte ich bescheiden.