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Wyatt war das Letzte, was ich sah, bevor die Hecktüren des Notarztwagens geschlossen wurden, und das Erste, was ich sah, als sie wieder geöffnet wurden.
Er sah so grimmig, eisig und zornig aus, dass ich wieder nach seiner Hand fasste, als ich aus dem Wagen geladen wurde. »Mir ist wirklich nicht viel passiert«, sagte ich. Was, bis auf die Gehirnerschütterung, stimmte. Ich war verbeult, aber okay. Ich wollte betont tapfer klingen, was ihn überzeugt hätte, dass ich wohlauf war, und setzte die dazu passende Mitleid schindende Miene auf, aber mein Kopf schmerzte zu sehr, als dass ich die Kraft dafür aufgebracht hätte, weshalb ich im Endeffekt aufrichtig klang, und das nahm er mir natürlich nicht ab.
Im Moment war ich schlicht überfordert mit diesem Mann/Frau-wer-ist-obenauf-Ding. Man hätte meinen sollen, dass er erleichtert reagiert hätte, aber nein, ich sah ihm an seinem vorgeschobenen Kinn an, dass er sich höllische Sorgen machte. Männer sind so pervers.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen. »Das ist alles deine Schuld«, sagte ich so entrüstet, wie es mir noch möglich war.
Er ging, meine Hand haltend, neben der Bahre her, und sah mich aus schmalen Augen an. »Meine Schuld?«
»Nur wegen deiner dämlichen Deadline war ich heute Abend einkaufen. Wenn du auf mich gehört hättest, hätte ich tagsüber einkaufen können, wie es zivilisierte Menschen tun, aber nein, du musstest mir ein Ultimatum stellen, und nur deswegen war ich heute Abend zur gleichen Zeit wie diese durchgeknallte, straßencholerische, Buick fahrende Kuh auf dem Parkplatz.«
Seine Augen wurden noch schmaler. Zu meiner Erleichterung entspannte sich der grimmige Blick ein wenig. Er kam zu dem Schluss, dass es mir nicht allzu schlecht gehen konnte, wenn ich noch so Dampf abließ. »Wenn du es geschafft hättest, etwas so Simples wie eine Hochzeit zu planen«, erklärte er mit einer unverschämten Ignoranz gegenüber den Millionen Details, aus denen sich eine Hochzeit zusammensetzt, »dann hätte ich gar nicht erst einschreiten müssen.«
»Simpel?«, stotterte ich. »Simpel? Du glaubst, eine Hochzeit ist simpel? Ein Raketenstart ist simpel. Quantenphysik ist simpel. Eine Hochzeit zu planen ist wie einen Krieg zu planen –«
»Ein passender Vergleich«, murmelte er halblaut, aber ich verstand ihn trotzdem.
Ich riss meine Hand aus seiner. Manchmal wollte ich ihn nur noch ohrfeigen.
Dwight, der die Bahre schob, begann zu lachen. Dwayne war viel netter als Dwight. Ich sagte: »Ich will nicht, dass Sie meine Bahre schieben. Dwayne soll sie schieben. Wo ist Dwayne?«
»Der kümmert sich um den Papierkram und bringt Ihre Einkäufe«, antwortete Dwight fröhlich und schob meine Bahre ungerührt weiter.
Der Abend verlief ganz und gar nicht nach Plan, aber die Nachricht, dass Dwayne meine Einkäufe hereinbrachte, munterte mich immerhin halbwegs auf. Dass ich bis dahin keinen Gedanken an meine Einkäufe und ganz besonders meine neuen Schuhe verschwendet hatte, lässt erkennen, wie mir der Schädel dröhnte. »Hat er auch meine Schuhe?«
»Die hast du an«, antwortete Wyatt, wobei er Dwight fragend über meinen Kopf hinweg ansah, als wollte er sich erkundigen, ob ich eventuell einen Hirnschaden davongetragen hatte.
»Keine Angst, ich drehe nicht am Rad, ich meine die neuen Schuhe. Die, die ich heute Abend gekauft habe.« Während ich das erklärte, rollte mich Dwight in ein Untersuchungszimmer. Dwayne folgte keine dreißig Sekunden später, vollbepackt mit Clipboards, Papieren, meiner Handtasche und mehreren Plastiktüten. Ich erspähte die Tüte aus dem Laden, in dem ich meine Schuhe gekauft hatte, und seufzte erleichtert. Sie waren nicht verloren gegangen. Dann übernahm ein effizientes Geschwader von Krankenschwestern das Kommando; Wyatt wurde hinausgeschickt, und Dwayne und Dwight erstatteten Bericht über meinen Zustand, wobei ihre Diagnose in etwa dem entsprach, was ich mir bereits zusammengereimt hatte. Dann verschwanden auch sie, der Vorhang wurde zugezogen, und man schnitt mir die Kleider vom Leib. Ich finde es schlimm, wie die Leute in der Notaufnahme mit unserer Kleidung umgehen, auch wenn ich einsehe, dass es notwendig ist. Selbst jemand, der bei Bewusstsein ist, könnte seinen eigenen Gesundheitszustand falsch einschätzen, darum muss alles schnell und effizient ablaufen.
Nichtsdestotrotz hasse ich es, ich hasse es wirklich, wenn mein BH mit einem gefühllosen Riesenscherenschnapp zerstückelt wird. Ich liebe meine Unterwäsche. Dieser spezielle BH war von einem genialen Mokkabraun, er hatte kleine Blütenstickereien im Satingewebe und winzige Perlen in der Mitte. Jetzt war er ruiniert. Ich nahm das mit einem resignierten Seufzen zur Kenntnis, weil er außerdem blutdurchtränkt und damit so oder so ruiniert war.
Genau besehen war so ziemlich jeder Faden ruiniert, den ich am Leib trug, denn alles war entweder zerfetzt oder blutdurchtränkt oder beides zugleich. Kopfwunden bluten wirklich wie blöde. Seufzend betrachtete ich mich von Kopf bis Fuß und danach die beiseitegeworfene Kleidung, was ohne Kopfbewegung möglich war, weil das Kopfende der Bahre hochgeklappt war und ich halb aufrecht saß. Nein, nichts davon war noch zu retten, höchstens vielleicht meine Schuhe. Meine schwarzen Cargopants waren an mehreren Stellen zerfetzt, die großen, unregelmäßigen Risse waren eindeutig nicht mehr zu flicken, ganz zu schweigen davon, dass beide Beine der Länge nach aufgeschnitten worden waren, damit die Schwestern mich schneller ausziehen konnten. Meine nackten Beine waren blutig und verdreckt, was mir bestätigte, dass meine irrationale Angst vor einer Attacke der Asphaltbakterien nicht ganz so irrational gewesen war. Genauer betrachtet war ich von Kopf bis Fuß blutig und verdreckt. Ich war überhaupt kein schöner Anblick, und das Deprimierendste daran war, dass Wyatt mich so gesehen hatte.
»Ich schaue schrecklich aus«, meinte ich kummervoll.
»So schlimm ist es nicht«, antwortete eine Schwester. »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass es sich schlimm genug anfühlt, oder?« Sie klang munter, aber tröstend. Genauer gesagt wollte sie tröstend klingen, aber was sie sagte, machte mich noch unglücklicher, weil mir vor allem mein Aussehen Sorgen machte. Ja, ich bin eitel, aber ich hatte außerdem ein Hochzeitsultimatum zu erfüllen und wollte auf meinen Hochzeitsbildern nicht wie ein Bürgerkriegsflüchtling aussehen. Eines Tages würden meine Kinder diese Bilder ansehen; sie sollten sich nicht fragen müssen, was ihr Vater jemals an mir gefunden hatte.
Außerdem fehlt mir jede »Opfer« -Mentalität, und ich hatte es satt, beschossen, angefahren und verunstaltet zu werden. Wyatt sollte nicht glauben, dass er auf mich aufpassen musste. Ich möchte selbst auf mich aufpassen, vielen Dank – wenn mir nicht gerade der Sinn danach steht, verhätschelt zu werden, aber selbst dann will ich in Form sein, damit ich das Verhätscheltwerden genießen kann.
Die Schwestern wollten mich gerade in ein Krankenhaushemd stopfen, als ein übermüdeter Notarzt hereingeschlurft kam. Er checkte mich durch, hörte sich an, was die Schwestern zu sagen hatten, überprüfte, ob meine Pupillen reagierten, und schickte mich dann zu einer Kopf-CT und einer Art Ganzkörper-Röntgensitzung. Ein paar langweilige und schmerzhafte Stunden später wurde ich als stationäre Patientin aufgenommen, weil die Ärzte meiner Diagnose einer Gehirnerschütterung zustimmten. Alle Schürfwunden wurden gesäubert und zum Teil bandagiert, das meiste Blut wurde abgewaschen – bis auf das Blut in meinen Haaren, was mich besonders ärgerte, weil es meine ganze Frisur verklebte. Das Schlimmste war, dass sie an meinem Haaransatz einen Streifen abgeschoren und ein paar Stiche gesetzt hatten, um die Platzwunde zu vernähen. Während der nächsten Monate musste ich frisurenmäßig kreativ werden. Zuletzt wurde ich in ein nettes, kühles, sauberes Bett geladen, und die Lichter wurden gedämpft, was wirklich erholsam war. Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie mir der Schädel dröhnte?
Weitaus weniger erholsam war, dass Wyatt und meine gesamte Familie um mein Bett standen und mich schweigend anstarrten.
»Ich kann nichts dafür«, verteidigte ich mich. Es war merkwürdig, sie alle in einer Front vereint zu sehen, so als hätte ich mich absichtlich überfahren lassen. Selbst Siana sah mich mit strenger Miene an, dabei kann ich mich normalerweise darauf verlassen, dass sie mir unter allen Umständen die Stange hält. Dafür war mir sonnenklar, dass ich Wyatt, der in den letzten Monaten genauso oft verletzt worden war wie ich, zwingen würde, den Job zu wechseln und mit mir zusammen in die Äußere Mongolei zu ziehen, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen.
Mom regte sich als Erste. Bisher hatte sie genauso schmallippig reagiert wie Wyatt, aber jetzt schaltete sie auf Mom-Modus und ging an das Miniwaschbecken, wo sie den Waschlappen nass machte. Dann trat sie wieder ans Bett und wusch das eingetrocknete Blut ab, das die Schwestern vergessen hatten. Das letzte Mal habe ich mir von meiner Mom die Ohren waschen lassen, als ich ein kleines Mädchen war, aber manche Dinge ändern sich nie. Ich war nur froh, dass sie Wasser nahm und keine Spucke. Wer kennt nicht die dummen Sprüche, dass Mutterspucke jeden Fleck von Fett bis Filzstift entfernen kann? Das stimmt. Mutterspucke sollte patentiert und als Allzweck-Fleckentferner verkauft werden. Wenn ich es recht überlege, wird das vielleicht längst gemacht. Ich habe noch nie die Inhaltsangabe auf meinem Fleckentferner studiert. Vielleicht wird dort nur Mutterspucke aufgeführt.
Schließlich sagte Wyatt: »Wir besorgen schon die Bänder der Überwachungskameras auf dem Parkplatz, dann können wir eventuell das Kennzeichen des Wagens ermitteln.«
Ich war inzwischen schon so lange mit einem Polizisten zusammen, dass mir einige der juristischen Feinheiten bekannt waren. »Aber sie hat mich nicht getroffen. Als sie das Gaspedal durchtrat, bin ich zur Seite gehechtet. Es handelt sich also nicht um Fahrerflucht. Sondern um Erschreckerinnenflucht.«
»Sie?« Natürlich hakte er bei diesem Wort ein. »Du hast sie gesehen? Kennst du sie?«
»Ich konnte erkennen, dass es eine Frau war, aber ob ich sie kenne oder nicht …« Ich hätte gern mit den Achseln gezuckt, aber ich gab mir alle Mühe, meine Bewegungen auf ein Minimum zu reduzieren. »Mich haben die Scheinwerfer geblendet. Am Steuer saß eine Frau, und das Auto war ein neuerer Buick, mehr kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich weiß, dass die Parkplatzbeleuchtung alle Farben verfälscht, aber trotzdem glaube ich, dass der Wagen eine hellbraune Metalliclackierung hatte.«
»Du bist sicher, dass es ein Buick war?«
»Bitte«, erwiderte ich so hochnäsig, wie ich nur konnte. Mit Autos kenne ich mich aus. Das ist eines der eigentümlichen Gene, die Dad mir vererbt hat, denn meine Mom kann bei einem Auto höchstens die Farbe bestimmen und ob es ein großes Auto, ein kleines Auto oder ein Pick-up ist. Marke und Modell sind für sie böhmische Dörfer.
»Wenn sie sagt, dass es ein Buick war, dann war es ein Buick«, sprang Dad für mich in die Bresche, und Wyatt nickte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es mich geärgert, dass er Dads Wort widerspruchslos akzeptierte, nachdem er an meinem gezweifelt hatte, aber in diesem Moment war ich zwar nicht völlig hinüber, das war ich eindeutig nicht, aber doch klar jenseits von Gut und Böse, und zwar körperlich wie geistig. Ich fühlte mich ausgebrannt, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern weil dieser Zwischenfall definitiv ein Zwischenfall zu viel war. Mal im Ernst, wie viele Mordanschläge kann eine Frau überstehen, ohne dass es ein bisschen deprimierend wird? Es ist schließlich nicht so, dass ich ständig meine Mitmenschen verärgern und vors Schienbein treten würde. Ich hebe nicht einmal den Stinkefinger, wenn mich jemand im Auto schneidet, weil man nie wissen kann, ob die Leute ihre Antipsychotika genommen haben oder ob sie mit einer geladenen Waffe und einem entladenen Hirn durch die Gegend kutschieren. Ich hatte die Faxen dicke, mir tat alles weh, und mir war zum Heulen.
Nur konnte ich nicht heulen, jedenfalls nicht vor meiner versammelten Familie. Ich bin keine Heulsuse, jedenfalls nicht diese Art von Heulsuse. Ich heule vielleicht bei einem traurigen Film oder wenn vor dem Footballspiel die Nationalhymne gespielt wird, aber wenn es mir persönlich dreckig geht, beiße ich die Zähne zusammen und halte durch. Ich hatte schon schlimmere Schmerzen durchgestanden, ohne dass ich geheult hatte. Wenn ich jetzt zu heulen angefangen hätte, dann nur aus Selbstmitleid, das ich natürlich empfand, aber das wollte ich niemandem zeigen. Schlimm genug, dass ich aussah wie ein überfahrenes Streifenhörnchen; ich wollte mein unattraktives Äußeres nicht noch durch eine Rotznase und rote Augen verschlimmern.
Falls ich die dumme Kuh, die an alldem schuld war, je in die Finger bekommen sollte, würde ich ihr den Hals umdrehen.
»Wir können später darüber sprechen«, sagte Mom. »Sie muss sich vor allem ausruhen und nicht alles noch mal durchkauen. Ihr fahrt alle nach Hause, ich bleibe heute Nacht bei ihr. Das ist ein Befehl.«
Wyatt befolgt nicht gern Befehle, selbst wenn sie von meiner Mom stammen, die ihm normalerweise eine Höllenangst einjagt. »Ich bleibe auch«, erklärte er mit der Pass-bloß-auf-Bullenstimme, die so typisch für ihn ist.
Trotz meiner halb geschlossenen Augen konnte ich sehen, wie sie sich mit Blicken duellierten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich die Schlacht mit Interesse verfolgt, aber im Moment sehnte ich mich nur nach Ruhe und Frieden. »Niemand braucht hierzubleiben. Ihr müsst alle morgen arbeiten, darum solltet ihr alle heimfahren. Ich komme schon zurecht, ehrlich.« Man merke: Wenn jemand »ehrlich« sagt, lügt er praktisch immer, so wie ich in diesem Moment.
»Wir bleiben beide«, stellte Wyatt fest, ohne auf mein falsches Ehrenwort und meine tapfere Versicherung einzugehen. Ich schaute nach unten, um festzustellen, ob sich die Umrisse meines Körpers aufgelöst hatten, weil sich alle aufführten, als wäre ich gar nicht da. Erst hatte ich eine gefühlte Stunde auf dem Schmodderparkplatz gelegen, ohne dass mich jemand bemerkt hätte, und jetzt schien mich niemand zu hören, wenn ich sprach.
»Bestimmt bin ich unsichtbar geworden«, murmelte ich vor mich hin.
Dad tätschelte meine Hand. »Aber nein, wir machen uns nur alle schreckliche Sorgen«, sagte er ruhig und raubte mir damit meinen ganzen Schneid. Er schafft das regelmäßig, aber andererseits hat er einen extrem scharfen Instinkt, was mich angeht, vielleicht weil ich Mom so ähnlich bin. Ich fürchte, dass Wyatts Instinkt nicht weniger scharf ist, womit ich keine Probleme mehr haben werde, wenn wir erst gut dreißig Jahre verheiratet sind wie Mom und Dad, aber während wir noch darum kämpfen, wer obenauf ist, bringt mich das irgendwie in die Defensive, darum muss ich immer auf der Hut sein. In dieser Hinsicht ist Wyatt Lichtjahre weiter als Jason, dessen Blick nie über den Blondschopf und Knackarsch hinausging – seinen eigenen wohlgemerkt.
Jason ist in gewisser Hinsicht wie diese große, über Treppenstufen hüpfende Spiralfeder, die wir als Kinder hatten – wenn ich mir vorstellte, wie er die Treppe hinunterpurzelt, musste ich unwillkürlich lächeln.
Jedenfalls, zurück ins Krankenzimmer. Mommy hatte in Windeseile alle anderen aus dem Raum gescheucht. Dad und meine Schwestern wurden weggeschickt, weil es schon fast zwei Uhr morgens war und keiner bis dahin ein Auge zugetan hatte. Ihr und Wyatt war die Nervosität anzusehen, beide hatten diesen angespannten, leicht schattigen Blick – aber damit sahen beide immer noch um Längen besser aus als die Dritte im Raum, nämlich ich.
Eine Schwester kam herein, um nachzusehen, ob ich schon schlief, und um mich aufzuwecken, falls ich es tat. Weil ich nicht schlief, maß sie meinen Blutdruck und Puls und rauschte wieder ab, nicht ohne fröhlich zu versprechen, dass sie in spätestens zwei Stunden wieder vorbeikommen würde. Abgesehen von den grauenvollen Kopfschmerzen ist dies das Schlimmste an einer Gehirnerschütterung: Sie – damit ist der medizinische Stab gemeint – wollen dich nicht schlafen lassen. Oder anders ausgedrückt, es ist okay, wenn du schläfst, solange sie dich aufwecken können und du sofort weißt, wo du bist und so weiter. Das bedeutet Folgendes: Bis sie deinen Puls gemessen und dir alle Fragen gestellt haben und du dich wieder beruhigt hast und eingenickt bist, kommt schon die nächste Schwester durch die Tür gesegelt, und der ganze Zirkus fängt von vorne an. Ich sah eine lange, rastlose Nacht vor mir.
Wyatt bot Mom den Stuhl an, der sich zu einem schmalen, unbequemen Bett umklappen ließ, und sie nahm widerspruchslos an, um wenigstens eine Mütze voll unruhigen Schlaf abzubekommen. Er zog den hohen Besucherstuhl an mein Bett, ließ sich darauf nieder, fasste durch das Seitengitter und nahm meine Hand. Als er das machte, kam mein Herzschlag ins Schlittern und Stolpern, weil ich ihn so liebe und er genau wusste, wie dringend ich diesen kleinen, stillen Zuspruch brauchte.
»Ruh dich aus, wenn du kannst«, murmelte er.
»Was ist mit dir?«
»Ich kann hier schlafen. Ich bin eigenwillige Schlafzeiten und ungemütliche Stühle gewöhnt.«
Damit hatte er recht – immerhin war er ein Cop. Ich drückte seine Finger und versuchte es mir gemütlich zu machen, was blöderweise nicht möglich war, weil mein Schädel so pochte und die diversen Schürfwunden brannten. Trotzdem schloss ich die Augen, und meine alte Gabe, überall und jederzeit schlafen zu können, ließ mich auch diesmal nicht im Stich.
Ich erwachte in der Dunkelheit; nachdem ich eingeschlafen war, hatte Wyatt das Licht ausgeschaltet. Ich lag da und lauschte den Atemzügen zweier Schlafender: meiner Mom am Fuß des Bettes und Wyatt zu meiner Rechten. Es war ein tröstliches Geräusch. Ich konnte nicht auf die Uhr sehen, um nachzuprüfen, wie lange ich geschlafen hatte, aber das war auch egal, weil ich sowieso nicht aufstehen musste.
Mein Kopf pochte noch genauso wie zuvor, dafür ließ die Übelkeit langsam nach. Ich begann zu überlegen, was ich alles erledigen musste: Lynn anrufen, damit sie zumindest ein paar Tage lang das Great Bods führte, Siana überreden, meine Pflanzen zu gießen, mein Auto aus dem Einkaufszentrum abholen und zahllose andere vermaledeite Kleinigkeiten. Offenbar hatte ich mich dabei bewegt, denn Wyatt richtete sich sofort auf und fasste wieder nach meiner Hand. »Alles okay?«, flüsterte er, um Mom nicht aufzuwecken. »Du hast nicht lange geschlafen, nicht einmal eine Stunde.«
»Ich denke nur nach«, flüsterte ich.
»Worüber?«
»Was ich alles erledigen muss.«
»Du musst überhaupt nichts erledigen. Sag es mir einfach, dann kümmere ich mich darum.«
Ich lächelte still vor mich hin, allerdings hätte ich auch nur schlecht anders lächeln können, denn schließlich war es stockfinster, und er konnte mich nicht sehen. »Genau darüber habe ich nachgedacht, ich habe versucht, mich an alles zu erinnern, was du für mich erledigen musst.«
Er schnaubte leise. »Hätte ich mir denken können.«
Weil es so dunkel war, fasste ich mir ein Herz und redete weiter. »Außerdem habe ich mir Gedanken gemacht, ob du mich überhaupt noch haben willst, nachdem du mich in diesem Zustand gesehen hast.« Ich sagte das so leise wie möglich, weil, hallo, meine Mutter mit uns im Zimmer war, auch wenn ich mit einem Ohr ihrem Atem lauschte, der sich bisher nicht verändert hatte, woran ich erkannte, dass sie noch schlief.
Wyatt schwieg einen Moment, gerade so lange, dass mir flau im Bauch wurde – als hätte ich das gebraucht, wo mir ohnehin so übel war –, dann strich er zärtlich mit dem Finger über meinen Arm. »Ich werde dich immer wollen«, murmelte er, und seine Stimme war so warm und dunkel wie unser Zimmer. »Wie du zu einem gewissen Zeitpunkt aussiehst, hat kaum etwas damit zu tun. Es geht um dich, nicht um deinen Körper – obwohl ich deinen Hintern und deine Titten und dein freches Mundwerk und alle Körperteile dazwischen heiß und innig liebe.«
»Was ist mit meinen Beinen?«, hakte ich nach. Mann, mir ging es schon wieder besser, ich erholte mich mit jeder Minute. Wenn er so weiterredete, würde ich in einer halben Stunde hier rausspazieren.
Er lachte leise. »Die liebe ich auch. Vor allem rings um meine Taille.«
»Psst«, zischte ich. »Mom ist auch hier.«
»Die schläft.« Er hob meine Hand und drückte einen warmen, feuchten Kuss in meine Handfläche.
»Das wünschst du dir wohl«, kam ein scharfer Kommentar vom Fußende des Bettes.
Nach kurzem Stocken begann Wyatt zu lachen, und dann sagte er: »O ja, Madam, und wie.«
Ich liebe diesen Mann. Nach unserem kleinen Gemunkel im Dunkeln fühlte ich mich deutlich besser, was eine große Erleichterung für mich war, weil es verdammt anstrengend ist, sich zu bemitleiden. Ich drückte seine Hand und schlief glücklich wieder ein. War doch egal, wenn mein Schädel gleich zersprang. Alles andere war in bester Ordnung.
Ich hatte garantiert noch keine zehn Minuten geschlafen, als eine Schwester ins Zimmer platzte, das Licht anschaltete und mich fragte, ob ich wach war. Natürlich.