20
Nach einer Ewigkeit kehrte Wyatt zum Streifenwagen zurück, aber bis dahin begann schon die Morgendämmerung den Himmel zu erhellen, was bedeutete, dass ich stundenlang in dieser Dreckskiste gesessen hatte. Von meinem Apartment war nichts mehr übrig als Schutt, Gestank, Rauch und einige müde glimmende Scheite, die von einer Feuerwehreinheit besprüht wurden. Wyatts Pick-up war ohne jeden Zweifel hinüber; genauso wie der Wagen daneben. Die Familie, die nebenan gewohnt hatte, kauerte sich aneinander, die kleinen Kindergesichter blickten tiefernst und mit riesigen Augen in die Nacht, während die Eltern sich gegenseitig und die Kinder im Arm hielten. Ihre Wohnung war nicht unrettbar verloren, aber auch sie konnten so schnell nicht wieder einziehen.
Womit hatte ich in dieser Frau nur so viel Hass erzeugt, dass sie nicht nur versuchte, mich zu töten, sondern auch bereit war, unschuldige Menschen zu opfern, nur um ihr Ziel zu erreichen? Na gut, ich meinte andere unschuldige Menschen, weil mir beim besten Willen nichts einfallen wollte, was ich angestellt haben könnte, das es legitimiert hätte, mich umzubringen. Ich gebe mir Mühe, keine entscheidenden Gesetze zu brechen, ich zahle Steuern, und wenn mir jemand an der Kasse zu viel herausgibt, gebe ich immer den korrekten Betrag zurück. Außerdem bin ich eine großzügige Trinkgeldgeberin. Ich konnte keinen logischen Grund für diese Bösartigkeit erkennen.
Was wiederum bedeutete, dass es ein unlogischer Grund sein musste, oder? Ich hatte es mit einer Psychopathin zu tun. Und Psychopathen zeichnen sich durch verquere Gedankenprozesse aus.
Wyatt stapfte durch den Schutt und Müll und ließ seine Frustration und Wut erkennen, als er brutal gegen ein Holzstück trat und es wegkickte. Ich wusste, dass sie die Blondine nicht erwischt hatten, denn ich hatte nicht gesehen, dass jemand in einen der Streifenwagen gesteckt worden wäre – nein, diese Ehre blieb mir, dem Opfer vorbehalten –, aber ich hatte auch nicht erwartet, dass sie geschnappt würde, weil sie längst verschwunden war, als mir endlich jemand Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Wyatts Marke klemmte an seinem Gürtel, er war bewaffnet, und sein Gesicht und seine Arme waren rußgeschwärzt. Ein Feuer ist nichts Hübsches. Ich konnte mir ausmalen, wie ich aussah – schließlich war ich in dem Haus gewesen. Sagen wir einfach, es ist ein Wunder, dass DeMarius mich in der Menge erkannt hat.
Wyatt zog die Tür auf, streckte den Kopf in den Wagen und hielt mir die Hand hin. »Komm, fahren wir heim.«
Ich hatte kein Heim mehr, vielen Dank, und ich war wenig geneigt, mit Wyatt nach Hause zu fahren. Ich war wenig geneigt, mit ihm irgendwohin zu fahren. Ich hatte eigentlich vor, mit DeMarius zur Zentrale zu fahren, schließlich saß ich schon in seinem Streifenwagen.
Natürlich sagte ich das nicht, weil ich immer noch keinen Ton über die Lippen brachte. Ich lehnte mich gegen die rechte Tür, in meine Decke geschlungen, und starrte eisern nach vorn.
»Blair –« Sein Ton klang warnend, aber er verkniff sich einen Kommentar, stattdessen beugte er sich ins Wageninnere, zerrte mich mitsamt meiner Decke ins Freie und nahm mich wortlos hoch. Ich war so fest eingewickelt, dass ich ihn nicht daran hindern konnte, darum starrte ich weiter geradeaus.
»Jemand soll diese Zettel von den Fenstern entfernen«, befahl er, und DeMarius beugte sich in den Wagen, um meine Nachrichten von den Kaugummistückchen zu lösen. Die Kaugummistückchen blieben natürlich kleben. Außerdem reichte er die Bruchstücke meines Handys nach draußen sowie meine Ledertasche, die auf den Wagenboden gefallen war, als Wyatt mich herausgezerrt hatte, und übergab beides an eine mir unbekannte Polizistin.
»Was ist mit deinem Handy passiert?« Wyatt sah stirnrunzelnd darauf.
Ich sagte nichts dazu. Schließlich konnte ich nichts sagen, oder?
Mit meinem Fleischermesser in der Hand und fassungslosem Gesicht richtete sich DeMarius wieder auf. »Heiliger Hammer«, entfuhr es ihm.
Das Messer musste aus der Ledertasche gerutscht sein, als sie auf den Boden gefallen war. Eine Bande von Bullen, teils uniformiert, teils in Zivil, hatte sich in einer losen Gruppe um uns versammelt, alle starrten auf mein Messer. Die breite Klinge allein war gute zwanzig Zentimeter lang, und das ganze Ding maß etwa fünfunddreißig Zentimeter. Ich war stolz, denn das Messer bot einen beeindruckenden Anblick.
Wyatt seufzte. »Leg es wieder in die Tasche«, sagte er.
Die Polizistin mit meiner Tasche zog sie auf, damit De-Marius das Messer hineinfallen lassen konnte, doch dann sagte sie: »Moment noch.« Sie fasste in die Tasche und zog meine Hochzeitsschuhe heraus.
Sie waren wunderschön, mit glitzernden Strasssteinen besetzt und mit kunstvoll dünnen Riemen versehen. Es waren so eindeutig Schuhe, die kein Mensch bei der Arbeit trug, es sei denn ein Showgirl in Las Vegas, dass schon der Anblick auf uns wirkte, als würden wir die Wirklichkeit hinter uns lassen. Sie waren magisch. Sie waren eine zum Leben erwachte Phantasie, so als hätte Tinker Bell sie mit Feenstaub besprüht.
»Wir wollen doch nicht riskieren, dass diese Babys zerkratzt werden«, erklärte sie mit angemessener Ehrfurcht. »Das Messer muss ganz nach unten.«
O mein Gott, daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich war vor Angst wie gelähmt. Was, wenn ich meine Schuhe versehentlich angekratzt hatte?
DeMarius legte das Messer ganz nach unten in die Ledertasche, dann setzte die Polizistin meine Schuhe darauf. DeMarius begann die Zettel in seiner Hand durchzusehen. Inzwischen war es so kurz vor Sonnenaufgang, dass er sie ohne Taschenlampe lesen konnte. Seine Augen wurden rund, und er begann zu husten.
»Was ist denn?«, fragte jemand, den ich erkannte, Detective Forester, und nahm ihm die Zettel aus der Hand. Schweigend blätterte er sie durch, auch seine Augen wurden größer, dann brach er in schallendes Gelächter aus, das er vergeblich hinter einem Husten zu verstecken versuchte.
Wyatt seufzte wieder. »Geben Sie die Zettel mir«, sagte er müde. »Stecken Sie die Dinger zu der Waffe und den Mörderschuhen in die Tasche. Ich kümmere mich später darum.«
DeMarius nahm die Zettel wieder an sich und stopfte sie hastig in die Tasche; Wyatt schwang mich herum, damit er die Tasche in die Hand nehmen konnte, die unter meinen Knien zu liegen kam. Ich durchbohrte DeMarius und Detective Forester mit einem wutentbrannten Blick. Ich hatte mit meinen Zetteln etwas Wichtiges erklärt, und sie lachten? Vielleicht war es ganz gut, dass ich keinen Ton herausbrachte, denn wenn ich ausgesprochen hätte, was mir durch den Kopf ging, wäre ich höchstwahrscheinlich verhaftet worden.
»Viel Glück«, brachte Forester unter Mühen heraus, wobei er Wyatt auf die Schulter schlug. Er sagte nicht: »Sie werden es brauchen«, aber ich war ziemlich sicher, dass er es dachte.
Während Wyatt mich zum Auto trug, weigerte ich mich, zu ihm aufzusehen. Stattdessen beobachtete ich, wie die Feuerwehrleute ihre Schläuche aufrollten und zwei Männer mit der Aufschrift »Fire Marshal« auf dem Rücken ihrer Windjacken in den verkohlten Überresten meines Hauses herumstocherten. Die Menge der Schaulustigen zerstreute sich allmählich; einige mussten zur Arbeit, andere mussten ihre Kinder schulfertig machen. Ich hatte ebenfalls eine ganze Reihe von Dingen zu erledigen, aber weil ich dabei reden und angezogen sein musste, sah ich einige Probleme auf mich zukommen.
Ich hätte am liebsten überhaupt nicht mit Wyatt gesprochen, aber da er vorläufig mein einziges Kommunikationsmittel war, wenigstens bis ich an seinen Computer kam, müsste ich ihm zumindest Nachrichten schreiben. Dass ich nicht sprechen konnte, ging mir gehörig auf die Nerven.
Er stellte mich vor dem Auto ab, den linken Arm weiter um mich geschlungen, während er mit der rechten die Autotür öffnete. Ich löste die Decke weit genug, um aus eigener Kraft einsteigen zu können, allerdings verhedderte ich mich dabei ein wenig im Stoff. Bis Wyatt sich auf dem Fahrersitz niederließ, hatte ich meine Arme aus der Decke genestelt und fasste nach der Tasche.
Er zog sie außer Reichweite. »Kommt gar nicht in Frage«, sagte er grimmig. »Ich habe gesehen, wie groß das Messer ist.«
Ich brauchte meinen Terminkalender, nicht das Messer – allerdings hatte das Messer durchaus seinen Reiz. Dennoch fügte ich mich in das Unausweichliche und stellte mit der linken Hand einen Notizblock dar, auf den ich mit der rechten Hand zu schreiben vorgab. Dann deutete ich auf die Ledertasche.
»Ich glaube, du hast genug Zettel geschrieben«, murmelte er und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
Ich schlug ihn auf den Arm, nicht besonders kräftig, sondern gerade so fest, dass er mich ansehen musste. Ich deutete auf meine Kehle, schüttelte den Kopf und schrieb erneut wie ein drittklassiger Pantomime auf meinen imaginären Block.
»Du kannst nicht sprechen?«
Ich schüttelte den Kopf. Endlich hatte er kapiert.
»Überhaupt nicht?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Wunderbar!«, sagte er genüsslich, ließ den Motor an und legte den Gang ein.
Als wir endlich bei seinem Haus ankamen, war ich so stinkwütend, dass ich kaum noch still sitzen konnte. Sobald er den Wagen angehalten hatte, löste ich den Gurt und stürmte los, wodurch ich es vor ihm ins Haus schaffte. Ich rannte direkt in diesen traurigen Witz von einem Arbeitszimmer und riss einen Notizblock samt Stift an mich. Er folgte mir auf dem Fuß und hatte schon die Hand ausgestreckt, um mir mein Schreibzeug zu entreißen, als er sah, dass ich keine Beleidigungen, sondern Anweisungen schrieb.
Ruf Mom an!, lautete meine erste Anordnung. Ich unterstrich sie dreimal und setzte vier Ausrufezeichen dahinter.
Er beobachtete mich aus leicht zusammengekniffenen Augen, erkannte aber die Klugheit meines Wunsches. Nach einem knappen Nicken griff er zum Telefon.
Während er mit ihr redete und ihr die schlechte Nachricht überbrachte, dass jemand mein Haus niedergebrannt hatte, gefolgt von der guten Nachricht, dass mir nichts passiert war, notierte ich die nächsten Punkte.
Vor allem und am dringendsten brauchte ich Kleidung, wenigstens etwas, das ich heute tragen konnte und womit ich einkaufen gehen konnte. Ich führte einen BH, Höschen, Jeans, Schuhe und eine Bluse auf meiner Liste auf, dazu brauchte ich einen Fön und eine Haarbürste. Ich gab die Liste an Wyatt weiter, der sie meiner Mom vorlas. Alles Weitere würde sie übernehmen, das war klar.
Als Nächstes stand ein Anruf im Great Bods auf meiner Liste. Vielleicht würde ich heute später kommen.
Wyatt schnaubte und meinte: »Glaubst du?« Aber er rief gehorsam an.
Danach folgte die Versicherungsgesellschaft, wo aber noch niemand zu erreichen war. Weil ich fair sein wollte, hatte ich auch Wyatts Versicherungsgesellschaft aufgeführt. Auch er musste einen Schaden melden. Dann machte ich eine Liste mit Dingen, die ich kaufen musste. Ich war gerade auf der zweiten Seite angekommen, als Wyatt mir das Notizbuch aus der Hand nahm und mich aus meinem Stuhl zog.
»Deine Einkaufstour kannst du auch später organisieren«, erklärte er und drängte mich dabei zur Treppe. »Du solltest dich mal sehen. Wir müssen beide duschen.«
Da konnte ich ihm nicht widersprechen. Allerdings wollte ich keinesfalls mit ihm duschen. Ich riss mich aus seinem Griff, wobei ich fast gestolpert wäre, und streckte ihm die offene Hand entgegen wie ein Verkehrspolizist. Mit vorgeschobenem Kinn deutete ich erst auf ihn, dann auf mich, und schüttelte anschließend deutlich den Kopf.
»Du willst nicht mit mir duschen?«, fragte er unschuldig. Verflucht noch mal, er wusste genau, wie wütend ich war, und nutzte meine Stimmbandentzündung weidlich aus.
Na schön, sollte er doch sehen, wie weit er mit dieser Tour kam. Ich deutete wieder auf uns beide und formte dann einen Kreis aus Zeigefinger und Daumen der linken Hand, den ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand mehrmals schnell durchstieß, wobei ich noch heftiger den Kopf schüttelte als zuvor.
Er grinste. »Du hast keine Ahnung, wie du aussiehst, sonst würdest du nicht glauben, dass ich jetzt an Sex denke. Wir sollten uns erst sauber machen, dann fahren wir in die Zentrale, wo du ein paar Fragen beantworten und eine Aussage machen kannst.« Dann verbesserte er sich: »Eine Aussage aufschreiben kannst.«
Ich hatte so eine Ahnung, wie ich aussehen musste, weil ich ihn nur anzusehen brauchte. Das war aber kein Grund, ihm keine unlauteren Absichten zu unterstellen. Dies war Wyatt, Mr Immergeil. Ich wusste, wie er vorging. Wir hatten mehr als einmal Sex unter der Dusche gehabt.
Im Obergeschoss gab es drei Bäder, aber getreu dem Wyattschen Einrichtungsstil war nur das Bad neben dem großen Schlafzimmer mit Handtüchern ausgestattet. Ich trat vor ihm ein, nahm zwei Handtücher und einen Waschlappen aus dem Wäscheschrank im Bad, dazu das Shampoo und die Spülung aus der Dusche, eines seiner Hemden und einen Morgenmantel aus seinem Kleiderschrank und ging wieder aus dem Zimmer.
»Hey! Wo willst du hin?«
Ich deutete in Richtung des zweiten Badezimmers und ließ ihn alleine duschen. Er sollte in Ruhe über die Unermesslichkeit seiner Sünden nachsinnen können.
Allerdings hatte er recht, was meinen Anblick betraf. Sobald ich sicher hinter der verriegelten Badezimmertür stand, wagte ich einen Blick in den Spiegel und hätte laut aufgestöhnt, wenn ich eine Stimme gehabt hätte. Meine Lider waren rot und geschwollen, ich war mit öligem Ruß überzogen, und meine Nasenlöcher sowie mein Mund waren komplett geschwärzt. Meine Haare waren steif vor Asche und Ruß. Auf gar keinen Fall konnte ein Waschgang mit Shampoo und Seife das beheben – jedenfalls nicht mit dieser Seife.
Ich ging wieder nach unten und blieb dort kurz stehen, um zu überlegen. Spülmittel oder Waschmittel? Nach kurzem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass Spülmittel das Haar weniger angreifen würde, aber dennoch Öl und Fett beseitigte. Ich holte die Flasche unter der Spüle hervor und ging wieder nach oben.
Dreißig Minuten später war, obwohl ich nur lauwarm geduscht und das Wasser während des Einseifens abgedreht hatte, das warme Wasser ausgegangen, aber das überraschte mich wenig, nachdem wir beide gleichzeitig geduscht hatten. Das Spülmittel hatte den Ruß bewundernswert gut entfernt, nur stand mein Haar danach wie Stroh vom Kopf ab, weshalb ich es mit Shampoo und Spülung wieder weich waschen musste, womit ich noch mehr Wasser verbrauchte. Während des Abtrocknens betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Meine Augen waren immer noch rot gerändert, aber Ruß war keiner mehr zu sehen. Meine Hände und Füße hatten immer noch ein paar dunkle Flecken, doch ich wollte mir nicht die Haut wund reiben, nur um sie loszuwerden. Sie konnten warten.
Natürlich hatte ich keine Unterwäsche dabei; während der Nächte, die ich bei Wyatt verbracht hatte, hatte ich nie meine Anziehsachen hiergelassen. Ich zog Wyatts Hemd über, dann seinen Bademantel, und fühlte mich trotzdem lächerlich nackt. Schließlich ging ich, das nasse Haar in ein Handtuch gewickelt, nach unten, um darauf zu warten, dass meine angeforderten Kleider gebracht wurden.
Wyatt war in der Küche; er war frisch rasiert und in Anzug und Krawatte wie immer, wenn er zur Arbeit geht. Er hatte Kaffee aufgesetzt – dafür war ich ihm zutiefst dankbar, auch wenn ich sauer auf ihn war –, stand mit meinem Stapel Notizzettel in der Hand da und sah sie der Reihe nach durch.
Als ich in der Tür erschien, sah er auf. Sein Blick wirkte leicht ungläubig. Dann sah er wieder auf den obersten Zettel. Da ich alle Zettel in großen Blockbuchstaben geschrieben hatte, konnte ich ihn von der Tür aus lesen. Auf diesem Zettel stand:
WYATT IST EIN VOLLIDIOT