18

Wyatt!

Sein Name blitzte in meinem Kopf auf, und ich hielt in meiner Frauenjagd inne, um in meiner Ledertasche nach dem Handy zu wühlen. Diesmal, verflucht noch mal, schnitt ich mich tatsächlich an meiner Behelfswaffe. Grollend steckte ich das Messer mit der Klinge nach unten in eine der Innentaschen – warum war mir das nicht gleich eingefallen? Ach ja, ich war zu beschäftigt gewesen, aus einem brennenden Gebäude zu fliehen – und nahm den blutenden Finger in den Mund. Als ich ihn wieder herauszog, um die Wunde zu untersuchen, war nur eine haarfeine dünne rote Linie auf der Fingerkuppe zu erkennen, es war also nichts weiter passiert.

Ich fand das Handy, dessen kleines Fenster beim Aufklappen ärgerlich aufleuchtete, um mich zu tadeln, dass ich vier eingehende Anrufe verpasst hätte. Wahrscheinlich stammten sie alle von Wyatt, denn entweder hatte ihn jemand angerufen, der die Adresse erkannt hatte, oder er hatte mit dem Funkgerät neben dem Bett geschlafen. Ich wählte seine Handynummer.

»Blair!«, blaffte er mich zur Begrüßung an. »Warum gehst du nicht an dein Scheißhandy?«

»Ich habe es nicht gehört!«, brüllte ich zurück. Meine Stimme war so heiser, dass ich sie selbst nicht erkannte. »Ein brennendes Haus und die vielen gellenden Rauchmelder machen einen Höllenlärm, glaub mir! Außerdem hatte ich alle Hände voll zu tun, aus dem Fenster zu klettern.«

»Gott im Himmel.« Er klang wirklich erschüttert. »Bist du verletzt?«

»Nein, mir ist nichts passiert. Aber meine Wohnung kann ich abschreiben.« Ich blickte über die Straße auf das flammende Inferno, und plötzlich kam mir eine schreckliche Erkenntnis. »O nein! Dein Pick-up!«

»Vergiss den Pick-up, ich bin versichert. Und du bist sicher, dass dir nichts passiert ist?«

»Ganz sicher.« Ich begriff, warum er nachfragte. Nach den jüngsten Ereignissen erwartete er bestimmt, mich krankenhausreif vorzufinden. »Ich glaube, abgesehen davon, dass ich mir den Finger an dem Messer in meiner Tasche aufgeschnitten habe, habe ich überhaupt keine Verletzungen abbekommen.«

»Such einen Polizisten und weich ihm nicht mehr von der Seite«, befahl er. »Ich bin gleich bei dir, in allerspätestens fünf Minuten. Ich wette, das ist kein Unfall; diejenige, die das zu verantworten hat, könnte direkt hinter dir stehen.«

Erschrocken drehte ich mich um und starrte einem älteren Herrn ins Gesicht, der hinter mir gestanden und mit großen Augen das Feuer ebenso gebannt wie geschockt beobachtet hatte. Er zuckte überrascht zurück.

»Dafür habe ich das Messer dabei«, sagte ich wieder in glühendem Zorn. »Wenn ich diese Kuh finde –« Die Augen des Mannes wurden kreisrund, er wich erschrocken einen weiteren Schritt zurück.

»Blair, steck das Messer weg und tu, was ich dir sage!«, bellte er. »Das ist ein Befehl.«

»Du warst nicht in dem brennenden Haus«, begann ich mich hitzig zu verteidigen, doch das Rauschen an meinem Ohr sagte mir, dass er schon aufgelegt hatte.

Und wenn schon; ich wäre der Frau nur zu gern von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten. Ich klappte das Handy zu, ließ es in die Tasche fallen und schlängelte mich wieder durch die Menge, wobei ich auf die Kleidung statt auf die Gesichter achtete. Männer schieden von vornherein aus. Vielleicht war sie nicht mehr hier. Vielleicht war sie sofort weggefahren, nachdem sie ihre Brandbombe oder was auch immer durch mein Fenster geworfen hatte, allerdings hatte ich gelesen, dass Mörder und Brandstifter gern am Ort des Verbrechens herumlungerten und sich unter die Gaffer mischten, um sich an dem Chaos zu weiden, das sie ausgelöst haben.

Jemand berührte mich am Arm, und ich fuhr herum. Neben mir stand Officer DeMarius Washington. Wir waren gemeinsam zur Schule gegangen und kannten uns von klein auf.

»Blair, ist alles in Ordnung?« Das dunkle Gesicht unter der Baseballkappe wirkte angespannt.

»Es geht mir gut.« Ich hatte das Gefühl, das an diesem Abend schon hundertmal gesagt zu haben, obwohl meine Stimme mit jeder Sekunde kratziger wurde.

»Komm mit«, sagte er, nahm mich am Arm und führte mich weg, wobei er sich immer wieder in alle Richtungen umsah. Wyatt musste sich über Funk gemeldet und ihnen erklärt haben, dass ich in Gefahr schwebte. Seufzend gab ich mich geschlagen. Ich konnte mit DeMarius an meiner Seite schlecht nach einer Irren jagen, denn er würde mich mit Sicherheit daran hindern, sie aufzuschlitzen. Cops sind in dieser Hinsicht eigen.

Er führte mich aus der Menge weg zu einem Streifenwagen. Ich versuchte meine Schritte möglichst vorsichtig zu setzen, weil so viel Schutt auf dem Boden lag und ich barfuß war, aber weil er mich am Arm zog, konnte ich nicht immer schnell genug reagieren. Mein linker Fuß landete in etwas Scharfem, und ich stieß einen spitzen Schrei aus; DeMarius fuhr herum, fasste sofort an seine Dienstwaffe und hielt hektisch nach einem Angreifer Ausschau.

»Was ist denn?« Er musste fast brüllen, so laut war es um uns herum.

»Ich bin in etwas getreten.«

Er sah nach unten und stellte erst jetzt fest, dass meine Füße nackt waren. Er sagte: »Ach du Scheiße«, was nicht besonders professionell war, aber wie gesagt, wir kennen einander von klein auf – seit wir sechs Jahre alt waren, genau gesagt. Ich machte einen zaghaften Schritt und stieß wieder einen spitzen Schrei aus, sobald mein Fuß den Boden berührte. Mit seiner festen Hand unter meinem Arm hüpfte ich auf dem anderen Bein und hob den Fuß, um ihn genauer anzusehen. Blöderweise konnte ich nur erkennen, dass meine Fußsohle schwarz war; weiß der Himmel, in was ich getreten war.

»Moment«, sagte DeMarius, dann schleifte er mich halb in seinen Armen zum Streifenwagen. Er öffnete die hintere Tür, setzte mich seitwärts auf dem Sitz ab, sodass meine Beine und Füße nach draußen ragten, ging dann in die Hocke und nahm die Stablampe von seinem Gürtel.

Der Strahl der Taschenlampe offenbarte, dass meine Fußsohle rot und nass war. Eine Glasscherbe ragte direkt hinter dem Ballen aus dem Fleisch. »Ich hole den Verbandskasten«, sagte er. »Bleib sitzen.«

Er kehrte mit einem Verbandskasten und einer Decke zurück, die er um meine Schultern legte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie kalt es war; irgendwie bist du wie entrückt, wenn du um dein Leben kämpfst. Jetzt allerdings begann mein Adrenalinpegel wieder zu sinken, ich begann die frühmorgendliche Kälte zu spüren und bemerkte erstmals, dass ich mit nackten Armen und Schultern herumlief. Ich trug lediglich mein übliches Trägerhemd – natürlich ohne BH – und eine dünne Pyjamahose, die tief auf den Hüften saß und meinen Bauchnabel frei ließ. Nicht eben die Kleidung meiner Wahl, um einem brennenden Gebäude zu entfliehen, aber ich hatte keine Zeit zum Umziehen gehabt; ich hatte kaum noch meine Hochzeitsschuhe retten können.

Die plötzlich die einzigen Schuhe waren, die ich noch besaß.

Ich zog die Decke fester und drehte den Kopf, um auf mein brennendes Heim zu schauen. Während ich darum gekämpft hatte, ihm zu entkommen, hatte ich alles andere ausgeblendet, doch jetzt begriff ich, dass ich alles verloren hatte: meine Kleidung, meine Möbel, mein Porzellan, meine Töpfe und Pfannen, einfach alles.

DeMarius pfiff scharf, ich wandte den Kopf und sah, wie er einen Sanitäter herbeiwinkte. Ich sagte: »Es ist nur eine kleine Scherbe, wahrscheinlich kann ich sie mit den Fingern rausziehen.«

»Bleib sitzen«, mahnte er wieder.

Also kam der Sanitäter zu uns, und DeMarius leuchtete mit seiner Stablampe, während der Sanitäter – es war weder Dwayne noch Dwight – meinen Fuß mit Desinfektionsspray reinigte und anschließend mit einer Pinzette die Scherbe herauszog. Er presste ein Verbandspäckchen auf die Wunde, wickelte etwas von dem Knitterzeugs, das von selbst kleben bleibt, um meinen Fuß und sagte dann: »Das war’s.«

»Danke«, sagte DeMarius, bückte sich und hob meine Füße und Beine in den Wagen; dann machte er die Tür zu.

Eine Minute blieb ich reglos sitzen, schlagartig so erschöpft, dass ich nur in die Polster sinken konnte. Ich war froh, nicht mehr in der Kälte zu sein, aber noch nicht in der Lage, den Brand und seine Konsequenzen in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen.

Ich sah, wie ein kleiner schwarzer Wagen durch die Zufahrt zu unserer Apartmentanlage rollte, anhielt, weil ein uniformierter Polizist die Hand hob, und dann ein vertrautes Gesicht im offenen Seitenfenster erschien. Der Polizist trat beiseite und winkte ihn durch, Wyatt zog in meinem scharfen kleinen Cabrio an ihm vorbei, um in sicherer Entfernung von dem Feuer auf dem Rasen zu parken. Als er seine langen Beine aus dem Wagen schob und aufstand, fasste ich nach dem Türgriff, um auszusteigen und ihm entgegenzulaufen. Plötzlich wollte ich nichts lieber auf der Welt, als seine Arme um mich spüren.

Meine tastenden Finger rutschten auf glattem Kunstleder ab. Kein Türgriff, keine Fensterkurbel, nichts.

O Mann. Ich saß in einem Streifenwagen. Dessen Bestimmung es war, niemanden, der hier hinten saß, wieder hinauszulassen.

Ich klopfte ans Fenster. DeMarius drehte sich zu mir um und sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »Ich will aussteigen!«, rief ich und deutete auf Wyatt. Er drehte sich um, sah in die gleiche Richtung, und ich hätte schwören können, dass seine Miene erleichtert wirkte. Er gab Wyatt ein Zeichen, Wyatt sah ihn – und mich –, und die Liebe meines Lebens nickte knapp mit dem Kopf, bevor sie sich wieder abwandte.

Die Erkenntnis verschlug mir die Sprache. Wyatt hatte sich per Funk gemeldet und ihnen befohlen, mich in einen Streifenwagen zu setzen und festzuhalten. Diese Ratte. Diese gemeine und verschlagene Ratte! Wie konnte er es wagen? Okay, ich war, mit einem Fleischermesser bewaffnet, barfuß durch die Gegend gestapft und hatte nach der Wildsau gesucht, die mich zu rösten versucht hatte; aber das ist eine nur zu verständliche Reaktion, oder? Die andere Wange hinzuhalten ist schön und gut, aber was wird denn erwartet, wenn jemand dein Haus niederbrennt? Halt ihm dein anderes Haus hin? Wohl kaum.

Ich klopfte wieder gegen das Fenster, diesmal energischer. DeMarius drehte sich nicht einmal um. »DeMarius Washington!«, sagte ich so scharf wie möglich, obwohl sich mein Hals wie Sandpapier anfühlte. Falls er mich gehört hatte, ließ er das nicht erkennen, stattdessen entfernte er sich ein paar Schritte vom Streifenwagen und drehte mir den Rücken zu.

Tief getroffen und schäumend vor Wut drückte ich mich in die Polster und zog miesepetrig die Decke um mich fest. Ich spielte mit dem Gedanken, Wyatt mit dem Handy anzurufen und ihm den Marsch zu blasen, aber dazu müsste ich mit ihm sprechen, und das wollte ich auf keinen Fall. Ich würde die ganze nächste Woche nicht mit ihm sprechen.

Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er mich in einen Streifenwagen sperren ließ. Das nenne ich Amtsmissbrauch! War das nicht illegal oder so? Ungesetzliche Einkerkerung oder was weiß ich? Nur Kriminelle sollten in so einem Ding eingesperrt werden, in dem es, wenn ich es recht bedachte, sogar kriminell roch.

Ich rümpfte die Nase und hob automatisch die Füße in die Luft. Weiß der Himmel, was für Bazillen da unten lauerten. Viele Festgenommene mussten sich im Streifenwagen übergeben, oder etwa nicht? Ich war ziemlich sicher, dass ich auch Urin riechen konnte. Und Kot. Er wusste, was für Geschichten sich hinten in einem Streifenwagen abspielten, und trotzdem hatte er mich in einen sperren lassen. Diese Ruchlosigkeit verschlug mir die Sprache. Und ich hatte mit dem Gedanken gespielt, diesen Mann zu heiraten, einen Mann, der bereitwillig die Gesundheit seiner zukünftigen Gemahlin für eine Machtdemonstration aufs Spiel setzte?

Mein Gott, die Liste an Verfehlungen würde gar nicht mehr aufhören.

Weil mir die Liste solches Kopfzerbrechen bereitet hatte, heiterte mich der Gedanke daran, sie wieder aufleben zu lassen, beinahe auf. Aber nur beinahe. Das hier war so finster, dass keine Liste der Welt meine Laune aufhellen konnte.

Ich pochte mit der Faust gegen das Seitenfenster. »De-Marius!«, brüllte – oder krächzte – ich. Meine Stimme war so angeschlagen, dass ich grauenvoll klang. »DeMarius! Ich mach dir einen Donut-Brotpudding, wenn du mich rauslässt!«

Er hatte mich sehr wohl gehört, das erkannte ich daran, wie sich seine Schultern versteiften.

»Für dich ganz allein«, versprach ich so laut ich konnte.

Er wandte kaum den Kopf, trotzdem bemerkte ich den gequälten Blick, den er in meine Richtung schickte.

»Du darfst dir sogar aussuchen, ob du eine Rum-, eine Buttermilch- oder Käsesahneglasur willst.«

Ein paar Sekunden blieb er wie erstarrt stehen, dann seufzte er sichtbar und kam zum Auto zurück. Ja! Glücklich bereitete ich mich darauf vor, mein stinkiges Gefängnis zu verlassen.

DeMarius beugte sich zum Fenster und sah mit traurigen, dunklen Augen zu mir herein. »Blair«, sagte er so laut, dass ich ihn hören konnte, »ich liebe deinen Donut-Brotpudding wirklich, aber ich liebe ihn nicht so sehr, dass ich mich dafür mit dem Lieutenant anlege und degradieren lasse.« Dann drehte er mir den Rücken zu und kehrte auf seinen Posten zurück.

Ach, Mist. Es war einen Versuch wert gewesen, aber ich konnte verstehen, dass sich DeMarius nicht bestechen lassen wollte.

Nachdem mich nichts mehr von jenen Gedanken ablenken konnte, denen ich zu entfliehen versucht hatte, zog ich die Decke unter mir zurecht, setzte die Knie auf die Rückbank und drehte mich um, sodass ich aus dem Rückfenster auf meine Wohnung blicken konnte. Die Feuerwehrmänner gaben sich alle Mühe, das Feuer nicht auf das Nachbarhaus überspringen zu lassen, aber mir war klar, dass meine Nachbarn mindestens mit massiven Rauch- und Wasserschäden rechnen mussten. Wyatts Pick-up und der Wagen daneben waren völlig verkohlt, so glühend war die Hitze gewesen. Genau in diesem Augenblick brach die Hausfront mit einem ohrenbetäubenden Donner in sich zusammen und jagte einen Funkenregen in die Luft, der einem Disneyland-Feuerwerk Ehre gemacht hätte.

Der plötzliche, helle Feuerschein beleuchtete ein Gesicht – ein Frauengesicht mitten in der Menge. Sie trug einen Kapuzenpulli, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und die Kapuze locker über den Kopf gezogen. Erst fiel mir das blassblonde Haar auf, dann sah ich ihr ins Gesicht. Ein nervöses Kribbeln kroch mein Rückgrat hinauf. Etwas an ihr kam mir vage vertraut vor, so als wäre sie mir schon einmal begegnet und ich wüsste nicht mehr wo.

Allerdings starrte sie nicht auf das Brandspektakel. Sondern auf den Streifenwagen, auf mich, und einen Sekundenbruchteil sah ich den nackten Triumph in ihrem Gesicht.

Sie war es.