17
»Außer dir?«, fragte ich zuckersüß.
»Ich bin keine Frau, falls du in letzter Zeit nicht nachgesehen hast.« Er bewies es, indem er mich mit seinem freien Arm einfing, ohne das Telefon aus der anderen Hand zu lassen. Ich rechnete damit, dass er mich küssen würde, und war bereit, sofort zuzubeißen, was ich nicht mehr getan habe, seit Mom mich das erste Mal zum Zahnarzt fuhr, es sei denn, man zählt das eine Mal mit, als ich … auch egal. Offenbar war mir meine Absicht anzusehen, denn er lachte, drückte mich an seinen Körper und piekte mich mit seiner Erektion.
Ich schubste ihn weg und starrte ihn mit aufgerissenem Mund an. »Das glaube ich nicht! Du hast gerade herausgefunden, dass mich jemand verfolgt, und du hast einen Ständer? Das ist pervers!«
Er zuckte mit einer Schulter. »Das macht dein Zickenalarm. Der bewirkt das unweigerlich.«
»Das ist kein Zickenalarm!«, fuhr ich ihn an. »Ich bin berechtigterweise wütend!«
»Lieber ein Zickenalarm, als dass du mich wieder ansiehst, als hätte ich dich geschlagen«, sagte er. »Und jetzt sperr die Lauscher auf.«
Ich war ganz und gar nicht in der Stimmung »die Lauscher aufzusperren«. Stattdessen stakste ich ins Wohnzimmer und setzte mich in einen der Sessel, damit er sich nicht neben mich setzen konnte.
Er legte das Telefon auf dem Couchtisch ab, beugte sich über mich und stützte dabei beide Hände auf die Armlehnen, womit ich praktisch gefangen war. Sein Blick war hart und funkelnd. »Blair, du wirst mir jetzt zuhören. Ich bedauere aufrichtig und zutiefst mein Verhalten. Du bist vieles, aber eindeutig nicht paranoid. Ich hätte auf dich hören und die Puzzleteilchen zusammenfügen sollen.«
Ich presste die Lippen zusammen, weil ich auf die Bemerkung wartete, dass er zu diesem Schluss schon früher gelangt wäre, wenn ich ihm alle Teilchen gegeben hätte. Die Bemerkung kam nicht; im Gegensatz zu mir hält er nichts davon, etwas Offensichtliches nochmals zu betonen.
»Dessen ungeachtet«, fuhr er fort, »besteht die Möglichkeit, dass diese Verrückte deine Wohnung überwacht hat. Woher hätte sie sonst wissen sollen, dass du gestern Abend allein warst? Normalerweise sind wir zusammen.«
»Mir ist kein fremdes Auto aufgefallen, als ich heimkam.«
»Weißt du, welche Autos deine Nachbarn fahren? Ich glaube nicht. Falls sie dir gedroht hätte, würde ich dich nicht alleine lassen, aber das hat sie nicht getan.«
»Dass sie mich überfahren wollte, ist für dich keine Bedrohung?«
»Diese Person fuhr einen beigefarbenen Buick, keinen weißen Chevrolet. Ich will nicht behaupten, dass es sich keinesfalls um dieselbe Person handeln kann, dennoch ist es möglich, dass es sich um einen isolierten Vorfall handelte, darum wird es als solcher behandelt, bis sich herausstellt, dass die Fahrerin des Buicks und des weißen Chevrolets identisch sind. Diese Terroranrufe stellen eine unzulässige Belästigung zweiten Grades dar, und falls ich herausfinde, wer dich angerufen hat, kannst du Anzeige erstatten, aber bis dahin –«
»Eigentlich willst du damit sagen, dass die Sache nicht so wichtig ist, als dass sich die Polizei darauf konzentrieren könnte.«
»Ich konzentriere mich sehr wohl darauf«, sagte er. »Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Ich möchte, dass du deine Sachen packst und zu mir ziehst. Es gibt keinen Grund, warum du terrorisiert und belästigt werden solltest, wenn das nicht sein muss.«
»Ebenso gut könnte ich meinen Telefonanschluss ändern lassen und eine Geheimnummer beantragen«, merkte ich an.
»Wenn wir verheiratet sind, ziehst du sowieso zu mir. Warum nicht gleich?«
Weil ich nicht mehr sicher war, ob wir heiraten würden. Dass er sich wegen der Frau, die mich verfolgte, und wegen meiner vorgeblichen Paranoia entschuldigt hatte, war zwar ein erster Schritt, aber damit waren unsere eigentlichen Probleme nicht gelöst. »Eben darum«, sagte ich. So. Kurz und präzise.
Er richtete sich auf, unglaublich verärgert, wenn man bedenkt, dass ich diejenige war, die verletzt worden war.
Ein paar Atemzüge lang glaubte ich, er würde nicht nachgeben, aber dann entschied er sich gegen einen Streit und wechselte das Thema. »Ich nehme dein Telefon mit in die Kriminaltechnik und lasse einen von den Technikern nachschauen, ob er mit der Aufnahme etwas anfangen kann, ob er vielleicht ein paar Hintergrundgeräusche herauslösen oder die Stimme verstärken kann. Du benutzt währenddessen deinen Zweitapparat im Schlafzimmer. Geh nicht ans Telefon, wenn du nicht meine Nummer siehst. Ach Quatsch, schalte dein Handy ein; ich rufe dich darauf an. Falls jemand läutet, gehst du nicht an die Tür; du rufst sofort die Polizei. Kapiert?«
»Kapiert.«
»Ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, dass du in unregelmäßigen Abständen beobachtet wirst, dass diese Irre ab und zu vorbeifährt, um festzustellen, ob dein Auto vor dem Haus steht und ob mein Pick-up ebenfalls da ist, deshalb nehme ich dein Auto und lasse meinen Pick-up vor deiner Tür stehen.«
»Woher soll sie wissen, dass du mit mir zusammen bist, wenn sie mich nicht rund um die Uhr beschattet?«
»Wenn sie weiß, wo du arbeitest, hat sie auch meinen Pick-up beim Great Bods stehen sehen, wenn du Feierabend gemacht hast. Der Wagen fällt auf. Es ist gut möglich, dass sie uns irgendwann hierher gefolgt ist.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke, der mich nach Luft schnappen ließ. »Die blöde Kuh hat meinen Wagen zerkratzt!«
»Wahrscheinlich.« Sein bereitwilliges Zugeständnis ließ mich vermuten, dass ihm dieser Gedanke nicht neu war.
»Das ist Vandalismus! Ich hoffe, damit wird es mindestens zu einer erstklassigen Belästigung.« Ich war leicht eingeschnappt, weil ich eine zweitklassige Belästigte sein sollte.
»Eine Belästigung ersten Grades«, korrigierte er. »Und ja, das wird es. Falls die Person tatsächlich dein Auto beschädigt hat oder beschädigen ließ.«
»Ja, ja, ich weiß.« Ich verlor allmählich die Geduld. »Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils und dieser ganze Quark. Leck mich doch.«
Er lachte kurz auf und bückte sich, um das Telefon vom Couchtisch zu nehmen. »Dein Gerechtigkeitssinn ist wirklich beeindruckend. Und ja, das würde ich nur zu gern tun.«
Ehrlich gesagt war mir das nicht neu.
Wir tauschten die Schlüssel, das heißt, Wyatt tauschte die Schlüssel; ich gab ihm nur den Zweitschlüssel zu meinem Mercedes, der an keinem Schlüsselring hing, während er den Schlüssel für den Avalanche von seinem Bund lösen musste, weil sein Ersatzschlüssel, selbstverständlich, zu Hause lag. Ich hatte ihn einst darauf hingewiesen, dass es ziemlich unpraktisch war, den Ersatzschlüssel zu Hause liegen zu haben, falls er unterwegs die Schlüssel verlieren sollte, woraufhin er hochnäsig erwidert hatte, er würde seine Schlüssel nicht verlieren.
»Ich habe die Haustür abgeschlossen, als ich hergekommen bin«, sagte er, als er durch die Nebentür unter das Vordach trat. »Vergiss nicht, die Alarmanlage einzuschalten.«
»Bestimmt nicht.«
»Es ist schon spät, und ich habe keine Kleidung zum Wechseln hier, darum werde ich heute Abend nicht wieder herkommen, wenn dir nichts Besorgniserregendes auffällt, aber falls doch, dann ruf erst die Zentrale und danach mich an. Kapiert?«
»Wyatt.«
»Den Notruf rufst du vom Festnetz aus an, damit sie deine Adresse sehen können, und mich über dein Handy.«
»Wyatt!« Mit jedem Wort aus seinem Mund wurde ich wütender.
Er blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«
»Hallo, du Telefonexperte! Ich bin mit einem Hörer am Ohr geboren worden. Und ich weiß, wie der Notruf funktioniert. Ich glaube, ich kann das schaffen.«
»Hallo, Polizeiexpertin«, erwiderte er und imitierte dabei meinen Tonfall. »Ich erkläre den Menschen, was sie zu tun haben. Das gehört zu meinem Job.«
»Na toll«, murmelte ich. »Du verwandelst dich allmählich in mich.«
Er grinste, griff mir in den Nacken und zog mich zu einem kurzen, hungrigen Kuss an seine Brust. Das ging so schnell, dass ich nicht einmal Zeit hatte, ihn zu beißen.
»Drei Punkte noch«, sagte er. »Der Vollständigkeit halber.«
»Was denn?«
»Erstens: Mich macht nicht nur dein Zickenalarm an. Eigentlich macht mich alles an, was du tust.«
Ich schaute nicht auf seinen Schritt, aber es fiel mir verdammt schwer.
»Zweitens: Ich hätte es nicht gedacht, aber ich liebe deine neue Frisur. Du siehst unglaublich süß aus.«
Unwillkürlich fasste ich an meine Haare. Er hatte es doch bemerkt!
»Und drittens …«
Ich wartete so gespannt, dass ich automatisch den Atem anhielt.
»Schuldest du mir noch einen Blowjob.«
Ich überprüfte gewissenhaft jede Tür und jedes Fenster und kontrollierte zweimal, ob die Alarmanlage eingeschaltet war. Dann zog ich die Vorhänge vor der breiten Terrassentür im Essbereich zu. Mein kleiner Garten war von einem mannshohen, blickdichten Holzzaun umgeben, dessen Tor nur von innen geöffnet werden konnte, aber ein mannshoher Holzzaun ist nicht die chinesische Mauer. Der Zaun war dazu gedacht, mich vor Blicken, nicht vor ungebetenen Besuchern abzuschirmen. Ein wesentlicher Unterschied.
Falls ich in ein Haus einbrechen wollte, würde ich es auf der Rückseite versuchen, weil es dort viel unwahrscheinlicher ist, dass ich gesehen würde. Eingedenk dieser Erkenntnis schaltete ich die Terrassenbeleuchtung und die in den Bäumen hängenden Lichtergirlanden ein. Danach schaltete ich die Lampe über dem Seiteneingang und unter dem Carport an. Schließlich die Beleuchtung der Veranda vor dem Haus. Ich kam mir ein bisschen albern vor, weil mein Haus jetzt in Festbeleuchtung erstrahlte wie ein Weihnachtsbaum, aber ich wollte nicht, dass auch nur ein einziger Zugang zu meinem Heim im Dunkeln lag.
Ich war zwar hundemüde, aber viel zu aufgedreht zum Schlafen. Außerdem musste ich noch weiter über Wyatt nachdenken, weil ich mir darüber klar werden musste, welche Punkte genau heute Abend angesprochen worden waren und welche nicht, und gleichzeitig musste ich nach einer Schickse im Chevy Ausschau halten. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, tiefsinnige Probleme zu wälzen und gleichzeitig hyperwachsam zu bleiben. Was mich betrifft, nein.
Ich begnügte mich damit, wach zu bleiben, ohne den Fernseher einzuschalten oder mir die Ohrstöpsel meines iPods in die Gehörgänge zu stopfen, damit ich jedes auffällige Geräusch mitbekam, während ich gleichzeitig einfache Aufgaben erledigte, die keine besondere Konzentration erforderten. Ich legte die Sachen bereit, die ich am nächsten Tag anziehen wollte. Ich holte meine neuen Schuhe aus dem Schrank und probierte sie noch einmal an, und sie sahen genauso genial aus wie am vergangenen Donnerstag, als ich sie gekauft hatte. Ich spazierte ein bisschen darin herum, um mich zu überzeugen, dass sie wirklich bequem waren, denn ich müsste sie stundenlang tragen. Das waren sie. Ich war im Schuhhimmel.
Dabei fiel mir ein, dass diese scharfen blauen Stiefel von Zappos längst angekommen sein müssten, allerdings wurden alle Päckchen für mich unter dem Vordach beim Nebeneingang abgestellt, und dort hatte nichts gestanden. Natürlich wäre es möglich gewesen, dass ein neuer Bote das Päckchen auf den Stufen zur Veranda vor dem Haus abgelegt hatte, aber in diesem Fall hätte Wyatt es ins Haus gebracht. Es war also nichts geliefert worden.
Ich hatte immer noch meine Sommerhandtasche in Gebrauch, und es war Zeit, zu einer festeren Herbsthandtasche zu wechseln, darum ging ich nach unten, holte meine Handtasche nach oben und kippte den Inhalt auf mein Bett. Dabei fiel mir sofort Jazz’ Rechnung aus dem Sticks and Stones ins Auge, die ich noch einmal Punkt für Punkt durchging. Einerseits war ich stinksauer auf Monica Stevens, andererseits musste ich sie bewundern; es gehört Mumm dazu, so unverschämte Preise zu verlangen.
Ich kippte alles in eine nette lederne Umhängetasche und verstaute die Sommerhandtasche im obersten Schrankfach. Dann sah ich auf dem Display des schnurlosen Telefons im Obergeschoss nach, ob weitere Anrufe aus Denver eingegangen waren. Nichts.
Schließlich wollte mir nichts Triviales mehr einfallen, womit ich meine Zeit vergeuden konnte, außerdem war mir zum Gähnen zumute, darum krabbelte ich ins Bett und machte das Licht aus. Sobald es dunkel wurde, war ich natürlich wieder hellwach. Jedes Geräusch kam mir gespenstisch vor, selbst wenn ich wusste, woher es kam.
Also stand ich auf, schaltete das Licht wieder an und ging nach unten in die Küche, wo ich das größte Küchenmesser in meinem Haus holte. Die Waffe beruhigte mich – hey, immer noch besser als nichts –, und ich ging wieder nach oben. Fünf Minuten später war ich wieder unten und wühlte im Schrank unter der Treppe, bis ich meinen großen schwarzen Schirm zutage gefördert hatte, der aussah wie aus Mary Poppins. Normalerweise nehme ich kleinere, buntere Schirme, den großen schwarzen habe ich nur, weil ich der Meinung bin, dass ein ernster Regenschirm zur Grundausstattung gehört. Zugeklappt wirkte er sehr robust; ich vermutete, dass er kräftig genug war, mir eine durchgeknallte psychotische Kuh vom Leib zu halten, während ich ihr gleichzeitig mit dem Küchenmesser zusetzte. Den Regenschirm auf meiner Bettdecke, das Messer neben mir auf dem Nachttisch, fühlte ich mich so gewappnet, wie es überhaupt ging, ohne dass ich mir eine Schusswaffe besorgte.
Ich schaltete die Lichter zum zweiten Mal aus, legte mich hin und setzte mich sofort wieder auf. Das würde nicht funktionieren. Also stand ich wieder auf und schaltete das Licht im Gang und an der Treppe ein. Auf diese Weise hatte ich Licht, ohne dass es mir direkt in die Augen leuchtete, und jeder, der in die Tür trat, würde sich gegen das Licht abzeichnen, ohne dass er mich sehen konnte. Guter Plan.
Während ich allmählich einschlummerte, rätselte ich, warum ich eigentlich keine Pistole besaß. Eine unverheiratete Frau, die allein lebte; da war eine Pistole nur vernünftig. Jede Frau sollte eine Feuerwaffe besitzen.
Eine Stunde später wachte ich auf, wälzte mich auf die Seite und sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. Alles war ruhig. Ich sah wieder aufs Display; es waren keine neuen Anrufe eingegangen.
Ich hätte zu Mom und Dad fahren sollen, dachte ich. Oder zu Siana. Dann hätte ich wenigstens schlafen können. Jetzt würde ich morgen voll auf dem Schlauch stehen.
Ich döste wieder ein und wachte kurz nach drei wieder auf. Keine Irre zeichnete sich gegen das Licht ab. Ich sah nicht aufs Telefon, weil es mir zu diesem Zeitpunkt schnuppe war, ob die irre Kuh angerufen hatte oder nicht. Halb dösend versuchte ich, es mir im Bett gemütlich zu machen. Mein Knie knallte gegen den Regenschirm. Mir war heiß, ich fand es stickig, und das flackernde Licht tötete mir den Nerv.
Was für ein flackerndes Licht? Wenn jetzt auch noch der Strom ausfiel, würde ich endgültig ausflippen.
Meine Augen öffneten sich und blickten in den Flur, wo das Licht ruhig und gleichmäßig brannte, wohingegen das Licht in meinem Schlafzimmer ganz eindeutig flackerte.
Bloß dass ich gar kein Licht im Schlafzimmer hatte brennen lassen.
Ich setzte mich auf und sah zum Fenster. Hinter den zugezogenen Vorhängen tanzten rote Lichter.
Von unten war ein lautes Krachen zu hören, mit dem das Fenster platzte, und im nächsten Moment begann zaghaft der Rauchmelder zu piepen, als wollte er mich warnen, dass er gleich lospfeifen würde. »Scheiße!« Ich sprang aus dem Bett, schnappte den Regenschirm und das Fleischermesser und stürmte in den Flur, nur um sofort zurückzutaumeln, weil mir im selben Moment ein Hitzeschwall voller feuriger Funken entgegenschlug.
»Scheiße!«, fluchte ich noch mal, kehrte ins Schlafzimmer zurück und knallte die Tür vor dem heißen Qualm zu. Verspätet reagierte mein Rauchmelder mit gellenden Pfiffen.
Ich griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Notrufzentrale, aber es tat sich nichts. Das Telefon war schon tot. So viel zu diesem Plan. Ich musste raus hier! Bei lebendigem Leib gegrillt zu werden stand schon gar nicht auf meinem Plan. Ich griff nach meinem Handy, hackte die 9-1-1 ein und rannte gleichzeitig zum Vorderfenster, um hinauszuschauen.
»Notrufzentrale hier. Um was für einen Notfall handelt es sich?«
»Mein Haus brennt!«, schrie ich. Scheiße! Die Flammen leckten über die gesamte Hausfront. »Die Adresse ist drei-eins-sieben Beacon Hills Way!«
Ich rannte zum zweiten Fenster, dem mit Blick auf das Vordach. Auch hier fraßen sich die Flammen bereits durch das abfallende Dach unter dem Fenster. Scheiße!
»Die Feuerwehr ist schon zu Ihrer Adresse unterwegs«, antwortete die Dame in der Zentrale seelenruhig. »Befindet sich außer Ihnen noch jemand im Haus?«
»Nein, ich bin allein, aber es ist ein Häuserzug mit vier Reihenhäusern.« Hitze und Qualm verstärkten sich beängstigend schnell, es brannte vor all meinen Fenstern. Ich konnte nicht nach unten und durch die Terrassentür in den Garten fliehen, weil das, was durch das Fenster geflogen war, allem Anschein nach das gesamte Erdgeschoss in Brand gesetzt hatte, und die Treppe direkt im Wohnzimmer endete.
Das Gästezimmer! Dessen Fenster gingen nach hinten, in den umzäunten Garten.
»Können Sie aus dem Haus gelangen und die Feuerwehr zu dem betroffenen Gebäude lotsen?«, fragte die Frau in der Zentrale.
»Ich bin im ersten Stock, und das gesamte Erdgeschoss steht in Flammen, aber ich versuche es mit dem alten Collegetrick.« Der Qualm ließ mich husten. »Ich haue durchs Fenster ab. Ciao.«
»Bitte bleiben Sie am Telefon«, drängte sie mich.
»Vielleicht haben Sie mich nicht verstanden«, brüllte ich. »Ich klettere aus dem Fenster! Ich kann das nicht, wenn ich gleichzeitig telefoniere! Die Feuerwehr wird meine Wohnung schon finden, sagen Sie den Männern, es ist das Haus, aus dem die Flammen schlagen!«
Damit klappte ich das Handy zu, warf es in meine Tasche und rannte ins Schlafzimmer zurück, wo ich im Bad ein Handtuch nass machte, das ich mir über Nase und Mund wickelte, bevor ich ein zweites nasses Handtuch über meinen Kopf zog.
Alle Experten raten, keinesfalls erst nach der Handtasche oder anderen persönlichen Sachen zu suchen, sondern sofort zu fliehen, weil oft nur wenige Sekunden Zeit bleiben. Ich hörte nicht auf die Experten. Ich nahm nicht nur meine Umhängetasche mit, in der ich meine Geldbörse, mein Handy und Jazz’ Rechnungen aus dem Sticks and Stones aufbewahrte – die Rechnungen kamen mir schrecklich wichtig vor –, ich nahm auch das Fleischermesser mit, das ich ebenfalls in die Tasche warf. Falls ich lebend aus dieser Todesfalle entkam und da draußen eine irre Kuh feixend an einem weißen Chevrolet Malibu lehnen sah, würde ich ihr das Herz aus den Rippen schneiden, so viel stand fest.
Ich schaffte es bis zur Schlafzimmertür, machte dann nochmals kehrt und rannte zu meinem Kleiderschrank. Dort griff ich nach meinen Hochzeitsschuhen, die ich ebenfalls in die Umhängetasche stopfte. Danach riss ich barfuß die Schlafzimmertür auf. Die Flammen schienen mit einem ohrenbetäubenden Wuusch aus dem Wohnzimmer die Treppe heraufzurasen. Funken tanzten in der Luft, und schwarzer Qualm schob sich durch den Flur. Zum Glück wusste ich genau, wo ich stand und wo sich die Tür zum Gästezimmer befand. Auf Händen und Knien, die geflochtenen Henkel der Tasche über die Schulter geschlungen, krabbelte ich, so schnell ich konnte, durch den Gang. Der Qualm brannte mir heiß wie das Fegefeuer in den Augen, bis ich sie zukneifen musste. Ich konnte sowieso nicht sehen, wohin ich krabbelte. Ich ertastete den Türrahmen mit den Fingern und ging dann auf die Knie, um nach dem Türknauf zu suchen. Als ich ihn gefunden hatte, drehte ich ihn, warf mich gegen die Tür und flog mehr oder weniger in die relativ saubere Luft des Gästezimmers.
Relativ sauber. Der Qualm waberte sofort durch die offene Tür, die ich hastig und hustend zudrückte, weil sich der fiese schwarze Rauch um die Ränder meines nassen Handtuchs herum und durch den Stoff hindurch schlich. Immerhin war der Qualm nicht so dicht, dass ich das hellere Rechteck des Fensters nicht gesehen hätte. Ich krabbelte hin, zerrte die Vorhänge zur Seite, drehte am Riegel – »Verflucht!«, krächzte ich, als der eine nicht nachgeben wollte. »Verdammte Scheiße!« Ich würde bestimmt nicht zulassen, dass diese dumme Kuh mich bei lebendigem Leibe grillte.
Also zog ich den Henkel meiner Tasche von der Schulter, fasste hinein und schnitt mich wie durch ein Wunder nicht an der rasierklingenscharfen Klinge des Fleischermessers. Ich packte das Messer am Griff und begann damit auf den störrischen Riegel einzudreschen.
Unten hörte ich Glas in der Hitze platzen. Ich schlug fester zu, und endlich gab der Riegel nach. Noch zwei Schläge, dann war er offen.
Um Luft ringend und hustend schob ich das Fenster auf und robbte über den Fenstersims, immer bemüht, unterhalb der Rauchwolke zu bleiben, die aus dem Raum quoll. Ich brauchte frische Luft. Meine Lungen brannten höllisch, trotz des nassen Handtuchs, das ich über Mund und Nase geschlungen hatte.
Ich glaubte Sirenen zu hören, aber vielleicht war es nur mein Rauchmelder, der immer noch reckenhaft schrillte. Oder der Rauchmelder des Nachbarn war angesprungen. Vielleicht war die Feuerwehr schon da. Von der Rückseite des Hauses aus konnte ich das nicht sehen, und ich würde nicht abwarten, ob sich jemand zeigte.
Ich fegte die Tagesdecke von dem Gästehimmelbett und zog die Laken so schnell ab, dass ich die Matratze gleich mit vom Bett zerrte. So schnell ich konnte, knotete ich einen Zipfel des Lakens an das Bein des Bettes und das andere Ende an das zweite Laken, wodurch ich ein Lakenseil knüpfte, das vom Bett aus durch das Fenster an der Außenwand hinabreichte.
Ich schaute nicht erst nach, ob mein Seil lang genug war, sondern schleuderte kurzerhand meine Tasche aus dem Fenster, bevor ich das Laken packte und hinauskletterte.
Komisch, wie der Körper funktioniert. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, wie ich aus dem Fenster klettern würde, mein Körper wusste nach den unzähligen Turnübungen von selbst, was er zu tun hatte. Ich streckte die Füße über den Sims, hielt mich am Fensterrahmen fest und drehte mich dann mit dem Gesicht zur Wand, damit ich mich mit den Füßen an der Außenmauer abstützen konnte.
Das Laken fest um die Unterarme gewickelt, begann ich mich Handbreit um Handbreit abzuseilen, während ich mit den Füßen über die Wand »marschierte«, bis Laken und Wand plötzlich zu Ende waren. Einen Augenblick hing ich in panischer Angst in der Luft; links von mir schlugen schon die Flammen aus dem Küchenfenster. Das Gästezimmer ragte über das Erdgeschoss hinaus, der Boden des Zimmers bildete das Dach meiner kleinen Terrasse. Ich hatte keine Wand mehr, an der ich abwärts wandern konnte, und unter mir waren zweieinhalb Meter Luft.
Scheiß drauf. An der Spitze einer Cheerleader-Pyramide steht man noch höher. Und ich bin, wie ich gern und oft betone, stolze einhundertsechzig Zentimeter groß. Wenn ich die Arme über den Kopf strecke, bringe ich es wahrscheinlich sogar auf zwei Meter plus minus ein paar Zentimeter. Damit fehlten mir nur noch knappe fünfzig Zentimeter bis zum Boden, oder?
Nicht dass ich an meinem Laken gebaumelt und derartige Berechnungen angestellt hätte. Ich schaute nur kurz nach unten, überlegte: »Wie tief ist es wohl?« und ließ die Beine nach unten baumeln. Als beide Arme durchgestreckt waren, ließ ich los.
Ich glaube, es war deutlich mehr als ein halber Meter.
Trotzdem landete ich mit angewinkelten Knien, so wie ich es trainiert hatte, ließ den Aufprall von dem kühlen, feuchten Gras abfedern, und rollte mich ab.
Wenig später war ich wieder auf den Knien und starrte auf das Spektakel, das sich mir bot. Funken schossen in die Luft wie bei einem obszönen Feuerwerk. Das Feuer brüllte, als wäre es lebendig. Ich hatte noch nie einen Brand gehört, ich war noch nie so nahe an einem brennenden Haus gewesen, aber ein brennendes Gebäude ist … wie ein eigenständiges Wesen, etwas mit einer ganz neuen Identität. Jetzt, wo es in Flammen stand, schien mein Haus zum Leben zu erwachen, und es wollte nicht kampflos sterben.
Ich saß immer noch in der Falle, in meinem winzigen Gärtchen eingeschlossen, während die Flammen, die mein Haus verschlangen, über mich hinwegschlugen und die rauchgeschwärzten Hauswände einzuknicken drohten. Immer noch auf allen vieren krabbelte ich über den Rasen, bis ich die dunkle Tasche gefunden hatte, diesmal schlang ich den Henkel diagonal über Hals und Schulter, ehe ich zum Gartentor rannte. Ich rammte den schweren Riegel zurück, warf mich gegen das Tor – und nichts geschah. Das Tor rührte sich nicht.
»Verfluchte Scheiße noch mal!«, schrie ich heiser und so aufgebracht, dass ich spürte, wie ich aus der Haut zu fahren drohte. Pfeif auf das Messer; wenn ich diese total durchgeknallte mordende Irre in die Finger bekam, brauchte ich keine Waffe mehr, dann würde ich ihr mit den Zähnen die Luftröhre aus der Kehle reißen. Und dann würde ich ihr die Haare anstecken und Marshmallows in den Flammen rösten.
Nein, doch nicht. Das war zu eklig. Keine Marshmallows.
Nachdem ich aus einem Fenster im ersten Stock geklettert war, würde mich ein Zwei-Meter-Zaun bestimmt nicht aufhalten. Ich fasste nach oben, konnte die Finger um den oberen Rand des Zaunes krallen und mich so weit nach oben ziehen, dass ich das rechte Bein über den Zaun haken konnte, bevor ich mich ganz nach oben schob, das linke Bein über den Zaun schwang und mich auf der anderen Seite fallen ließ.
Überall blinkten rote Lichter. Männer in gelben Einsatzmänteln rannten hin und her, rollten dicke Schläuche aus und schlossen sie an Hydranten und Pumpen an. Aus allen Häusern kamen Nachbarn im Schlafanzug oder in Hosen, die sie hastig über den Pyjama gezogen hatten, auf die Straße gerannt, wo der Widerschein des Feuers und das Licht der Einsatzfahrzeuge auf ihren Gesichtern tanzte. Ein Feuerwehrmann packte mich und brüllte etwas, ohne dass ich ein Wort verstanden hätte, weil auch die Feuerwehrautos einen Mordslärm veranstalteten, zusätzlich zu dem Tosen des Feuers und dem Heulen der Sirenen weiterer Einsatzfahrzeuge, die auf uns zugerast kamen.
Ich vermutete, dass er mich gefragt hatte, ob ich verletzt sei, darum brüllte ich: »Mir ist nichts passiert!« Dann brüllte ich: »Das da ist mein Haus!« und deutete darauf.
Er hob mich mit einem Arm vom Boden, rannte mit mir weg vom Brandherd, weg von den Funkenregen und dem Schauer an Glassplittern, weg von den wuchtigen Wasserströmen und durchhängenden Stromleitungen, und ließ mich erst wieder los, als wir sicher auf der anderen Straßenseite angekommen waren.
Ich hatte immer noch das nasse Handtuch um Mund und Nase geschlungen; das zweite, das ich über meinen Kopf gelegt hatte, hatte ich während des Sprungs oder beim Abrollen verloren. Jetzt riss ich das Handtuch von meinem Gesicht, sank auf die Knie und schöpfte, gleichzeitig hustend und würgend, so tief wie möglich frische Luft. Als das Husten halbwegs nachgelassen hatte und ich wieder aufstehen konnte, begann ich mich durch die Menge zu schieben, bisweilen rücksichtslos, soweit möglich jedoch mit Geschick, und immer auf der Suche nach einer durchgeknallten Kuh, die, ganz eindeutig, keinen Pyjama, sondern Straßenkleidung tragen würde.