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Wyatt fuhr bis zur Polizeistation hinter mir her, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass mir jemand von seinem Haus aus folgte. Niemand war uns dorthin gefolgt, nachdem wir von meinem ausgebrannten Apartment abgefahren waren, außerdem stand sein Name nicht im Telefonbuch, weshalb er nicht so einfach ausfindig zu machen war wie ich. Ich hatte noch nie eine Geheimnummer beantragt, hatte noch nie versucht, mich vor jemandem zu verstecken. Natürlich ist es für jemanden, der weiß, wo du arbeitest, kein Problem, dich aufzuspüren.

Was mich zu der Frage führte, ob die ganze Geschichte irgendwie mit dem Great Bods verknüpft war. Die Frau, die mir unter den Schaulustigen aufgefallen war, war mir schon einmal begegnet. Sie war mir nicht völlig fremd gewesen; irgendwas hatte sie mit mir zu tun. Nur konnte ich ihr Gesicht nicht zuordnen, ihr keinen Namen geben. Natürlich kenne ich nicht alle Mitglieder im Great Bods persönlich, aber ich kenne sehr wohl alle Gesichter, weshalb das Great Bods, nachdem ich genauer darüber nachdachte, als Verbindung ausschied. Wenn dir jemand vertraut vorkommt und du nicht bestimmen kannst, woher du ihn kennst, dann bist du ihm oder ihr höchstwahrscheinlich außerhalb der gewohnten Umgebung begegnet. Als ich das Gesicht im Great Bods zu platzieren versuchte, löste das kein Aha-Erlebnis aus, und das bedeutete, dass ich der Frau nicht in der Arbeit begegnet war.

Das wiederum bedeutete, dass sie vermutlich irgendwo arbeitete, wo sie mir regelmäßig begegnete: im Supermarkt, dem Einkaufszentrum, der Bank, vielleicht sogar bei einem Lieferdienst wie UPS oder FedEx. Aber sosehr ich mich bemühte sie einzuordnen, sie passte nirgendwohin.

Als wir aus dem Lift in den geschäftigen, lauten Einsatzraum traten, drehten sich alle Köpfe in unsere Richtung, und auf den meisten Gesichtern erblühte ein breites Grinsen. Na gut, alle, die mit Handschellen an ihre Stühle gefesselt waren, grinsten nicht, ebenso wenig die Menschen, die gerade Anzeige erstatteten oder sich beschwerten, aber die Bullen grinsten.

Ich war ein wenig indigniert. Was war so komisch daran, dass mein Heim abgefackelt worden war?

Ich sah zu Wyatt auf, um festzustellen, ob er die grinsenden Gesichter bemerkt hatte. Sein Blick war starr auf seine Bürotür gerichtet, an der ein Zettel hing. Er blieb erst stehen, als wir nahe genug waren, um ihn lesen zu können: Wyatt ist ein Vollidiot, und die Hochzeit ist abgesagt! Es war keiner von meinen Zetteln, aber er setzte sich eindeutig aus zwei meiner Botschaften zusammen.

Ich wirbelte herum und schoss ein paar tödliche Blicke in den Raum ab. Ein paar Cops zuckten sichtbar, weil sie sich das Lachen nur mit größter Mühe verkneifen konnten. Sie machten sich tatsächlich über meine Botschaften lustig. »Nicht einer von euch«, verkündete ich laut, »hat mich aus diesem dreckigen Streifenwagen befreit!« Genauer gesagt versuchte ich das zu verkünden, nur hatte ich vergessen, dass ich nicht sprechen konnte. Kein Laut kam über meine Lippen. Mit offenem Mund stumm dazustehen, war demütigend.

Dafür nahm ich mir fest vor, eine Beschwerdeliste einzureichen, auf der ich sie allesamt erwähnen würde.

Wyatt entfernte seelenruhig den Zettel an der Tür. »Die Hochzeit findet statt«, sagte er, und kurz brandete Applaus auf, weil seine Kollegen, größtenteils Männer, selbstverständlich annahmen, er hätte mich mit Sex gefügig gemacht. Ich sah zornig zu ihm auf, aber er öffnete nur lächelnd die Tür und führte mich hinein.

»Ich brauche das Video vom Tatort«, sagte er über die Schulter hinweg, bevor er die Tür schloss.

Sein Büro war nicht besonders groß und mit Aktenschränken und Aktenstapeln zugestellt. Der Anblick der Aktenstapel munterte mich ein wenig auf. Wenn er mich hier drin ein paar Minuten allein ließ, konnte ich meine heimliche Lektüre fortsetzen.

Mürrisch ließ ich mich auf einen der Besucherstühle fallen, während er sich in dem großen Ledersessel hinter dem Schreibtisch niederließ. »Bewundernswert«, sagte er mit einem Zucken um die Lippen, als müsste er sich ein Lächeln verkneifen.

Ich hob beide Hände zu einer ungeduldigen »Was denn?« -Geste.

»Das erzähle ich dir später«, sagte er und warf den Zettel auf den Tisch. »Im Moment haben wir zu viel zu tun.«

Das war kein Witz. Erst musste ich eine Aussage machen, was gestern Abend oder genauer gesagt heute Morgen passiert war. Wyatt nahm meine Aussage nicht auf, sondern Detective Forester, genau betrachtet war es auch keine Aussage, sondern natürlich ein Aufschrieb.

Der Detective hatte fleißig gearbeitet, aber die Brandpolizei hatte das Feuer ohnehin sofort als Brandstiftung eingestuft; offenbar war nicht einmal versucht worden, das zu vertuschen. Der Feuerwehrhund hatte bei mehreren Benzinspuren an der Front und der rechten Seite meines Hauses angeschlagen. Sobald das Feuer entzündet wurde, hatten die Flammen beide Haustüren unpassierbar gemacht. Damit blieben nur noch die Terrassentüren in meiner Essecke als Fluchtweg, aber der Weg nach unten war gleich darauf blockiert worden, indem eine Benzinbombe durch das Wohnzimmerfenster ins Haus geworfen wurde, die dafür gesorgt hatte, dass sich die Flammen durch das ganze Wohnzimmer ausbreiteten. Falls ich es mit viel Glück in den Garten hinter dem Haus geschafft hätte, wäre ich dem Plan der Brandstifterin zufolge ebenfalls eingeschlossen gewesen. Das Feuer hatte so geschwind auf die Bradford-Birnbäume in dem winzigen Garten übergegriffen, dass ich dort gestorben wäre, falls ich nicht mehr die Kraft aufgebracht hätte, über den Zaun zu klettern.

Höchstwahrscheinlich hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass ich aus dem Obergeschoss entkommen würde. Rauch steigt nach oben, und es bleibt wirklich wenig Zeit, aus einem brennenden Gebäude zu entkommen, bevor der Rauch dich lähmt. Ich weiß das, weil ich einen Dokumentarfilm über Hausbrände gesehen habe, in dem gezeigt wurde, wie schnell sie sich ausbreiten. Indem ich Mund und Nase mit einem feuchten Handtuch abgedeckt hatte, hatte ich mir ein paar kostbare Minuten erkauft. Das zweite nasse Handtuch über Kopf und Schultern hatte mich davor bewahrt, von Funken und heißer Asche verbrannt zu werden. Der Rest, das Klettern aus dem ersten Stock und das Übersteigen des Zauns, hatte eine Menge mit Wut und Verzweiflung sowie mit durchtrainierten Oberkörpermuskeln zu tun.

Wieder einmal hatte sich gezeigt, dass es nie schaden kann, Cheerleader gewesen zu sein.

Um die Abläufe zeitlich einordnen zu können, glichen sie meine Aussage mit meinem aufgezeichneten Notruf ab – wodurch jeder Bulle in der Zentrale zu hören bekam, wie ich der Frau in der Notrufzentrale erklärte, dass die Feuerwehr mein Haus leicht daran erkennen könne, dass Flammen aus allen Fenstern schlügen. Aus einem mir unerfindlichen Grund mussten sie diese Passage mehrmals abspielen.

Dann musste ich mir das Video der Schaulustigen am Tatort ansehen.

Ich saß mit den Detectives Forester und MacInnes bei Wyatt im Büro und betrachtete das Video auf einem winzigen Monitor. Wyatt hatte die Anordnung, die Schaulustigen aufzuzeichnen, erteilt, noch bevor er mit mir gesprochen hatte, darum bekam ich zu sehen, wie ich als unvorstellbar schrecklicher Anblick durch die Menge wanderte, während die Kamera ganz langsam von rechts nach links und wieder zurück schwenkte. Nur die Blondine mit dem Kapuzenpulli sah ich nicht.

Ich war unendlich enttäuscht. Ich schrieb: Ich kann sie nicht sehen. Sie ist nicht dabei.

»Schau weiter hin«, sagte Wyatt. »Wir haben die Menge mehrmals gefilmt.«

Und das taten wir auch, Bild für Bild. Schließlich erfasste die Kamera einen Teil von ihr, weil sie das Gesicht abgewandt hatte – die hochgeschlagene Kapuze, eine blonde Locke, die aus ihrem Versteck unter der Jacke entkommen war und auf dem Schlüsselbein lag, und vielleicht die rechte Hälfte ihres Kinns. Größtenteils war sie hinter einem Mann in einem roten Hemd verborgen, weshalb es auch nichts brachte, den Ausschnitt zu vergrößern, um ein besseres Bild zu bekommen.

Ich ging der Reihe nach meine Erinnerungen durch und rief mir dabei den Augenblick ins Gedächtnis, in dem ich bemerkt hatte, wie sie mich mit dieser offenen Bösartigkeit anstarrte, und daran erkannt hatte, dass sie meine Peinigerin war. Ja, da war derselbe Mann neben ihr gestanden; ich konnte mich an das rote Hemd erinnern. Diese Aufnahme war Sekunden davor oder danach gemacht worden, vermutlich danach, weil sie das Gesicht abgewandt hatte, als wollte sie gehen. MacInnes meinte, wahrscheinlich habe sie die Kamera bemerkt.

»Der Mann im roten Hemd ist ein Anhaltspunkt«, sagte Wyatt. »Vielleicht ist ihm etwas an ihr aufgefallen, vielleicht kennt er sie sogar.«

»Wir sind schon dabei, die Nachbarschaft zu erfassen«, sagte Forester. »Ich werde das Bild an die Kollegen weitergeben. Irgendwer wird ihn erkennen.«

Ich hatte den ganzen Morgen über heiße Flüssigkeiten getrunken, um meine Kehle zu beruhigen. Wyatt hatte sogar einen Teebeutel aufgetrieben und mir eine Tasse Tee gemacht; ich weiß nicht, woher es kommt, aber Tee scheint bei einer wunden Kehle besser zu wirken als Kaffee. Ein paar Aspirin linderten die Schmerzen zusätzlich, aber ich bekam trotzdem keinen Ton heraus. Wyatt sagte etwas davon, dass er mit mir in die Notaufnahme fahren könnte, um mich untersuchen zu lassen, aber dagegen legte ich mit einem quer über das Blatt geschriebenen Nein mein Veto ein.

Danach wurde es zäh. Während einer Arbeitspause sprach Wyatt erst mit seinem, dann mit meinem Versicherungsmakler. Außerdem rief er Mom an und erstattete ihr Bericht, womit er definitiv bei ihr punktete. Danach sprach er mit seiner Mutter und versicherte ihr, dass mir nichts passiert war und dass ihm nichts passiert war.

Gegen Mittag begann mich die ganze Geschichte zu ermüden. Ich begann zu ermüden, Punkt. Ich musste einkaufen gehen und meine Garderobe neu zusammenstellen, aber zum ersten Mal in meinem Leben gelang es mir nicht, Begeisterung fürs Shopping zu entwickeln. Ich hatte meine alten Sachen gern gehabt; ich wollte sie zurück. Ich wollte meine Bücher, meine Musik, mein Geschirr wiederhaben. Ich wollte meine Sachen zurück. Erst jetzt begann ich zu begreifen, dass meine Sachen wahrhaftig und unwiderruflich verloren waren.

Jenni, die Gute, hatte mir zwei Sets Unterwäsche und zwei Tops gekauft; folglich musste ich nicht unbedingt heute einkaufen gehen; ich konnte auch bis zum nächsten Tag warten. Vielleicht könnte ich bis dahin schon wieder sprechen. Heute wollte ich nur ganz normale Dinge unternehmen. Am liebsten wollte ich arbeiten gehen.

Die Polizei hatte meine Aussage aufgenommen; ich hatte das Video angesehen und ihnen die durchgeknallte Kuh gezeigt, auch wenn uns das nicht weitergebracht hatte. Es war nicht einzusehen, warum ich meine Zeit hier noch länger totschlagen sollte.

Also schrieb ich Wyatt einen Zettel, dass ich ins Great Bods fahren würde.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah mich grimmig und lieutenantmäßig an. »Ich halte das für keine gute Idee.«

Ich schrieb den nächsten Zettel. Ich halte das für eine Superidee. Sie weiß, dass sie mich dort finden kann.

»Genau darum würde ich deinen Wagen entschieden lieber von einer Polizistin durch die Stadt fahren lassen.«

Dann setz das für morgen an. Ich habe keine Lust mehr. Ich will mein Leben zurück. Im Moment kann ich nichts Normales tun, außer arbeiten zu gehen, darum gehe ich arbeiten.

»Blair.« Er beugte sich vor und sah mich eindringlich mit seinen grünen Augen an. »Sie hat erst vor ein paar Stunden versucht, dich umzubringen. Wieso glaubst du, dass sie das nicht auch im Great Bods probieren könnte?«

O Gott, daran hatte ich gar nicht gedacht. Das Great Bods war tatsächlich in Gefahr, auch wenn sie vielleicht glaubte, ich würde dort nur arbeiten, und nicht wusste, dass ich das Studio besitze. Ehrlich, ich melde mich am Telefon nicht mit: »Hallo, ich bin Blair, die Besitzerin des Great Bods.« Höchstwahrscheinlich wussten die meisten Kunden nicht, dass das Studio mir gehörte, weil das keine Information ist, die überall publik gemacht wird. Es war ebenso gut möglich, dass ich nur die Geschäftsführerin war, denn diesen Job übte ich natürlich aus.

Das Einzige, was mich von den übrigen Angestellten unterschied, war die Tatsache, dass ich einen Mercedes fuhr, aber auch darin war ich nicht einzigartig, denn Keir, einer meiner Fitnesstrainer, fährt einen Porsche.

Ich runzelte die Stirn und überlegte. Vielleicht konnte ich vorübergehend nicht klar denken – Mann, wie das wohl kam? –, aber ich fand, dass ich Lynn nicht schon wieder hängen lassen konnte. Sie hatte ein Leben außerhalb des Studios, und auch wenn sie mich exzellent vertreten hatte, konnte ich sie nicht so skrupellos ausnutzen, sonst würde ich am Ende noch eine hoch qualifizierte Assistentin verlieren.

Ich schrieb das alles auf, um es Wyatt so gut wie möglich zu erklären. Allmählich ging mir dieses ewige Geschreibsel auf die Nerven,

Zu meiner Überraschung las er erst meine Erklärung und studierte danach schweigend mein Gesicht. Ich weiß nicht, was er darin sah, vielleicht las er darin, dass ich unbedingt arbeiten gehen musste, oder aber er schloss sich nach reiflicher Überlegung meiner Einschätzung an, dass das Risiko für das Great Bods überschaubar war. »Na gut«, sagte er schließlich. »Aber ich werde dir jemanden mitgeben. Du bleibst hier sitzen, dann spreche ich mit Chief Gray.«

Er hätte mich reinlegen können, das war alles schon vorgekommen, aber ich blieb trotzdem sitzen. Als er zurückkam, nahm er sein Jackett von dem Haken an der Rückseite der Tür und sagte: »Gehen wir.«

Ich griff nach meiner Ledertasche, stand auf und stellte die Frage allein mit meiner Miene.

»Ich bin bis auf Weiteres dein Leibwächter«, erklärte er.

Damit konnte ich leben.