5
Wyatt verabschiedete sich im Morgengrauen, weil er nach Hause fahren, duschen und frische Sachen anziehen wollte, bevor er wieder in die Arbeit fuhr, wo er, wie ich vermutete, unzulässig viel Zeit darauf verwenden würde, die Bänder aus den Überwachungskameras am Parkplatz durchzuschauen, um das Kennzeichen des Buick zu ermitteln. Er hatte noch etwas Schlaf abbekommen, obwohl es schwierig war, mehr als nur kurz einzunicken, wenn alle paar Minuten eine Krankenschwester hereingeschneit kam, um sich zu überzeugen, dass ich nicht an einer Gehirnblutung zugrunde ging. Das tat ich nicht – Gott sei Dank –, aber zum Schlafen kam ich auch nicht.
Mom regte sich gegen sieben, verließ das Zimmer, kehrte mit einem Becher Kaffee zurück, der himmlisch roch – den sie mir aber nicht anbot –, und hängte sich sofort an ihr Handy. Ich machte es ihr nach und rief Lynn im Great Bods an, um ihr von meinem letzten Missgeschick zu erzählen und um sicherzugehen, dass sie jemanden fand, der während der nächsten Tage für mich einspringen würde. So wie mein Schädel hämmerte, rechnete ich mir aus, dass es mindestens so lange dauern würde, bis ich wieder einsatzfähig war.
Reden und gleichzeitig fremde Gespräche belauschen ist eine Kunst, die der Übung bedarf. Mom schafft das mühelos. Als Teenager war ich – notgedrungen – darin so gut gewesen wie sie. Ich war immer noch gut, aber inzwischen außer Übung. Aus dem, was ich mithören konnte, schloss ich, dass an diesem Tag der Kaufvertrag für ein von Mom vermitteltes Haus unterzeichnet werden sollte und dass sie einen Besichtigungstermin für ein weiteres Haus vereinbart hatte, den sie aber auf später an diesem Tag verschob. Außerdem rief sie Siana an, aber entweder sprach sie Siana nicht mit Namen an, oder ich hatte das total überhört, weil ich völlig überrascht war, als meine Schwester um halb neun in mein Krankenzimmer trat, in eine super geschnittene Jeans sowie ein hautenges kleines Top mit paillettenbesetzten Trägern gekleidet und mit einer Lederjacke über den Schultern. Weil das so ganz und gar nicht dem entsprach, was sie in der Kanzlei tragen würde, musste sie sich freigenommen haben, so viel war mir klar. Siana ist Anwältin – wie ich schon erwähnt habe –, eine kleine Juniorpartnerin in einer Kanzlei voller dicker Fische, aber ihrer Haltung nach definitiv eine Seniorpartnerin. Ich glaubte nicht, dass sie noch lange bei der Firma bleiben würde, denn allein war sie eindeutig besser dran. Siana war dazu geboren, eine eigene Firma und rauschenden Erfolg zu haben. Wer würde sie nicht einstellen? Sie war brillant, mit Mördergrübchen gesegnet und absolut skrupellos, lauter Eigenschaften, die man sich bei einem Anwalt nur wünschen kann.
»Warum gehst du nicht in die Arbeit?«, fragte ich.
»Ich nehme Moms Platz ein, damit sie den Kaufvertrag abschließen kann.« Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem Wyatt die Nacht verbracht hatte, und biss in einen Apfel.
Ich konnte den Blick nicht von dem Apfel wenden. Das Krankenhaus hatte mir nichts zu essen angeboten, nur etwas zerstoßenes Eis, weil man mit meiner Fütterung offensichtlich warten wollte, bis irgendwo irgendein Arzt beschließen würde, dass ich keine Notfall-Hirnoperation brauchte. Und weil sich besagter Arzt oder besagte Ärztin alle Zeit der Welt ließ, drohte ich hier zu verhungern. Hey! Überrascht checkte ich mich kurz durch. Ja, die Übelkeit hatte sich gelegt. Vielleicht waren Eier, Speck und Toast noch ein bisschen übertrieben, aber einen Joghurt und eine Banane hätte ich definitiv vertragen.
»Hör auf, meinen Apfel anzustarren«, sagte Siana seelenruhig. »Den bekommst du nicht. Apfelneid ist der Gipfel der Niedertracht.«
Automatisch begann ich, mich zu rechtfertigen. »Das ist kein Apfelneid. Ehrlich gesagt dachte ich eher in Richtung Banane. Und du hättest dir nicht freinehmen müssen, wahrscheinlich werde ich noch heute Vormittag entlassen. Ich war nur über Nacht zur Beobachtung hier.«
»Unter dem Begriff ›Über Nacht‹ verstehen Ärzte etwas völlig anderes als normale Menschen«, erklärte Mom, womit sie den gesamten medizinischen Berufsstand in eine andere Realität verbannte. »Jedenfalls wirst du nicht von dem Arzt entlassen, der dich aufgenommen hat. Erst muss ein anderer Arzt im Lauf des Tages deine Laborergebnisse anschauen, dann muss er im Lauf des Tages dich anschauen, und schon bist du mit viel Glück am Spätnachmittag zu Hause.«
Wahrscheinlich hatte sie recht. Das war das erste Mal, dass ich wirklich in einem Krankenhaus übernachtet hatte, aber ich durfte schon mehrmals die Notaufnahme besuchen und dabei feststellen, dass der Begriff Zeit dort definitiv eine andere Bedeutung hat. »Ein paar Minuten« bedeuteten unausweichlich ein paar Stunden, was nicht so schlimm war, wenn man sich darauf eingestellt hatte, aber wer erwartete, tatsächlich »in ein paar Minuten« behandelt zu werden, war dazu verdammt, sich schwarz zu ärgern.
»Wie dem auch sei, ich brauche keinen Babysitter.« Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, das anzumerken, wiewohl wir allesamt wussten, dass ich nicht allein bleiben wollte, dass sie mich nicht allein lassen würden und dass jede Diskussion fruchtlos war. Obwohl ich fruchtlose Diskussionen bisweilen genieße.
»Damit wirst du leben müssen.« Siana grinste mich an und ließ ihre Grübchen aufblinken. »Ich fand sowieso, dass die Kanzlei einen Tag lang auf mich verzichten sollte. Die halten mich schon für selbstverständlich, und das gefällt mir gar nicht.« Sie biss ein letztes Mal in ihren Apfel und warf das Gehäuse in den Mülleimer. »Das Handy habe ich auch ausgeschaltet.« Sie schien sehr mit sich zufrieden zu sein, was wiederum hieß, dass die Menschen, die sie für selbstverständlich hielten, wahrscheinlich mehrmals versuchen würden, sie anzurufen.
»Ich muss los.« Mom beugte sich über mein Bett und küsste mich auf die Stirn. Sie sah toll aus, obwohl sie die Nacht über kaum geschlafen hatte und sich Sorgen um mich machte. »Aber ich schaue später noch einmal vorbei. Mal sehen, du brauchst etwas zum Anziehen, bevor du entlassen wirst. Ich mache einen kurzen Abstecher zu deiner Wohnung und suche ein paar Sachen zusammen, bevor ich heimfahre, und die bringe ich dir mittags mit. Du wirst ganz bestimmt nicht vor dem Mittagessen entlassen. Außerdem bin ich einem Hochzeitstortenkonditor auf der Spur, ich habe einen Spalierbogen ausfindig gemacht, und am späten Nachmittag gehe ich zu Roberta rüber« – Roberta ist Wyatts Mom – »um mit ihr einen Notfallplan auszuarbeiten, falls es regnet. Wir haben alles unter Kontrolle, du brauchst dir also nicht den Kopf zu zerbrechen.«
»Und wie ich mir den Kopf zerbreche; das ist schließlich der Job der Braut. Auf gar keinen Fall wird mein Asphaltkuss bis dahin verheilt sein.« Selbst wenn der Schorf abgefallen war – Schorf, wie bezaubernd – würden doch rosa leuchtende Male auf meiner Haut zurückbleiben.
»Du wirst sowieso etwas Langärmliges oder eine Art Überwurf brauchen, schließlich ist es bis dahin Oktober.« Normalerweise ist der Oktober in North Carolina wunderschön, trotzdem kann es schlagartig kühl werden. Sie musterte mit zusammengekniffenen Augen mein Gesicht. »Ich glaube, dein Gesicht ist bis dahin wieder verheilt, es ist nicht schlimm verkratzt. Und wenn nicht, haben wir immer noch Make-up.«
Ich hatte bislang noch in keinen Spiegel geblickt, um den Schaden in Augenschein zu nehmen, darum fragte ich: »Was ist mit meinen Haaren? Wie sehen sie aus?«
»Im Moment ziemlich übel«, antwortete Siana. »Ich habe Shampoo und einen Fön mitgebracht.«
Ich vergöttere sie. Sie versteht es, Prioritäten zu setzen.
Mom musterte prüfend die Stiche an meinem Haaransatz – dem ehemaligen Haaransatz – sowie den rasierten Streifen. »Das lässt sich korrigieren«, erklärte sie dann. »Das rasierte Stück ist nicht besonders groß und lässt sich mit einer anderen Frisur leicht kaschieren.«
Na also! Endlich sah ich Licht am Ende des Tunnels.
Eine Krankenschwester in meinem Alter kam in den Raum geschwebt, frisch und knusprig in einem rosa Kittel, der super zu ihrem Teint passte. Sie war eine hübsche Frau – sehr hübsch sogar, sie hatte ein fast klassisches Antlitz –, aber ihr Haar war katastrophal gefärbt. Wenn es um Haarfärbungen geht, ist »katastrophal« mehr oder weniger ein Synonym für »selbst gemacht«. Ihr Haar war zu einem eigenartig glanzlosen Mausbraun getönt, weshalb ich mich fragte, was ihre natürliche Haarfarbe sein mochte, denn welche Frau färbt sich die Haare schon mausbraun? Meine eigene Haarkrise machte mich äußerst sensibel für alle Haarprobleme, nicht dass ich je unsensibel dafür gewesen wäre, aber in diesem Moment war meine Aufmerksamkeit extrem geschärft. Als sie lächelnd an mein Bett trat und mit kühlen Fingern meinen Puls nahm, studierte ich ihre Brauen und Wimpern. Das brachte mich nicht weiter – ihre Brauen waren braun, und ihre extralangen Wimpern mit Mascara getränkt. Vielleicht war sie früh ergraut. Ich beneidete sie um die Wimpern und beglückwünschte sie zu dem Mascara, bis mir in den Kopf schoss, dass ich mit meinen Mascarawimpern inzwischen wahrscheinlich aussah wie ein Waschbär.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie, die Finger auf meinem Puls und den Blick auf ihre Armbanduhr geheftet. Sie war definitiv multitaskingfähig, immerhin konnte sie gleichzeitig zählen und sprechen.
»Besser. Außerdem bin ich hungrig.«
»Das ist ein gutes Zeichen.« Sie sah lächelnd zu mir auf. »Ich werde sehen, ob ich Ihnen etwas zu essen besorgen kann.«
Ihre Augen waren ein tolles Gemisch aus Grün und Braun, und mir kam in den Sinn, dass sie bestimmt heiß aussah, wenn sie sich abends für den Club aufdonnerte. Sie wirkte ruhig und gesammelt, aber ich entdeckte in ihr einen kontrolliert glühenden Funken, der in mir den Verdacht weckte, dass alle alleinstehenden Ärzte und ein paar verheiratete dazu scharf auf sie waren.
»Haben Sie eine Ahnung, wann der Doktor Visite macht?«, fragte ich.
Sie schüttelte mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. »Das hängt ganz davon ab, ob es einen Notfall zu versorgen gibt. Sagen Sie bloß, Sie sind mit unserer Gastfreundschaft nicht zufrieden?«
»Sie meinen abgesehen davon, dass man mir nichts zu essen gibt? Und dass ich jedes Mal aufgeweckt werde, sobald ich einnicke, weil sich jemand überzeugen möchte, dass ich nicht bewusstlos bin? Und dass man mir achtundzwanzig Tage vor meiner Hochzeit den Schädel rasiert? Stimmt, abgesehen davon habe ich mich königlich amüsiert.«
Sie musste laut lachen. »Achtundzwanzig Tage, wie? Ich bin in den letzten zwei Monaten vor meiner Hochzeit völlig durchgedreht. Kein guter Zeitpunkt für einen Unfall!«
Mom hatte die Schlüssel aus meiner Handtasche geborgen und winkte mir auf dem Weg nach draußen zu. Ich winkte zurück und nahm dann das Gespräch wieder auf. »Es könnte schlimmer sein. Schließlich bin ich nicht richtig verletzt, ich habe nur ein paar Abschürfungen und eine kleine Schnittwunde abbekommen.«
»Offenbar glauben die Ärzte, dass Sie nicht ganz so gut davongekommen sind, sonst wären Sie nicht hier.« Das hörte sich beinahe nach einem leichten Tadel an, aber wahrscheinlich haben Krankenschwestern dauernd mit unwilligen Patienten zu tun – wobei ich ganz im Ernst nicht unwillig war; ich fühlte mich nur gehetzt. Mir blieben noch achtundzwanzig Tage, und die Uhr tickte unerbittlich.
Nachdem sie bestimmt meine Akte gelesen hatte, hielt ich es nicht für notwendig, ihr zu erklären, dass es nicht als ernsthafte Verletzung zählt, wenn man zur Beobachtung über Nacht dabehalten wird. Vielleicht wollte sie mir nur etwas Angst einjagen, damit ich sie oder die anderen Schwestern nicht damit nervte, wann ich endlich entlassen würde. Ich war sowieso nicht in Nervstimmung; wenn ich nicht so viel zu tun gehabt hätte, hätte ich gut und gerne in einem Krankenhaus liegen und mir von anderen Leuten das Essen ans Bett bringen lassen können. Die Übelkeit hatte sich gelegt, nur das Pochen in meinem Kopf nicht. Ich musste zweimal auf die Toilette gehen, und das Aufstehen war kein Spaß, aber beide Male hatte es nicht so schlimm geschmerzt wie befürchtet.
Die Schwester – wahrscheinlich hatte sie ein Namensschild an ihrer Tasche, aber sie beugte sich so weit über mein Bett, dass ich es nicht sehen konnte – schlug die Decke zurück, um meine Schürfwunden und blauen Flecken zu besichtigen, während sie mir gleichzeitig tausend Fragen nach meiner Hochzeit stellte. Wo sie stattfinden würde, was ich anziehen würde, solche Sachen.
»Sie wird bei Wyatts Mutter stattfinden«, erzählte ich glücklich und froh, von meinen Kopfschmerzen abgelenkt zu werden. »In ihrem Garten. Ihre Chrysanthemen sind einfach toll, obwohl ich Chrysanthemen eigentlich nicht mag, weil sie meist mit einem Sarg daherkommen. Wenn es regnet, was im Oktober nicht allzu wahrscheinlich ist, feiern wir eben im Haus.«
»Mögen Sie sie?« Sie hörte sich ein bisschen verkniffen an, was darauf hindeutete, dass sie selbst Probleme mit ihrer Schwiegermutter hatte. So was ist wirklich übel; Schwiegerprobleme können einer Ehe schwer zusetzen. Schon mit Jasons Mutter war ich gut ausgekommen, aber Wyatts Mutter vergötterte ich. Sie versorgte mich mit Insiderinformationen und stand in Mann-Frau-Fragen im Allgemeinen auf meiner Seite.
»Sie ist toll. Sie hat mich damals mit Wyatt bekannt gemacht, und heute klopft sie sich auf die Schulter, weil sie meint, sie hätte von Anfang an gewusst, dass wir ein wunderbares Paar abgeben.«
»Muss nett sein, eine Schwiegermutter zu haben, die Sie mag«, murmelte sie.
Ich wollte schon erwidern, dass möglicherweise ihre miserable Haartönung das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter getrübt hatte, aber dann hielt ich mich zurück. Vielleicht konnte sie sich keine professionelle Haarfärbung leisten, obwohl Krankenschwestern allgemein ganz ordentlich verdienen. Am Ende hatte sie drei oder vier Kinder zu ernähren und einzukleiden, und vielleicht war ihr Mann behindert oder ein Totalversager. Irgendeinen Grund musste es für diese Haare geben.
Sie schälte den Verband über der größten Schürfwunde auf meinem linken Schenkel ab, und das Abschälen tat weh. Ich japste und ballte vor Schmerz die Fäuste.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie und besah sich die Wunde. »Die macht sich ganz gut. Was haben Sie angestellt, sind Sie Motorrad gefahren?«
Ich schaffte es, meine Kiefermuskeln halbwegs zu lockern. »Nein, so eine dumme Kuh wollte mich gestern Abend auf dem Parkplatz beim Einkaufszentrum überfahren.«
Sie sah auf und zog die Brauen hoch. »Wissen Sie, wer es war?«
»Nein, aber wahrscheinlich schaut Wyatt gerade jetzt die Bänder aus den Überwachungskameras beim Einkaufszentrum durch, um das Nummernschild zu ermitteln.« Falls er die Bänder ohne einen Durchsuchungsbefehl bekam, denn ich bezweifelte, dass ein Richter einen Durchsuchungsbefehl ausstellen würde; dafür war der Vorfall nicht schwerwiegend genug.
Sie nickte und deckte die Wunde wieder ab. »Muss praktisch sein, einen Polizisten als Freund zu haben.«
»Manchmal.« Wenn er mich nicht gerade zwang, aufs Revier zu gehen, obwohl ich das nicht wollte, oder mich über meine Kreditkartenabbuchungen aufspürte. Er schießt manchmal ein wenig übers Ziel hinaus, um das zu bekommen, was er will. Natürlich beschwerte ich mich nicht, denn damals wollte er ausschließlich mich – und er hat mich auch bekommen. Selbst mit den Höllenkopfschmerzen lief mir bei der Erinnerung ein wohliger Schauer über den Rücken. Sein Testosteronausstoß erreichte fast toxische Ausmaße, aber die Nebenwirkungen … ach; die Nebenwirkungen waren phantastisch.
Die Schwester notierte etwas auf einem kleinen Notizblock, den sie aus einer ihrer Taschen gezogen hatte, sagte dann: »Sie machen sich gut. Ich werde sehen, ob ich etwas zu essen für Sie finden kann«, und ging aus dem Zimmer.
Siana hatte die ganze Zeit über keinen Ton gesagt, was an sich nicht ungewöhnlich war; sie schätzt die Menschen lieber erst ein, bevor sie sich auf ein Gespräch mit ihnen einlässt. Doch kaum war die Tür ins Schloss gefallen, da platzte es aus ihr heraus: »Was ist das für eine Frisur?«
Siana hätte eine Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof führen können (was ihr – bis jetzt – noch nicht vergönnt gewesen war), und trotzdem die Frisuren aller Anwesenden im Gerichtssaal gespeichert, die der Geschworenen eingeschlossen, was ein ziemlich beängstigender Gedanke ist, wenn man den einen oder anderen darunter ansieht. Jenni und ich sind da genauso, wir alle haben dieses Gen direkt von Mom, die es wieder von ihrer Mutter hat. Ich habe mich oft gefragt, wie Grammys Mutter wohl war. Als ich das Wyatt erzählte, hatte er geschaudert. Er hat Grammy auf ihrer Geburtstagsfeier vor einem Monat kennen gelernt; ich glaube, sie machte auf ihn entweder tiefen Eindruck oder ihm eine Höllenangst, aber er stand eisern seinen Mann, und nach der Party gab Dad ihm einen doppelten Whiskey aus.
Ich weiß nicht, was an Grammy schlimm sein soll, außer dass sie Mom im Quadrat ist, was, okay, schon ein wenig beängstigend ist. Trotzdem will ich genauso werden wie sie, wenn ich alt bin. Ich will mich weiterhin elegant kleiden, einen scharfen Wagen fahren und von meinen Kindern und Enkelkindern die gebührende Aufmerksamkeit einfordern. Und wenn ich dann richtig alt bin, tausche ich meinen scharfen Wagen gegen den größten, den ich nur finden kann, und dann kauere ich mich in den Fahrersitz, bis nur noch mein kleiner blauer Kopf über das Lenkrad ragt, und fahre im Schneckentempo durch die Stadt, wo ich jedem, der mich anhupt, den Stinkefinger zeige. Tagträume wie dieser bewirken, dass ich mich aufs Alter freue.
Falls ich so lange lebe, heißt das. Anscheinend hatten einige meiner Mitmenschen anderes mit mir vor. Wirklich ärgerlich.
Ich wartete, aber kein Frühstück erschien wie von Zauberhand. Siana und ich plauderten. Nach einer Weile kam eine weitere Schwester ins Zimmer und nahm meinen Puls und Blutdruck. Ich fragte nach meinem Frühstück. Nach einem Blick in meine Akte sagte sie: »Ich werde sehen, was ich tun kann«, und verschwand.
Siana und ich rechneten damit, dass es noch länger dauern würde, darum beschlossen wir, meine Haare zu waschen. Gott sei Dank müssen vernähte Wunden heutzutage nicht mehr trocken gehalten werden, denn ich wäre auf keinen Fall eine volle Woche lang mit einer Irokesenfrisur aus getrocknetem Blut und Straßenschotter durch die Stadt gelaufen. Die Naht war nicht das Problem, sondern die Gehirnerschütterung. Solange ich mich ganz langsam bewegte, hielt sich das Stechen in meinem Kopf in Grenzen. Allerdings wollte ich nicht nur meine Haare waschen, ich wollte mich waschen. Siana schnappte sich eine Schwester, die uns erklärte, natürlich könnten die Verbände beim Duschen abgenommen werden, woraufhin ich vorsichtig, aber glückselig duschte und meine Haare shampoonierte. Außerdem ließ ich die Verbände unter der Dusche abfallen, statt sie vorher abzuziehen.
Danach fönte Siana meine Haare; sie verzichtete dabei auf ein richtiges Styling, aber das war egal, weil mein Haar glatt ist. Sauber zu sein genügte, damit ich mich besser fühlte.
Immer noch kein Essen.
Allmählich keimte in mir der Verdacht, dass das Krankenhauspersonal in jene anderen Pläne bezüglich meiner Zukunft eingeweiht war und mich verhungern lassen wollte. Siana war schon kurz davor, in die Cafeteria hinunterzugehen und etwas für mich zu holen, als endlich ein Tablett ins Zimmer gebracht wurde. Der Kaffee war lauwarm, aber ich nahm ihn trotzdem dankend an und hatte ihn halb ausgetrunken, bevor ich auch nur den Metalldeckel von meinem Teller gehoben hatte. Rührei-Ersatz, kalter Toast und schlapper Speck starrten mir entgegen. Siana und ich sahen uns an, dann zuckte ich mit den Achseln. »Ich bin am Verhungern. Das geht schon.« Aber ich nahm mir fest vor, der Verwaltung die hier gebotenen kulinarischen Köstlichkeiten zu schildern. Kranke Menschen brauchen Speisen, die sie wenigstens in Versuchung führen zu essen.
Nachdem ich etwa die Hälfte des Tellers leer gegessen hatte, siegten meine rebellierenden Geschmacksknospen über das schwächer werdende Gegrummel meines Magens, und ich deckte den Teller wieder ab, damit ich die Eier nicht länger zu sehen brauchte. Kalte Eier sind wirklich widerwärtig. Meine Kopfschmerzen hatten weiter nachgelassen, woraus ich schloss, dass sie zum Teil auf Koffeinentzug zurückzuführen gewesen waren.
Kaum fühlte ich mich besser, schon begann ich mich darüber zu ärgern, dass ich hier meine Zeit vertat. Bisher wollte mich noch kein Arzt sehen, dabei war es auf der Wanduhr schon halb elf.
»Vielleicht ist gar kein Arzt für mich zuständig«, sinnierte ich. »Vielleicht haben sie mich einfach vergessen.«
»Vielleicht solltest du einen Hausarzt herholen«, merkte Siana an.
»Hast du einen?«
Sie sah mich verlegen an. »Zählt ein Frauenarzt auch?«
»Warum nicht? Eine Frauenärztin habe ich selbst.« Hey, irgendwer muss schließlich das Rezept für die Pille ausstellen. »Vielleicht sollte ich sie anrufen.«
Im Krankenhaus zu liegen ist sterbenslangweilig. Siana schaltete den Fernseher ein, und wir suchten nach einem halbwegs interessanten Programm. Wir sind beide nie zu dieser Tageszeit zu Hause, darum wissen wir nicht, was tagsüber geboten wird. Es sagt einiges, dass Der Preis ist heiß das Beste war, was wir finden konnten, aber immerhin konnten wir uns damit die Zeit vertreiben. Siana und ich hätten alle Kandidaten um Längen geschlagen, aber hey, Shopping ist eine Gabe.
Ein wenig störte der Lärm vom Flur her, weil die Dame, die das Frühstückstablett gebracht hatte, die Tür halb offen gelassen hatte, aber wir ließen sie offen stehen, weil es im Zimmer dank des Luftzugs nicht ganz so stickig war. Der knallblaue Himmel vor dem Fenster verriet mir, dass der Sommer sich noch nicht ganz verabschiedet hatte, obwohl der Kalender darauf beharrte, dass es offiziell schon Herbst war. Ich wollte in die Sonne hinaus. Ich wollte hinaus und nach meinem Hochzeitskleid suchen. Wo blieb der Arzt, welcher Arzt auch immer?
Der Preis ist heiß war zu Ende. Ich sagte zu Siana: »Wie war dein Date gestern Abend?«
»Mäßig.«
Ich sah sie mitleidig an, und sie seufzte. »Er ist nett, aber … es funkt nicht. Ich will Funken. Ich will ein ganzes Feuerwerk. Ich will das haben, was du mit Wyatt hast, einen Kerl, der mich ansieht, als könnte er mich auf der Stelle vernaschen, und ich will vernascht werden.«
Sie brauchte nur die Worte Wyatt und vernaschen in einen Satz packen, und schon wurde mir warm und wuschig. Kein Zweifel, er hatte mich programmiert.
»Ich musste lange auf Wyatt warten. Ich habe sogar zwei Jahre lang gewartet, nachdem er mich in die Wüste geschickt hatte.« Dass er mich nach unserem dritten Date in die Wüste geschickt hatte, weil er der Auffassung war, dass ich zu anstrengend wäre, tat immer noch weh.
»Du hast nicht wirklich gewartet«, berichtigte sie lachend. »Du hast dich mit anderen Männern getroffen. Und zwar mit vielen Männern, wenn ich mich recht erinnere.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine kurze Bewegung am Türrahmen. Die Bewegung erstarb. Niemand trat ins Zimmer.
»Aber ich habe mit keinem davon geschlafen«, merkte ich an. »Für mich ist das warten.«
Wyatt trat immer noch nicht ins Zimmer. Er blieb hinter der Tür stehen und lauschte. Ich wusste, dass er es war; ich hatte mir ausgerechnet, dass er mich gegen Mittag besuchen würde, falls er sich freinehmen konnte. Der Mann steht absolut auf Detektivspielchen; er ist so durch und durch Polizist, dass er einfach lauschen musste, um festzustellen, ob wir etwas Interessantes erzählen würden.
Ich fing Sianas Blick auf, kniff die Augen halb zusammen und nickte zur Tür hin. Sie grinste kurz und sagte dann: »Du hast doch immer erzählt, dass du auf sein SPS aus warst.«
Das hatte ich zwar nicht, aber der Ehrenkodex für die Südstaatenlady verlangt, dass Lauscher männlichen Geschlechts ordentlich was um die Ohren bekommen sollen. Sianas schlagfertige Reaktion begeisterte mich. »O ja, sein SPS hat mich von Anfang an interessiert. Ich wollte unbedingt Zugriff darauf bekommen.«
»Es ist bestimmt beeindruckend.«
»Allerdings, aber die Reaktionsgeschwindigkeit ist genauso wichtig. Was nützt dir ein großes SPS, wenn es nicht das tut, was du willst – das ist wie bei einer Bank.«
Sie unterdrückte ein amüsiertes Schnauben. »Ich bin auch auf der Suche nach einem geeigneten SPS. Ich sehe keinen Grund, warum ich mich nicht in einen Mann verlieben sollte, der eines vorzuweisen hat und meinen Ansprüchen gerecht wird.«
»Ich auch nicht. Ich – komm rein«, unterbrach ich mich, als ich Wyatts knappes, verspätetes Türklopfen hörte. Er schob die Tür ganz auf und trat mit fester, verschlossener Miene ein. Vor Zorn glühten seine grünen Augen noch heller, und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Wir waren noch nicht wirklich lange zusammen, aber es war von Anfang an nicht leicht gewesen, ihn einzuseifen.
Siana erhob sich lächelnd. »Super«, sagte ich. »Ich muss mir sowieso die Beine vertreten. Ich gehe hinunter in die Cafeteria und esse einen Happen. Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Nein, ich brauche nichts«, knurrte er. »Danke.« Das Danke kam deutlich verspätet. Wyatt war wütend, und er war fest entschlossen, die Wahrheit über sein SPS aus mir herauszupressen, sobald Siana uns allein gelassen hatte. Anders als die meisten Männer hatte er keine Angst vor einem Streit, und dass ich eine Gehirnerschütterung auskurieren musste, bedeutete nicht, dass er Gnade walten lassen würde.
Er drückte die Tür hinter ihr ins Schloss, ohne das ironische Augenzwinkern zu bemerken, das sie mir zuwarf, als sie durch den Spalt schlüpfte. Dann stapfte er an mein Bett, ganz der aggressive, bedrohliche Macker. Seine dunklen Brauen waren finster zusammengezogen, und sein wütender Blick versuchte mich festzunageln.
»Also gut«, sagte er betont ruhig. »Und jetzt erzählst du mir haarklein, inwiefern du nur an mir interessiert warst, um Zugriff auf mein SPS zu bekommen.«
In meinem Kopf tanzten die Worte Wyatt und vernaschen, und ich merkte, wie meine Wangen rosa anliefen. Ja, das klappte wirklich jedes Mal. War es nicht toll, das zu wissen? Ich wand mich vor Lust. »Ach, das hast du gehört?« Ich wandte den Blick ab und versuchte nach besten Kräften, schuldbewusst zu wirken.
»Allerdings.« Sein Ton war grimmig. Er packte mich am Kinn, doch meinen Kopf zog er nicht herum, weil er zwar wütend war, aber darüber nicht vergessen hatte, dass ich eine Gehirnerschütterung hatte, allerdings gab er mir deutlich zu verstehen, dass ich ihn ansehen sollte. Ich stellte mich seinem wütenden Blick und sah ihn mit großen Augen an.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich nur an deinem SPS interessiert war.«
»Aber du wolltest Zugriff darauf haben.«
Ich klimperte mit den Wimpern, weil ich den Eindruck hatte, dass es Zeit war, ihm einen kleinen Tipp zu geben. »Und zwar nach Lust und Laune. Ich dachte, das hättest du gewusst.«
»Woher hätte ich das wissen sollen?« Seine Stimme wurde dunkel wie eine Gewitterwolke kurz vor dem Platzregen. »Ich –« Dann verstummte er, registrierte die klimpernden Wimpern und den großen Unschuldsblick und sah mich mit schmalen Augen an. »Was zum Teufel ist ein SPS?«
Ich riss die Augen noch weiter auf und genoss den Augenblick. »Dein Spermienproduktionssystem.«