37

Auf dem gesamten Flug von Heathrow nach Bangkok dachte ich über Alan Gladwell nach und darüber, warum er dorthin flog. Entweder stimmte die Geschichte über die riesige Warensendung von seinem neuen Lieferanten aus Nahost, oder er hatte herausbekommen, dass ich in Hua Hin lebte. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass Gladwells Thailandreise nichts mit mir zu tun hatte. Wenn es um Sarah ging, wollte ich es nicht darauf ankommen lassen und plante strategisch präzise wie im Krieg.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gladwell allein zu uns fahren wollte, aber wer würde es mit meinen Gurkhas aufnehmen können? Vielleicht wusste er nichts von ihnen, aber wenn er herausgefunden hatte, wo wir lebten, dann hatte er gewiss auch das Gelände ausspioniert – aber hatten meine Gurkhas seine Späher nicht entdeckt? Immer wieder kreisten dieselben Gedanken in meinem Kopf, und nicht einer ergab Sinn. Als mich Pratin am Flughafen abholte, war ich erleichtert.

Wahrscheinlich hätte ich Alan Gladwell schon in dem Moment, in dem seine Füße thailändischen Boden berührten, umbringen lassen können, aber aus verschiedenen Gründen war das keine gute Idee. Wenn britische Touristen im Ausland ermordet werden, führt das immer zu sehr unschönen Schlagzeilen, und die Behörden in Thailand geraten unter Ermittlungsdruck. Wenn ich einen weiteren Gladwell umbrachte, blieben außerdem immer noch zwei Brüder übrig, die sich an die Spitze setzen und den Krieg gegen mich in Alans Märtyrernamen fortsetzen würden. Das alles erklärte ich Pratin, aber ich war nicht so sicher, dass er es verstand. Ich gab ihm sehr klare Anweisungen, er versprach, sich sofort ans Telefon zu hängen. Herrgott noch mal, dachte ich, hoffentlich macht er das jetzt richtig. Wenn er’s versaut, sitzen wir allesamt in der Scheiße.

 

Ich konnte Gladwell schlecht selbst durch Bangkok verfolgen, also überließ ich Pratin diese Aufgabe und hoffte inständig, dass er so gut war, wie er behauptet hatte. Ich bat ihn, mich anzurufen, falls er etwas Verwertbares herausfinden sollte. Vielleicht konnten wir ein Foto von Gladwell mit einem der berüchtigsten Lieferanten des »Goldenen Dreiecks« bekommen. Allein das würde die Behörden ganz gehörig anpissen. Ich bezweifelte allerdings, dass Gladwell blöd genug war, sich hier auf dem Markt mit einem der Hauptakteure blicken zu lassen. Die thailändische Justiz geht bekanntermaßen hart gegen Dealer vor, und die Zustände in den Gefängnissen sind entsetzlich. Niemand möchte gern lebenslänglich in einem thailändischen Knast sitzen, und wenn die hier lebenslänglich sagen, meinen sie’s auch so.

Nachdem ich Pratin auf den aktuellen Stand gebracht und auf den Fall angesetzt hatte, fuhr ich zu Sarah nach Hua Hin. Jagrit kam mir am Tor entgegen und beruhigte mich. Niemand hatte das Gelände beobachtet, das sei unmöglich, erklärte er mir, und ich glaubte ihm. Sarah wusste nichts von der Gefahr. Ich spazierte ins Haus, und sie begrüßte mich in ziemlich zerzaustem Zustand.

»Alles klar bei dir?«, fragte ich und bemühte mich, nicht zu lachen.

»Nein.« Sie spuckte das Wort aus, als bereitete es ihr große Mühe, überhaupt zu sprechen.

»Hab den ganzen Tag gekotzt.«

»Schön.«

»Joanne ist schuld.«

»Hab ich mir schon gedacht.« Joanne war noch geblieben, als Sarahs Freunde schon wieder abgereist waren.

»Gestern war unser letzter gemeinsamer Abend, also haben wir flambierte Sambucas getrunken. Viele.« Bei der Erinnerung daran zuckte sie zusammen.

»Kein Wunder.«

»Tut mir leid.« Sie war käsig im Gesicht, und ihr Haar hing ihr strähnig in die Augen. »Kein toller Anblick, wenn man nach Hause kommt, was?«

»Du siehst phantastisch aus, Schatz.« Und ich schlang die Arme um sie.

»Danke, dass du mich anlügst.«

Ich lachte. »Hast du die ganze Zeit gesoffen, als ich weg war?«

»Mehr oder weniger.«

»Super«, sagte ich, »so hab ich mir das vorgestellt.« Ich zog sie näher an mich heran und küsste sie auf die Stirn. »Dann hast du also Spaß gehabt?«

»Das war genial!« Sie sah zu mir auf. »Danke, dass du das organisiert hast.«

Sofort verdrängte ich jeden Gedanken daran, Sarah zu erzählen, dass jemand auf Danny geschossen hatte. Warum sollte ich sie jetzt damit belasten, da sie zum ersten Mal seit Monaten wieder glücklich war? Natürlich würde ich es ihr irgendwann erzählen müssen, aber jetzt noch nicht.

»War natürlich reiner Egoismus meinerseits«, behauptete ich. »Ich dachte, ich brauchte mal ein paar Fleißsternchen.«

»Oh ja, allerdings«, versicherte sie mir, »und du hast dir auch einige verdient, nur …«

»Nur was?«

»Auf deine Belohnung wirst du noch ein bisschen warten müssen.« Sie sah mich entschuldigend an. »Ich glaub nämlich, ich muss schon wieder kotzen.«

»Na wunderbar.«

Sie riss sich ohne ein weiteres Wort los und lief eilig davon.

Einen Augenblick später hörte ich ein unverkennbares Würgen aus dem Badezimmer unten.

Ich schaltete den Fernseher ein, um Fußball zu gucken. Bis Pratin von sich hören ließ, konnte ich nichts tun.

 

Pratin verfolgte Gladwell den ganzen Tag, hielt Abstand und war sicher, dass er nicht gesehen wurde. Er blieb an ihm dran, als er in einem Vier-Sterne-Hotel eincheckte, und wartete, bis er, geduscht und umgezogen, zu Fuß loszog. Er folgte ihm, während Alan an Geschäften vorbei und über Märkte schlenderte, beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, als er allein in einem Restaurant aß und möglicherweise auf eine Kontaktperson wartete. Blake hatte Pratin eingebleut, er solle darauf achten, ob sich Gladwell mit jemandem traf, möglicherweise jemandem aus dem Drogengeschäft. Pratin versicherte Blake, dass er jeden einzelnen Drogenbaron der Hauptstadt kannte und auch sämtliche ihrer Lieutenants. Hätte einer von ihnen Gladwell beim Essen Gesellschaft geleistet, hätte Pratin ihn problemlos identifiziert.

Aber es ließ sich niemand blicken. Gladwell aß und bezahlte die Rechnung. Danach spazierte er in die anrüchigeren Viertel der Stadt, überging aber die Angebote der Prostituierten, sowohl der männlichen wie auch der weiblichen. Pratin folgte ihm eine Stunde lang, wartete darauf, dass Gladwell tat, was alle westlichen Männer taten, wenn sie vor einer geschäftlichen Besprechung noch Zeit in Bangkok totzuschlagen hatten: sich jemanden kaufen. Aber Gladwell ignorierte die Table-Dance-Bars und Nachtclubs. Er ging einfach herum. Als er sich schließlich weit von seinem Hotel entfernt hatte, setzte er sich an einen Tisch draußen vor einer ruhigen Bar am Ende einer Sackgasse. Die Kneipe war klein und schmutzig – nicht unbedingt die erste Wahl eines wohlhabenden Mannes aus dem Westen. Das musste der Treffpunkt sein. Pratin wählte seinen Standort sehr sorgfältig, beobachtete Gladwell aus diskretem Abstand vom Fenster eines schlecht besuchten Restaurants aus. Er bestellte eine Schale Tom-Yam-Gung-Suppe und wartete, dass Gladwells Kontakt auftauchte.

Gladwell trank sein Bier und bestellte eine zweite Flasche, sah aus, als würde er warten. Pratin ging in Gedanken die Namen aller einheimischen Drogenfunktionäre durch, fragte sich, welcher den Mut hatte, eine große Lieferung Heroin in den Westen zu schicken. Er musste zugeben, dass einige in Frage kamen. Dann näherte sich ein Straßenjunge und fing an, mit Gladwell zu plaudern, anscheinend bettelte er ihn um ein paar Dollar an. Pratin war genervt, wünschte, das Kind würde wieder verschwinden, damit er klare Sicht auf Gladwell und dessen Kontaktperson hatte, sobald diese endlich eintraf.

Dann passierte etwas Eigentümliches. Gladwell richtete sich in seinem Stuhl auf, beugte sich zu dem Jungen vor, als wollte er mit ihm sprechen, und lächelte auffallend freundlich. Mit einem solchen Lächeln bedachte man keinen Bettler. Es war das Lächeln, das ein Mann einer Frau schenkte. Pratin begriff sofort, was es zu bedeuten hatte.

 

Plötzlich schlug ich die Augen auf und merkte, dass ich schon vor einer ganzen Weile vor dem Fernseher eingeschlafen war. Abrupt setzte ich mich auf und sah Sarah im Türrahmen stehen. Ihr Haar war noch feucht von der Dusche, und außer ihrer schwarzen Unterwäsche trug sie nichts.

»Hallo.«

Ich war noch ein bisschen benommen. »Ist das die Wäsche, die ich dir geschenkt habe?«

»Ja.« Sie kam zu mir herüber und nahm meine Hand. »Ich weiß, dass ich dich vernachlässigt habe, und es tut mir leid. Komm mit nach oben«, sagte sie und ging voran.

 

Später machte ich uns Fisch, und wir aßen draußen auf der Terrasse, genossen den Blick aufs Meer. Es fühlte sich an, als wären wir wieder ein richtiges Paar. An Simone hatte ich seit meiner Abreise aus Großbritannien kaum gedacht. Sie gehörte zu einem anderen Leben, das mit uns hier draußen nichts zu tun hatte.

»Warst du als Kind mal in Whitby?«, fragte sie mich. »Du hast Fisch gemacht. Da musste ich an Whitby denken. Seid ihr mal hingefahren?«

»Nein«, sagte ich. »Eigentlich bin ich als Kind nie irgendwohin gefahren.«

»Dad hat mich mitgenommen, zum Fish-and-Chips-Essen. Ich meine, es war nicht gerade um die Ecke, aber er sagte immer: ›Wer will Fish and Chips?‹ Und wenn ich ›ich‹ gerufen habe, hat er den Jaguar aus der Garage geholt und wir sind nach Whitby gefahren. Ich hab zu ihm gesagt: ›Dad, das ist aber ganz schön weit, gibt’s denn hier nirgends Fish and Chips?‹ Und er meinte: ›Keine so guten wie in Whitby, Schatz, das sind die besten auf der ganzen Welt, und weißt du, wann sie am besten schmecken? Wenn man sie jemandem vom Teller klaut.‹ Gib her!« Jetzt lächelte sie. Das hatte sie in letzter Zeit nicht häufig getan, aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich gemischte Gefühle dabei.

Unterhaltungen mit Sarah glichen sich immer irgendwie, und meist fingen sie an mit: »Dad hat früher immer …« Es gab mir jedes Mal einen Stich ins Herz, weil ich derjenige war, der ihren Dad getötet hatte, und es machte mich fertig, dass sie ihn so sehr vermisste. Das einzig Gute an dieser beschissenen Situation war, dass sie nicht wusste, dass ich ihn auf dem Gewissen hatte.

»Du erzählst nicht viel«, sagte sie. »Über früher, meine ich, als du klein warst.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, erwiderte ich und verschwieg, dass ich lieber gar nicht erst über meine Kindheit nachdachte, weil sie nicht sehr schön gewesen war. »Wir sind so einigermaßen über die Runden gekommen. Meine Mum hat ihr Bestes gegeben, weißt du.«

»Wie war dein Dad?«, fragte sie.

»Hab ihn nie kennengelernt, anscheinend ist er abgehauen, bevor ich auf die Welt kam. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er kein besonders guter Mensch war. Aber das war kein großes Ding für mich«, erklärte ich. »Was man nie hatte, vermisst man auch nicht.« Es gab mal eine Zeit, in der ich tatsächlich oft an meinen Dad gedacht hatte, aber damals war ich noch sehr klein gewesen und hatte es nicht besser gewusst. Ich hoffte, er wäre abgehauen und zur Armee gegangen oder Spion geworden. Die Filmaufnahmen aus der besetzten iranischen Botschaft, die Bilder von der SAS, die im Fernsehen gezeigt wurden, als sie sich an Seilen in das Gebäude herunterließen und die Terroristen fertigmachten, gehören zu meinen frühesten Erinnerungen. Ich träumte, dass einer von ihnen mein Dad war und dass er jetzt, da er die Geiseln gerettet hatte, nach Hause kommen durfte. Er würde in seiner glänzenden Uniform mit den vielen Orden die Straße entlang auf mich zukommen und hätte einen neuen Fußball für mich dabei. Wenn ich jetzt daran denke, ist mir das peinlich. Was für ein Weichei ich damals war.

»Muss hart gewesen sein für deine Mum.«

»Ja, war’s auch, aber sie kam klar. Mütter kriegen so was hin. Die machen einfach weiter.«

Sie sah weg, und ich fragte mich, ob die Bemerkung irgendwie unsensibel war. Hatte ich sie an ihre Mutter erinnert, die bereits vor vielen Jahren gestorben war, weshalb sie allein bei ihrem Vater aufwuchs und ein entsprechend enges Verhältnis zu ihm hatte, bis ich kam und alles zerstörte?

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich hab nur gerade gedacht, dass wir uns so ähnlich sind, du und ich, wir sind beide Waisen.«

Wahrscheinlich hatte sie sogar recht, aber wer wusste das schon? Mein Dad hatte mich vor über dreißig Jahren im Stich gelassen – möglicherweise lebte er noch irgendwo, aber wahrscheinlich war er tot. So oder so, mir war’s egal.

»Nein«, sagte ich, »Kinder sind Waisen, aber wir sind Erwachsene. Wir können uns gegenseitig umeinander kümmern.« Ich setzte mich neben sie und umarmte sie. Sie schmiegte sich ganz fest an mich und drückte ihren Kopf an meine Brust. Sarah war nicht immer ganz einfach, brauchte sehr viel Fürsorge und Aufmerksamkeit, aber das war nicht ihre Schuld. Das wusste ich. Ich bin nicht unsensibel, und ich schwor mir selbst, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Sarah vor Alan Gladwell oder sonst wem, der ihr Schaden zufügen wollte, zu beschützen. Tatsächlich gab es nichts, das ich nicht bereit gewesen wäre, für sie zu tun. Egal was.

Zehn Minuten später rief Pratin an.

Gangland: Thriller
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