22
Wortlos gingen wir zum Wagen. Wir schnallten uns an und warteten beide, dass der andere etwas sagte. Schließlich fragte ich: »Welchen Namen hat er genannt?«
Kinane schüttelte den Kopf: »Peter Dean.«
»Scheiße. Weiter oben kannte er keinen?«
»Nein«, erwiderte Kinane, »sonst hätte er’s mir gesagt.«
Daran zweifelte ich nicht. Wir hatten uns im Kreis gedreht. Außer den Namen von zwei Vermittlern hatten wir nichts. Und beide waren tot. Der eine starb, noch bevor wir ihn erwischten, und der andere hatte nichts gewusst.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Kinane.
»Ich?« Ich wusste es nicht. Ich fühlte mich nur ungeheuer erschöpft. »Ich fahre nach Hause«, erwiderte ich.
Die Hitze war drückend. Ich wollte ihr entfliehen und ins Haus, etwas Kaltes trinken und die Klimaanlage aufdrehen. Mich am liebsten eine Weile gar nicht bewegen. Ich hatte mir überlegt, Sarah zu überraschen, also zog ich leise die Tür auf, ging ins Haus und schloss sie sachte hinter mir. Zu hören war nichts, aber ich spürte, dass ich nicht allein war. Außerdem hatten mir meine Leibwächter verraten, dass sie zu Hause war. Ich ging die Treppe hinauf. Sie hörte mich nicht. Hätte sie mich gehört, wäre sie mir entgegengerannt. Ohne zu klopfen, riss ich die Schlafzimmertür auf und sah sie. »Was, zum Teufel, machst du da?«, fragte ich entsetzt.
Sarah war sauer auf mich, kotzte die Worte heraus. »Manchmal kannst du ein richtiges Arschloch sein, weißt du das? So verflucht eiskalt.«
Das verletzte mich ein bisschen, zumal es nicht das erste Mal war, dass mir eine Frau so was sagte. Laura, meine Ex, hatte mir auch ständig vorgeworfen, ich wäre kalt. Andererseits möchte ich wissen, welcher Mann, der gesehen hat, was ich gesehen habe, nicht kalt wäre. Die Probleme anderer erschienen mir vergleichsweise trivial. Als ich Sarah antwortete, blieb ich daher sehr gefasst und bemühte mich, ihr meine Wut rational zu erklären. Ich wollte, dass sie verstand, warum ich so heftig reagiert hatte auf das, was sie dort im Schlafzimmer trieb.
»Vielleicht bin ich kalt«, erklärte ich, »aber das muss ich sein – kalt, ruhig und klug. Nur so können wir überleben. Fehler darf ich mir nicht erlauben. Ausgerechnet du solltest das wissen. Nach allem, was du durchgemacht hast, nach allem, was wir beide durchgemacht haben, hätte ich gedacht, dass du das verstehst.« Sie senkte den Kopf, nicht direkt beschämt, aber immerhin hatte sie mich angehört. »Alles, was ich mache, dient deiner Sicherheit. Damit wir dieses Leben hier gemeinsam genießen können. Keiner von uns beiden darf sich Unachtsamkeiten erlauben, das weißt du«, argumentierte ich. »Jedenfalls dachte ich, dass du das weißt.«
»Ich weiß es ja auch«, protestierte sie, »aber … ich fühle mich manchmal so einsam, wenn ich hier allein herumhocke.«
»Herumhocke?« Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Das Haus war ein Palast im Vergleich zu den Dreckslöchern, in denen die meisten Menschen in Sarahs Alter hausten. »Deine Freundin Joanne wohnt in einer Einzimmerwohnung. Du lebst in einer verfluchten Luxusanlage mit Pool und Privatstrand!«
»Ja!«, schrie sie. »Ich weiß! Und ich kann nicht mal raus! Wahrscheinlich ist es das schönste verdammte Gefängnis auf der ganzen beschissenen Welt!«
»Siehst du das so? Du hältst das hier für ein Gefängnis? Sag bitte, dass du Witze machst!«
»Für dich ist das schön und gut«, sagte sie, »du kommst zwischendurch wenigstens mal raus, fliegst nach Hause zu deinen Besprechungen, triffst alte Freunde und verbringst Zeit mit ihnen, gehst aus. Erzähl mir nicht, dass das nicht stimmt. Ich war seit Dads Tod nicht mehr zu Hause. Du lässt mich nicht raus. Nicht mal auf den Markt hier darf ich gehen.«
»Darfst du wohl.«
»Nur wenn Jagrit und seine Freunde mitkommen, und das ist nicht dasselbe«, behauptete sie. »Weißt du, wie ich mir vorkomme, wenn ich mir dort was ansehe und weiß, dass nur wenige Meter vor mir ein Leibwächter aufpasst und zwei weitere direkt hinter mir stehen? Ich fühle mich eingesperrt.«
»Die Alternative ist schlimmer, Liebes, glaub mir.«
»Ich wusste, dass du’s nicht verstehst.« Wir stritten nicht oft, aber wenn doch, dann erreichten wir rasch einen Punkt, an dem wir diametral entgegengesetzte Ansichten vertraten.
»Ich versteh’s ja.« Und das tat ich. Jedenfalls gab ich mir Mühe. Sarah war eine junge Frau. Sie war es gewohnt, mit ihren Freundinnen auszugehen und zu machen, was sie wollte und wann immer sie wollte. Aber all das hatte sich plötzlich und für immer verändert, und jetzt gab es kein Zurück mehr, für keinen von uns beiden. Sarah hatte keine Ahnung, was ihr blühte, wenn meine Feinde herausbekamen, wo sie sich aufhielt. Wenn sie wüsste, was sie ihr antun würden, nur um mir eins auszuwischen, würde sie freiwillig nie wieder das Haus verlassen. »Aber mir fällt keine Alternative ein, Sarah. Du bist Bobby Mahoneys Tochter und meine Freundin, das bedeutet, dass du vorbelastet bist. Du genießt die damit verbundenen Privilegien, aber du kannst dein Leben nicht mehr so leben wie vorher, weil es da draußen Leute gibt, die’s auf dich abgesehen haben, nur weil sie mir schaden wollen«, schloss ich. »Wir haben doch schon oft darüber gesprochen.«
Dagegen konnte sie nichts einwenden, weil es stimmte. Stattdessen sagte sie: »Musstest du wirklich meinen Laptop zertrümmern?«
Ich sah hinüber zu dem kaputten Computer, der ziemlich spektakulär explodiert war, als ich ihn ihr aus den Händen gerissen und an die Wand unseres Schlafzimmers geschleudert hatte. Überall auf dem Teppich verteilt lagen spitze, scharfe Plastikscherben, und der Bildschirm hatte sich von der Tastatur gelöst. Ein gewaltiger Riss zog sich quer über die Wand, und der Putz bröckelte, wo der Laptop aufgeschlagen war.
Ich begutachtete den Schaden und begriff, dass ich wohl wütender gewesen sein musste, als ich mir eingestehen wollte. Rückblickend muss mein Zorn ziemlich beängstigend gewirkt haben.
»Tut mir leid«, gestand ich, »aber … ich meine … was hast du dir dabei gedacht?«
»War doch bloß Facebook«, erwiderte sie. »Und ich hab auch gar nicht meinen richtigen Namen benutzt. Ich bin als Sarah Phoney angemeldet und hab auch nur ein paar alte Freundinnen von der Uni über den Account kontaktiert. Joanne war praktisch die Einzige, die mir überhaupt je Nachrichten geschickt hat. Ich kapier nicht, wieso du so einen Wirbel machst.«
»Weil es da draußen schlechte Menschen gibt, die sehr schlaue IT-Experten beschäftigen, die unablässig nach Schwachstellen in meiner Organisation fahnden, um mich zu Fall zu bringen. Wenn du dich auf Facebook herumtreibst, dann ist das virtuell so, als würdest du ausgehen und die Hintertür offen lassen. Deshalb mache ich so einen Wirbel.«
Sie blickte zu mir auf. »Tut mir leid. Ehrlich. Ich bin … ich bin so allein.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte, ich hätte ein Paradies für uns geschaffen, und jetzt stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte. Aber noch schlimmer war, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte, was ich daran ändern konnte.
Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie aufs Bett und legte die Arme um sie. Sie drückte ihr Gesicht an meine Brust und umarmte mich ganz fest.
»Wird schon wieder«, tröstete ich sie, »bestimmt. Und es tut mir auch leid. Ich kauf dir einen neuen Laptop, aber dieses Mal lässt du die Finger von Facebook, ja?« Halb lachte sie, halb schluchzte sie.
»Und wenn du mir noch ein bisschen Zeit gibst, lass ich mir was für uns einfallen«, versicherte ich ihr. »Du weißt, dass ich das hinkriege, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie, »ich weiß.« Es war gelogen, aber ich brauchte diese Lüge.
An jenem Abend rief ich Sharp an: »Ich hab einen Job für dich«, sagte ich.
»Herrgott noch mal«, meinte er, »was ist denn jetzt schon wieder?«
Ich verbrachte eine Woche mit Sarah in Hua Hin. Wir gingen viel am Strand spazieren und redeten, hauptsächlich über die Zukunft. Aus naheliegenden Gründen vermieden wir es, über die Vergangenheit zu sprechen, und die Gegenwart war zu komplex, um in wenige Worte gefasst zu werden.
Ich telefonierte mit Sharp, Palmer und Kinane, aber keiner hatte etwas Neues herausbekommen. Billy Warren und Peter Dean waren tot. Es sah so aus, als wären wir gegen eine Wand gerannt. Immer wieder ging ich in Gedanken alles noch einmal durch, bekam die Einzelteile aber einfach nicht zusammengesetzt. Es gab ein paar Möglichkeiten: Vielleicht wollte sich Alan Gladwell zu Friedens- und Kooperationsgesprächen treffen, vielleicht wollte er mich aber auch umbringen; weder ihm noch seiner Familie durften wir vertrauen. Dann war da der Türke, dessen Lieferung sich erneut aus unerklärlichen Gründen verzögert hatte, obwohl er bereits seit einiger Zeit auf einer Million Euro aus meiner Kasse saß. Solange ich weg war, würde er das Geld nicht zurückzahlen, und Morde wurden auch schon für sehr viel weniger Geld begangen. Kinane erzählte mir immer wieder, dass mir Braddock ans Leder wollte und dass man förmlich spürte, wie es ihn an die Spitze drängte. Mich aus dem Weg zu räumen, das war der schnellste Weg nach oben, unabhängig davon, ob er dem Job letztlich gewachsen war oder nicht. Außerdem war da Amrein, unser sauberer Gewährsmann, den ich verängstigt, bedroht und erniedrigt hatte. Ich wusste, dass er mir keine Träne nachweinen würde. Im Gegenteil, ich war sicher, dass er mich gern tot gesehen hätte – kein Wunder nach allem, was ich ihm angetan hatte. Aber hatte er die Eier, es ein zweites Mal mit mir aufzunehmen? Ganz ehrlich, ich wusste es nicht.
Gladwell, Amrein, Braddock und der Türke. Das waren schon mal vier, und sie waren nur die wahrscheinlichsten Kandidaten. Die Angehörigen meiner eigenen Crew waren da noch nicht mitgezählt, von den Verbrecherfamilien in anderen Städten des Landes mal ganz abgesehen. Wie vielen Leuten war ich mit meinen Geschäften in die Parade gefahren? Wie viele hatte ich beleidigt, vor den Kopf gestoßen oder verärgert? Hätte ich eine Liste mit allen, die mich gern tot gesehen hätten, wäre sie wahrscheinlich länger als eine Seite.
»Ich weiß nicht, was du von mir willst«, erklärte sie mir, »ich weiß nicht, was von mir erwartet wird.«
»Gar nichts wird von dir erwartet.« Ich sah geradeaus, beide Hände am Lenkrad, um sicherzugehen, dass wir dem Touristenbus nicht hintendrauf fuhren, der gemächlich vor uns dahinrumpelte.
»Warum muss ich dann mitkommen?«
»Er erwartet nur, dass du dabei bist. Ich hab dir doch gesagt, er ist wichtig. Deshalb fahre ich ja persönlich zum Flughafen, um ihn abzuholen, und deshalb habe ich dich gebeten, mich zu begleiten.«
»Aber ich spreche kein Japanisch.«
»Ich doch auch nicht«, erinnerte ich sie, als sich endlich eine Lücke auftat, so dass ich ausscheren und den Bus überholen konnte.
»Und ich kenne mich auch bei deren Sitten nicht aus. Die haben doch diese ganzen Rituale, ständig verbeugen sie sich und überreichen sich Visitenkarten, als wären es Familienerbstücke.«
»Damit rechnet er nicht, das verspreche ich dir.«
»Und das mit dem Tee …« Jetzt fing sie an, sich hineinzusteigern. »Die machen doch so ein unglaublich bescheuertes Theater um jede einzelne Tasse Tee. Da gibt’s eine Zeremonie, und man muss sich hinknien und verbeugen. Wir haben bloß die PG Tips, die wir uns von zu Hause schicken lassen. Mit einem Teebeutel wird der nicht zufrieden sein.«
»Mach dir mal keine Sorgen. Ich hab der Haushälterin schon Bescheid gesagt. Entspann dich einfach und lächle, wenn er ankommt. Mehr verlange ich nicht. Ich bitte dich nicht oft um einen Gefallen, aber jetzt möchte ich, dass du mir hilfst.«
»Okay«, sagte sie, »du hast recht, du bittest mich wirklich selten um etwas. Tut mir leid, ich beruhige mich schon wieder.«
Wir erreichten den Flughafen rechtzeitig zur Ankunft des extra für diesen Anlass gecharterten Privatjets. Sarah gelang es einfach nicht, sich locker zu machen. Sie hatte eine Heidenangst, mir das überaus wichtige Treffen mit Mr. Hakaihamo von Dogobari International zu ruinieren. Sie trug ein Kleid und sah darin älter aus, als sie war. Abgesehen von Bikinis, trug sie zu Hause meist nur kurze Hosen und T-Shirts.
Es dauerte ewig, bis das Flugzeug nach der Landung am Ankunftsgate angedockt hatte, aber endlich war es so weit, und das Licht über der Tür leuchtete, was bedeutete, dass alles bereit war. Ich beobachtete Sarah aus den Augenwinkeln. Sie starrte unverwandt auf das Gate, wartete auf Mr. Hakaihamo.
Die Hydraulik an der Tür zischte und knackte, als sich der Mechanismus löste und sie aufging. Von Mr. Hakaihamo keine Spur. Stattdessen stand da eine junge Frau und grinste breit. Sie strahlte Sarah an. Diese riss die Augen auf, brachte aber nicht mehr als ein »Was …?« heraus.
»Steh nicht so blöd da, du faules Miststück«, quietschte Joanne. »Komm, umarme mich und hilf mir mit dem Scheißgepäck!«
Sarah drehte sich zu mir um, und ich sagte »Überraschung!« und lächelte angesichts ihres schockierten Gesichtsausdrucks.
Bevor sie noch etwas erwidern konnte, meldete sich Joanne erneut zu Wort. »So Leute, kommt jetzt!«, woraufhin weitere acht Personen durch die Tür spazierten.
»O mein Gott!« Sarah schlug die Hände vors Gesicht.
Ihre Freundinnen ausfindig zu machen war relativ einfach gewesen. Für einen Mann mit Sharps Begabung kein Problem. Keine von ihnen hatte sich zweimal bitten lassen, vierzehn Tage lang kostenlos Urlaub in Thailand zu machen, erst recht nicht, als sie hörten, dass ich sie im Privatjet einfliegen ließ. Es gab jede Menge Umarmungen und Gekreische, Tränen und Aufregung. Kiet, unser Hausdiener, stieß zu uns. Er überreichte mir die Tasche, die ich ihm anvertraut hatte. »Ich flieg mit der Maschine zurück, aber ihr seid in sicheren Händen.« Ich stellte ihnen Kiet vor. »Unsere Fahrer bringen euch zu unserem Anwesen, fühlt euch bitte wie zu Hause.«
»O Gott, ich kann’s kaum glauben«, sagte Sarah. »Ich kann nicht fassen, dass ihr alle hier seid.« Dann runzelte sie die Stirn. »Und was ist jetzt mit dem Japaner?«, fragte sie mich. »Den gibt’s gar nicht, oder?«
Da küsste ich sie. »Dafür, dass du eine so schöne und intelligente junge Frau bist, bist du manchmal ganz schön schwer von Begriff.«
»Na, danke auch«, sagte sie und tat empört, dabei hatte ich sie seit einer Ewigkeit nicht mehr so glücklich gesehen. »Und danke für das alles hier.« Sie umarmte mich. »Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich und meinte es genau so.