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Ich hab ganz vergessen, dass das auch so sein kann«, sagte sie zu mir.
»Ich auch«, erwiderte ich, ohne zu lügen. Wir lagen auf dem Bett; ihr Bademantel und meine Klamotten befanden sich irgendwo auf dem Boden. Wir hielten einander in den Armen, unbeweglich für den Augenblick. Ich küsste sie, und sie küsste mich, dann biss sie mir in die Oberlippe und lachte über meinen verdutzten Gesichtsausdruck. In diesem Moment sah sie sehr jung aus, keine Spur mehr von dem Zynismus, den sie sonst in der Öffentlichkeit an den Tag legte.
»Willst du noch was trinken?«, fragte Simone, und ich schüttelte den Kopf. Sie küsste mich erneut und sagte: »Bin gleich wieder da«, als wollte sie hinzufügen: »Laufe bloß nicht weg.« Dann stieg sie aus dem Bett und ging ins Bad. Als sie weg war, wurde mir bewusst, dass ich überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, was ich da tat, ob es gut, richtig oder falsch war. Mit Simone ins Bett zu steigen, das würde mein Leben zwangsläufig noch komplizierter machen, aber im Vergleich zu allem anderen, womit ich mich herumzuschlagen hatte, schien es eher nebensächlich.
Simone kam wieder herein und legte sich neben mich. Sie war immer noch nackt, und ich war froh, dass sie sich nichts übergezogen hatte. Es gab nur einen Haken. Jetzt, da ich sie endlich gehabt hatte, wollte ich gehen. Das lag nicht an ihr. Eigentlich ging es mir mit allen Frauen so, abgesehen vielleicht von Laura ganz am Anfang und auch von Sarah, sofern wir überhaupt noch Sex hatten. Schon als junger Mann war ich so gewesen, damals, als ich noch Single war und in jedem Mädchen eine Möglichkeit sah. Wenn ich jemanden kennenlernte, wenn mich eine Frau in ihren Bann zog, fragte ich mich sofort, wie sie nackt aussah. Ich dachte darüber nach, wie sie wohl im Bett wäre, versuchte zu erraten, was sie für ein Gesicht machte, wenn sie kam, oder welche Geräusche sie von sich gab. Und wenn wir endlich zusammen in der Kiste gelandet waren, war das Geheimnis futsch, und aus einer Wiederholung machte ich mir nicht viel.
Simone drehte sich um und stützte sich auf ihren Ellbogen. Sie lächelte mich an, dann fragte sie: »Woran denkst du?«
»Daran, wie unglaublich das gerade war«, sagte ich, und ihr Grinsen wurde breiter. Ich hatte den Eindruck, Simone hatte Sex, Anerkennung durch Männer und ihr Selbstwertgefühl schon vor langer Zeit in dieselbe Schublade gepackt, und nun war all das unentwirrbar miteinander verbunden. »Und wie schade es ist, dass ich bald losmuss.« Ihr Grinsen verschwand. »Mein Bruder«, erklärte ich, und sie schaute wieder entspannter. Dann nickte sie, als könne sie nachvollziehen, was bei mir derzeit oberste Priorität hatte, und mir wurde bewusst, dass ich gerade noch ein Stück tiefer gesunken war, weil ich das verpfuschte Leben meines Bruders als Vorwand benutzte, nur um nicht die Nacht im Bett eines Mädchens verbringen zu müssen.
Ich wollte nicht wieder ins Townhouse, also verzog ich mich in unseren kleinen Wohnblock an der Westgate Road. Das waren acht Wohnungen über einer Tiefgarage, in denen aber niemand wohnte. Wir benutzten sie für geheime Treffen oder auswärtige Besucher. Gelegentlich übernachtete ich dort, wenn ich die Hotels satthatte. Was vor allem dafür sprach, war die Sicherheit. Die Glastüren waren extra verstärkt, und vor der Tiefgarage befand sich ein Tor mit Zahlencode, der verhinderte, dass Unbefugte eindrangen. Ich fühlte mich dort sicherer als sonst irgendwo.
Ich bat Palmer, sich möglichst früh dort blicken zu lassen, und bestellte Kinane zur selben Zeit. Mit keinem von beiden wollte ich allein sein. Nicht, solange die undichte Stelle nicht gefunden war. Als Kinane die Tür öffnete, um Sharp reinzulassen, wandte ich mich an Palmer: »Was kam bei den Peilsendern heraus?«
Er erwiderte kleinlaut. »Nichts, Robbie hat ganz genau verfolgt, wer sich wo herumgetrieben hat, aber da war nichts Ungewöhnliches.«
»Dann hat’s das mit den Dingern ja voll gebracht.«
»Lass ihm Zeit«, sagte er.
»Zeit ist das Einzige, das wir nicht haben.«
Sharp kam mit einem Koffer herein, und wir sahen schweigend zu, wie er einen Laptop aufbaute und einen USB-Stick aus der Tasche zog. Es dauerte ewig, bis er hochgefahren war, und wir warteten ungeduldig. Endlich tippte er auf eine Taste, und ein Bild erschien.
»Frag bloß nicht, woher ich das habe«, sagte Sharp, aber das interessierte mich sowieso nicht. Ich wollte nur die Aufzeichnungen sehen. »In einer Stunde muss ich es zurückbringen. Ich hatte nicht mal Zeit, eine Kopie zu ziehen.« Er wirkte gestresst. »Maximal eine Stunde.«
»Dann mach lieber schnell«, sagte ich, und er klickte auf play.
»Was man sieht, stammt von der Kamera in der Bar«, erklärte er, als der gesamte Innenraum des Pubs körnig und schwarzweiß auf dem Bildschirm erschien. Am linken Bildschirmrand war die Bar zu sehen, ein Mädchen und ein Mann Mitte zwanzig bedienten dort. Die Tische davor waren größtenteils unbesetzt. Es sah aus, als wären überhaupt nur vier weitere Personen in der Kneipe; ein Pärchen Anfang zwanzig, das über den Tisch hinweg Händchen hielt, und das Mädchen, das als einzige Zeugin das Gesicht des Killers gesehen hatte, obwohl er eine dunkle Sonnenbrille und ein Basecap trug. Sie hatte einen alten grünen Parka an und las, hielt sich möglichst lange an ihrem Kaffee fest, weil sie sich vermutlich keinen zweiten leisten konnte.
Versteckt in einer Ecke am Fenster saß Danny und sah sehr viel gesünder aus als bei meinem Besuch im Krankenhaus. Selbst aus der Ferne wirkte er ziemlich entspannt – und warum auch nicht? Er wartete auf den Betreiber des Pubs, von dem er eine kleine Schutzgeldsumme kassieren wollte, so wie jeden Monat. Ein Routinejob. Ich hielt den Atem an, denn anders als Danny zum Zeitpunkt der Aufzeichnung wusste ich, was gleich kommen würde.
Es ging schnell. Im einen Moment war der Killer noch gar nicht im Raum, im nächsten spazierte er schon schnellen Schrittes durch die Tür, war aber dank Basecap, Sonnenbrille und langem Mantel unmöglich zu erkennen. Er bewegte sich zielstrebig auf Danny zu. Unser Kleiner hatte anscheinend instinktiv gespürt, dass mit dem Kerl was nicht stimmte, denn er war sofort aufgestanden und auf die Glastüren hinten zugegangen. Anders als ich hatte er aber nicht mehr genug Zeit, den Killer zu überlisten, denn der Mann, der gekommen war, um ihn zu töten, zog jetzt seine Waffe und feuerte. Der erste Schuss verfehlte Danny, der inzwischen rannte. Er traf eine der Glasscheiben weiter hinten. Ein Spinnennetz aus feinen Rissen überzog die gesamte Scheibe. Danny versuchte verzweifelt, zur Tür zu gelangen, aber er schaffte es nicht. Die zweite Kugel traf ihn am Arm, die Wucht schleuderte ihn vorwärts; die nächsten beiden Schüsse trafen den Rücken. Er stieß an einen Tisch und fiel darüber, dann krachte er mit dem Kopf zuerst in die Tür, woraufhin die Scheibe zerbarst. Scherben spritzten durch den Raum, und Danny knallte auf den Boden. Der Tisch kippte um und riss im Fallen einen zweiten Tisch und zwei Stühle mit. Möglicherweise war es diesem Umstand zu verdanken, dass Danny nur schwer verletzt, aber nicht getötet wurde. Der Killer schien einen Augenblick zu zögern und die Situation einzuschätzen. Man sah ihm an, dass er überlegte, ob er den Verlust wertvoller Sekunden riskieren und über die umgestoßenen Tische und Stühle steigen sollte, um weitere Schüsse auf Dannys reglosen Körper abzufeuern, oder ob er lieber seinem Instinkt vertrauen sollte, der ihm sagte, dass keiner überleben würde, der von drei seiner Kugeln getroffen worden war.
Zu den Aufnahmen gab es keinen Ton, aber ich brauchte auch keinen. Die beiden jungen Liebenden waren zu Beginn der Schießerei aufgesprungen, das Mädchen schrie, ihr Freund hopste herum, als wüsste er nicht, wohin sie sich flüchten sollten. Die Studentin war wie erstarrt, klammerte sich an ihr Buch.
Der Killer hatte sich entschieden. Er machte kehrt und ließ die Waffe sinken. Er hielt sie in der rechten Hand, weiterhin schussbereit, falls jemand versuchen wollte, ihn aufzuhalten. Er ging zügig zur Tür. Die Studentin konnte nirgendwohin, und er steuerte auf sie zu. Beide wussten, dass sie eine Zeugin war, die Einzige, die ihn richtig gesehen hatte. Vielleicht begriffen beide in diesem Moment, dass es für ihn am vernünftigsten war, wenn er sie erschoss. Anscheinend hatte er genau das gedacht, denn er hob die Waffe, zielte auf ihr Gesicht und hielt sie so einen Moment lang, der für die Studentin die reine Folter gewesen sein musste. Dann ließ er die Waffe sinken und ging. Verschwand aus dem Bild.
»Scheiße! Ist das alles, was wir haben? Der Kerl ist nicht zu erkennen. Selbst wenn’s einer von unseren Leuten gewesen wäre, hätte man ihn nicht erkennen können.«
Ich wollte nicht glauben, dass wir zwar Aufzeichnungen hatten, aber nichts damit anfangen konnten.
»Es gibt noch eine zweite Kamera«, erklärte Sharp und zog einen weiteren USB-Stick aus der Tasche. »Die hier hängt an der Tür. Wegen des Kamerawinkels ist die Schießerei nicht so gut zu sehen, dafür aber der Killer, wenn er geht.«
»Zeig her«, befahl ich.
Sharp schaltete zu den Bildern der zweiten Kamera um, die ziemlich hoch an der Wand gehangen haben musste, direkt hinter dem Mädchen im Parka.
Sharp hatte recht, durch die Kameraperspektive war der Anschlag selbst weniger gut zu sehen. Einiges wurde von dem Schützen verdeckt, seine große Gestalt behinderte die Sicht auf die Waffe, und mein Bruder war gar nicht mehr zu sehen, kaum dass er seinen Platz verlassen hatte und zur Terrassentür gerannt war. Die Aufnahme wurde erst interessant, als die Schießerei vorbei war und der Killer von Danny abließ. Als er sich umdrehte, kam er besser ins Bild. Unter dem schwarzen Regenmantel trug er einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte, dazu schwarze Schuhe und einen schwarzen Ledergürtel. Die Klamotten mussten ihn einiges gekostet haben. Das sah man, selbst auf die Entfernung.
Ich beobachtete, wie der Schütze auf das junge Mädchen zuging, die Waffe hob und auf sie richtete, ihr ins Gesicht zielte. Dann fiel uns etwas auf, das wir auf den Bildern der anderen Kamera nicht hatten sehen können. Der Schütze machte den Mund auf, er sagte etwas und machte den Mund wieder zu. Wir alle sahen es und brauchten keinen Ton, um genau zu wissen, was er gesagt hatte.
Palmer sprach es als Erster aus und klang dabei, als könnte er es kaum glauben. »Hat der gerade ›peng‹ gesagt?«
Niemand antwortete. Wir hatten es eindeutig gesehen, genauso glasklar, wie wir jetzt beobachteten, dass er den Mund schloss und breit und dreckig grinste. Er lächelte das Mädchen an, das Todesangst hatte, und er genoss den Augenblick. Dann lachte er. Er lachte.
»Halt mal an«, sagte ich rasch. Ich war kaum in der Lage zu sprechen. Sharp drückte auf die Pausetaste, und das Bild erstarrte. Der Killer lachte immer noch. Das Standbild zeigte ihn mit offenem Mund und gebleckten Zähnen. Er hatte eindeutig Spaß an seinem Job. Am liebsten hätte ich meinen Stuhl genommen und den Bildschirm zertrümmert.
»Sharp, ich will, dass du das beste Bild von dem Mann rausfilterst und in Umlauf bringst.« Ich sah Sharp nicht an. Ich hatte zu viel damit zu tun, den Mann anzustarren, der auf meinen Bruder geschossen hatte. Abgesehen von seinem Grinsen und der Sonnenbrille, erlaubten höchstens seine bereits angegrauten Schläfen Rückschlüsse auf seine Identität. Der Rest wurde von der Basecap und der Brille verdeckt. »Ich will, dass jeder Polizist, korrupt oder nicht, und jeder Spitzel im gesamten Land die Visage von dem Kerl zu sehen bekommt. Ich will, dass ihr damit durch die Bars und Nachtclubs zieht, durch die Bordelle und Crackhöhlen, bis ihr einen Namen habt. Und bis dahin macht ihr nichts anderes, kapiert?«
Sharp sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Vielleicht war das auch so, aber ich wollte den Mann finden, der meinen Bruder hinterrücks angegriffen hatte und dann lachend davonspaziert war. Selbst Tommy Gladwells qualvolles Ende würde im Vergleich zu dem, was ich mit dem Mann machen würde, wenn ich ihn in die Finger bekam, wie ein Spaziergang aussehen. Ich musste ihn nur finden. Irgendwo da draußen war er, versteckte sich in einem Land mit dreiundsechzig Millionen Einwohnern, aber das war nicht mein Problem, sondern das von Sharp.
»Finde ihn, Sharp, und zwar schnell.«
Palmer starrte das körnige Bild an und sagte kein Wort.
»Was?«, fragte ich ihn.
»Den kenne ich«, sagte Palmer und sah zu mir auf. »Ich weiß, wer das ist.«