21

Für solche Anlässe nutzten wir ein Versteck in einem alten Backsteingebäude mit einer Stahltür und fensterlosen Wänden. Es lag wenige Meter von einem alten Umspannwerk entfernt, das die Landbevölkerung hier in der Gegend früher mit Strom versorgt hatte, aber schon vor Jahren stillgelegt worden war. Wir hatten das Grundstück für einen Spottpreis erstanden und überlegt, Wohnhäuser dort zu bauen, die Arbeiten aber auf unbestimmte Zeit verschoben, als die Immobilienpreise abstürzten. Einstweilen diente uns das Gelände als Verwahranstalt für Männer wie Billy Warren. Hier konnten wir uns in Ruhe unterhalten, wussten, dass niemand zuhörte, weil meilenweit ringsum niemand war.

Kaum hatten wir den Anruf von Tommy Bailey erhalten, fuhr Kinane los, um Billy Warren abzuholen. Jetzt stand er im grellen Licht einer einzigen, nackten Glühbirne in dem ansonsten leeren Raum und blinzelte mich an, schwankte nervös vor und zurück. Dabei warf er einen riesigen Schatten. Billy wusste genau, warum er hier war, markierte aber den Unschuldigen. Er hatte nicht wirklich den Mut, mich herauszufordern.

»Schöner Anzug, Billy«, sagte ich.

»Hm? Oh ja, danke.« Dann nuschelte er: »Hab lange dafür gespart.« Anschließend starrte er auf seine Füße, wich meinem Blick aus.

Nur Billy Warren war dämlich genug, von dem Geld, das er für die Planung eines Mordanschlags erhalten hatte, ungeniert teuer shoppen zu gehen. Hätte es auch den Hauch eines Zweifels an seiner Schuld gegeben, so war dieser in dem Moment verflogen, in dem uns Tommy Bailey erzählte, dass sich Billy gleich zwei Nutten auf einmal in ein Vier-Sterne-Hotel bestellt hatte.

»Halt die Hand auf, Billy«, sagte ich.

»Was?«

»Deine Hand.«

Zögerlich tat Billy Warren, wie ihm geheißen. Ich nahm seine Hand mit meiner Rechten, als wollte ich sie schütteln, dann zog ich Billys Ärmel mit der Linken hoch. Eine funkelnagelneue Omega kam zum Vorschein.

»Für die Uhr hast du bestimmt auch lange gespart.«

»Hab ich.« Billys Stimme war kaum mehr als ein Piepsen.

»Verstehe«, sagte ich, »und ich dachte schon, du hättest sie von dem Geld gekauft, das du dafür bekommen hast, dass du mir Jack Conroy auf den Hals hetzt.«

Billy riss die Augen auf. »Wie bitte, was? Um Gottes willen, wer hat denn das behauptet. Ich würde nie …«

»Jack Conroy hat das behauptet. Er ist zu uns gekommen, Billy, und hat uns alles erzählt. Der ist nicht so blöd, gegen uns zu arbeiten. Er weiß, was passiert, wenn er’s versucht. Er weiß, wir kriegen es sowieso raus, und wenn’s so weit ist, dann töten wir ihn.«

»Ich weiß ja nicht, was er euch erzählt hat, Davey, ehrlich nicht, aber der tickt doch nicht richtig. Der hat sie nicht mehr alle. Niemals würde ich mich auf so was einlassen, ich organisier doch keine Mordanschläge. Ich deale.«

»Wie viel hast du von deiner eigenen Ware konsumiert, Billy? Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest brav weiter dealen sollen, dann hättest du vielleicht ein längeres Leben gehabt.«

»O Gott, Mann, du kannst doch nicht auf Conroy hören. Der konnte uns noch nie leiden, nie …«

»Wer hat dich dafür bezahlt, dass du mich in die Falle lockst? Das ist das Einzige, was ich von dir hören will. Nenn mir den Namen.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Davey, ehrlich. Ich schwör’s beim Leben meiner Mutter!«

»Deine Mutter ist tot, Billy.« Ich wandte mich an Kinane. »Hol den Werkzeugkasten, Joe.«

»Nein, bitte, das ist doch nicht nötig.« Billy war jetzt in Panik.

Kinane ging zur Tür.

»Halt’s Maul, Billy.«

»Ich flehe dich an, Mann.«

»Halt die Fresse.«

»Bitte« – jetzt schluchzte er – »wir kennen uns doch seit Jahren, seit einer Ewigkeit …«

»Hör mir zu, Billy …« Und als Billy Warren mich erneut unterbrechen wollte, wiederholte ich: »Hör zu … hör zu … hör zu!« Endlich hielt er den Mund. »Ich möchte, dass du dich beruhigst, damit du mir zuhören kannst, während ich dir erzähle, was passieren wird.«

»Okay«, sagte er verunsichert.

»Kinane geht raus zum Wagen und holt seinen Werkzeugkasten.« Das war das Stichwort, Kinane trat durch die Tür, und Billy schüttelte schweigend den Kopf, Tränen rollten ihm übers Gesicht. »Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?«

Billy Warren blickte Kinane nach. »O Gott.«

»Du hast noch genau so lange Zeit, uns einen Namen zu nennen, wie Kinane braucht, um zum Kofferraum zu gehen und mit seinem Werkzeugkasten wieder hier hereinzukommen.«

Billy sah mir ins Gesicht, aber er wurde nicht schlau aus mir.

»Lässt du mich dann gehen?«, fragte er schließlich und riss verzweifelt die Augen auf. »Wenn ich dir den Namen nenne, lässt du mich dann gehen?«

»Nein.«

Billys Gesicht zerfiel, und seine Kinnlade klappte herunter. »Was …?« Aber sein Mund war zu trocken, als dass er verständlich hätte sprechen können.

»Du hast die Wahl, Billy. Wenn Kinane zurückkommt, hat er seinen Werkzeugkasten und eine Pistole dabei. Wenn du mit dem Namen rausrückst, um der alten Zeiten willen«, erklärte ich ihm, »benutzt er nur die Pistole.«

Bevor Billy Warren eine Entgegnung einfiel, hatte ich schon auf dem Absatz kehrtgemacht und den Raum verlassen. Als ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich nur ein einziges geschluchztes Wort: »Bitte.«

 

Ich lehnte an der Mauer des Gebäudes und kramte nach meinen Zigaretten. Ich zündete eine an, nahm einen tiefen Zug und sah mich um. Es war so still hier draußen und kalt. Außer dem Wind, der in den Bäumen raschelte, und Kinanes langsamen gemessenen Schritten war nichts zu hören. Ich sah, wie er den Kofferraum öffnete, hineingriff und den großen Werkzeugkasten herausholte, der zu seinem Markenzeichen geworden war. In unseren Kreisen kannte jeder Kinane und seinen Werkzeugkasten und fürchtete sich davor. Als Vollstrecker musste man Leute dazu bringen, einem Sachen zu verraten, die sie einem nicht verraten wollten, und manchmal waren dafür brutale Methoden nötig. Mir ist es egal, was die Liberalen sagen – Folter funktioniert. Ich hab’s gesehen. Mit eigenen Augen wurde ich wiederholt Zeuge, wie knallharte Typen zusammengebrochen sind. Alles nur eine Frage der Zeit – manchmal dauert es Tage, aber zum Schluss packen alle aus. Sie müssen nur an einen Punkt gelangen, wo sie nur noch wollen, dass der Schmerz aufhört, auch wenn es ihren Tod bedeutet. Ein Mann wie Kinane kann schlecht mit Waffen im Kofferraum durch die Gegend fahren. Wird er mit Messern oder Schlagringen erwischt, blüht ihm eine saftige Haftstrafe, also warum ein Risiko eingehen, wenn man denselben Effekt auch mit Hämmern, Nägeln, Meißeln oder Sägen erzielen kann. Wer schon mal ein Regal aufgebaut und sich dabei verletzt hat, wird verstehen, was ich meine. Kinane hat seinen Werkzeugkasten ständig dabei. Manchmal muss ich ihn nur erwähnen, um das zu bekommen, was wir brauchen. Angst ist eine ebenso wirkungsvolle Waffe wie Schmerz, vielleicht noch wirksamer.

Dieses Mal aber war es anders. Joe hatte eine Pistole dabei. Ich hatte ihn darum gebeten. Ich sah zu, wie er die Glock aus der Reisetasche im Kofferraum nahm, mit ihr in der einen Hand und dem Werkzeugkasten in der anderen wieder zurück zum Gebäude ging. Er trug die Glock offen. Wer hätte sie hier draußen sehen sollen? Sein Gesicht war eine emotionslose Maske. Ich fragte mich, was er dachte und was er zu Billy Warren sagen würde. Wir kannten Billy beide seit Jahren, aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Wir wussten, dass er die Grenze überschritten hatte.

Kinane sah mich nicht an, ging wortlos ins Haus. Er schloss die Tür hinter sich. Ich nahm einen weiteren, langen Zug von meiner Zigarette und wartete. Es war kalt, aber daran dachte ich jetzt nicht. Ich wartete, rauchte bis zum Filter und zündete noch eine an. Ich wartete so lange, bis ich mich fragte, ob mich mein Instinkt vielleicht doch getäuscht hatte. Dann hörte ich endlich und urplötzlich einen dumpfen Knall aus dem Inneren des Gebäudes. Es war die Glock, die in dem geschlossenen Raum abgefeuert worden war. Der Schuss war lauter, als ich gedacht hätte, aber trotzdem bestand keinerlei Gefahr, dass ihn jemand auf der Straße hätte hören können. Es war das Geräusch des sterbenden Billy Warren, und sein Abschied aus der Welt war so leise, dass nicht einmal die Vögel sich die Mühe machten, aus den Bäumen aufzufliegen.

Gangland: Thriller
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