25

Am folgenden Nachmittag ging ich ins Strawberry Pub, wo Kinane mit Neuigkeiten auf mich wartete. Er saß allein in einer Ecke. Ich setzte mich neben ihn. Er hatte bereits Bier geholt.

»Toddy ist weg vom Fenster«, sagte Kinane traurig.

Mir rutschte das Herz in die Hose: »Wie lange?«

»Einundzwanzig Jahre, vierzehn muss er mindestens schmoren.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn er nur die Mindeststrafe absitzt, ist er trotzdem fünfzig, bis er rauskommt.«

»O Gott«, sagte ich. Toddy hatte wirklich unglaubliches Pech gehabt, und jetzt war sein Leben ruiniert. Ich konnte nicht verhindern, dass er seine besten Jahre im Knast verbrachte. Immerhin hatte er dichtgehalten, sonst säße ich jetzt an seiner Stelle. »Pass auf, dass sich jemand um ihn kümmert, so gut es geht.«

»Ein Mädchen hatte er auch noch«, erinnerte mich Kinane, »er hat mit ihr zusammengewohnt.«

Toddy wusste, dass wir für ihren Unterhalt aufkommen würden, aber ich fragte mich, wie lange sie wohl am Ball blieb, wenn sie erst mal begriffen hatte, wie aussichtslos die Lage war. Ich meine, mal realistisch betrachtet, vielleicht wollte sie Kinder haben …

»Und seine alte Mutter?«

»Die natürlich auch«, stimmte ich zu. So war das, wenn einer von unseren Männern einfuhr, anders ging’s nicht. Der Unterhalt für die Mutter und die Freundin würde uns eine schöne Stange Geld kosten, ohne dass je etwas von ihnen zurückkam. Aber wir hatten keine andere Wahl. Schließlich war es das einzig Richtige und Anständige, aber nicht nur das. Hätten wir es nicht getan, wäre das die falsche Botschaft für unsere verbliebenen Mitarbeiter gewesen. »David Blake interessiert sich einen Scheiß für uns, wenn wir erwischt werden, also warum sollten wir uns einen Scheiß für David Blake interessieren?« Immerhin konnten wir Toddy mitteilen, dass seine Mama ein Dach über dem Kopf hatte, ihre Rechnungen bezahlt wurden und jede Woche eine Tüte mit Lebensmitteln vor ihrer Tür stand.

Ich nickte das dritte Bierglas auf dem Tisch an.

»Wo ist Palmer?«, fragte ich.

 

Palmer stand draußen und rauchte, lehnte an der Außenwand des Pubs. Er rauchte wieder mehr in letzter Zeit. Ich zündete mir ebenfalls eine an.

»Denkst du an Toddy?«

»Es will mir nicht in den Schädel«, gestand er, »so lange. Ich meine, man hat doch nur ein Leben.« Er schüttelte den Kopf. »Stell dir mal vor, du sitzt an ein und demselben Ort, kein Alkohol, keine Frauen, beschissenes Essen, um dich herum Geisteskranke und Vergewaltiger. Ich würde durchdrehen.«

»Das ist das Risiko, das wir eingehen«, sagte ich, wobei mir sofort leidtat, wie gefühllos es geklungen hatte. »Wir tun, was wir können«, sagte ich, verfluchte mich aber schon wieder, weil ich wie ein Arzt redete, der einem todkranken Patienten versichert, nur das Beste für ihn zu wollen.

 

Ich will mal klarstellen, welch unglaublich großes Pech Toddy tatsächlich hatte. Im Prinzip kostete ihn ein kaputtes Rücklicht vierzehn Jahre seines Lebens. Er war mit drei Kilo Heroin im Kofferraum zu den Sunnydale Estates gefahren. Es war noch früh am Abend und dämmerte gerade erst, aber er machte trotzdem schon mal das Licht an. Er hatte zwar den Stoff an Bord, aber eigentlich musste er sich keine Sorgen machen, weil in der Siedlung niemals Bullen auftauchen. Das ist eine absolute Tabuzone. Die Polizei kann sich nach Einbruch der Dunkelheit dort nicht blicken lassen, sonst gibt es eins auf die Mütze. Fluggeschosse fliegen von den Balkonen, sobald Uniformierte auch nur aus dem Wagen steigen. Inoffiziell haben sie es längst aufgegeben. Offiziell sorgen sie natürlich dafür, dass in den berüchtigten Sunnydale Estates dieselbe Ruhe und Ordnung herrscht wie in der Northumberland Street, aber vor Marks & Spencer sieht man, anders als im Wohnghetto, nie jemanden Heroin dealen. In der Siedlung aber ist jeder nach irgendetwas süchtig: Alkohol, Pillen, Klebstoff, Koks, Heroin oder Methamphetamin, die ganze Palette. Kaum jemand hat hier einen Job, es sei denn, man zählt Klauen dazu, was ich nicht mache. Ein oder zwei anständige Menschen wohnen hier, aber die große Mehrheit besteht aus minderwertigem Abschaum, der sich immer nur zudröhnen und sein beschissenes Leben vergessen will. Hier komme ich ins Spiel. Wie ich unseren Leuten immer wieder erkläre, handelt es sich um einen ganz schlichten Fall von Angebot und Nachfrage. Würden wir das Zeug nicht anbieten, würde es jemand anders tun. Und bei uns läuft wenigstens alles kontrolliert ab, die bescheuerten Bandenkriege haben wir einigermaßen im Griff.

Toddy war also, ohne sich auch nur im Geringsten was dabei zu denken, mit seinem Auto unterwegs gewesen. Der Streifenwagen, der an einem der Hochhäuser parkte, ist ihm gar nicht aufgefallen. Und aus keinem anderen Grund als wegen eines saublöden Zufalls fuhr er Toddy hinterher. Natürlich hat er gleich gemerkt, dass Bullen hinter ihm waren. Kaum hatte er das Blaulicht gesehen und die Sirene gehört, wurde er auch schon rausgewunken. In dem Moment muss er überlegt haben, abzuhauen, aber wie weit wäre er gekommen, da sie ihm doch direkt im Nacken saßen und jederzeit über Funk Verstärkung anfordern konnten? Nicht weit. Also denkt er, die werden schon nichts finden, und wenn doch, dann bügeln wir das irgendwie aus, also lässt er’s darauf ankommen. Toddy fährt rechts ran. Ich frage mich, ob das der Moment ist, den er jetzt am meisten bereut. Oder dass er überhaupt für mich gearbeitet hat.

Es waren zwei Polizisten, beide noch sehr jung und erst mal auch sehr höflich. »Schönen guten Abend, Sir, ist Ihnen aufgefallen, dass eines Ihrer Rücklichter ausgefallen ist, Sir?« Also antwortet er: »Verzeihung, Officer, aber das wusste ich nicht. Ich kümmere mich gleich bei der nächsten Gelegenheit darum.« Vielleicht waren es seine guten Manieren, die die Beamten misstrauisch machten. Polizisten sind es nicht gewohnt, dass sich in Sunnydale jemand entschuldigt. Egal warum, jedenfalls baten sie ihn, auszusteigen. Zu dem Zeitpunkt hielt sich Toddy immer noch für unantastbar, weil er nicht wie ein Verbrecher aussah. Also stieg er aus und stand da, legte die Hände aufs Autodach, während einer von beiden den Wagen durchsuchte und der andere seinen Ausweis verlangte. Es wurden ihm ein paar Fragen gestellt, woher er kam und wohin er wollte, aber nichts, womit ein Profi wie Toddy nicht klargekommen wäre. Natürlich wurde er nervös, als der eine, der den Wagen durchsuchte, plötzlich im Kofferraum kramte, andererseits befand sich der Stoff in einem extra dafür gebauten Fach an der Seite, das sich nicht öffnen ließ, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Aber irgendwie kriegt es der Bulle trotzdem hin – und was findet er? Drei Kilo verkaufsfertiges Heroin.

Bevor Toddy reagieren kann, schleudern sie ihn gegen den Wagen und legen ihm Handschellen an, dann schieben sie ihn auf den Rücksitz des Streifenwagens und melden sich über Funk bei der Wache. Die waren so aufgeregt, gingen ab, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen, und Toddy war geliefert. Ihm stand eine saftige Freiheitsstrafe bevor.

Kaum hatte sich die Neuigkeit von seiner Festnahme herumgesprochen, war die Kacke am dampfen. Die Vorgesetzten der diensteifrigen Beamten wussten nicht, ob sie die beiden befördern, ihnen einen Orden verleihen oder sie wegen eines nicht klar definierten Verstoßes gegen die Polizeiordnung feuern sollten. Und wir, na ja, wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, mit Anwälten telefoniert, mit Amreins Leuten und unsere Leute bei der Polizei zur Rede gestellt, wollten eine Erklärung. Immerhin bezahlen wir eine Menge Geld dafür, dass so was auf keinen Fall passiert. Wir fragten uns, ob es einen Verräter gab, der den beiden jungen Beamten einen Tipp gegeben hatte.

Wie sich herausstellte, war es einfach nur Scheißpech gewesen. Die beiden Polizisten, die Toddy einkassiert hatten, waren Hohlköpfe, noch grün hinter den Ohren, direkt von der Polizeischule und nur deshalb gemeinsam im Einsatz, weil sie ihrem Sergeant auf den Geist gingen. Normalerweise hätten sie sich ohne einen älteren, erfahreneren Kollegen keinem Einsatzwagen nähern dürfen, aber weil ihr Chef seine Ruhe wollte, hatte er sie auf Streife geschickt. Da Spieltag war, hatten sie aufpassen sollen, dass auswärtige Fans keine Schlägerei auf dem Brachland beim Fluss organisierten. Sie waren auf den Blödsinn hereingefallen und losgezogen, um nach Hooligans Ausschau zu halten.

Nachdem sie ungefähr eine Stunde lang Beton angestarrt und Unkraut hatten wachsen sehen, beschlossen sie, »die Initiative zu ergreifen«, wie einer der beiden später in seinem Bericht schrieb. Sie suchten sich einen der heruntergekommenen Wohnblocks aus, parkten, wurden auf wundersame Weise vom einheimischen Pöbel verschont und warteten, bis ein Wagen mit kaputtem Rücklicht vorbeigefahren kam. Der arme Toddy wurde von keinen Spezialisten der SOCA oder des Drogendezernats geschnappt, sondern von zwei jungfräulichen Streifenbullen.

Ich wusste, dass Palmer an Toddy dachte. Wir dachten alle an ihn. Er war ein guter Junge und hatte das Richtige getan: die Klappe gehalten. Aber was bedeutete das für ihn? Es bedeutete, dass er den Zorn des Richters in vollem Maß zu spüren und ein Urteil aufgebrummt bekam, das ihn wie den Drogenbaron von Sunnydale dastehen ließ. Der Chief Constable stellte sich hinterher draußen vors Gerichtsgebäude und lobte seine furchtlosen jungen Kollegen in den Himmel, dieser verfluchte Heuchler.

Wenn der ganze Wirbel in der Presse erst mal vorbei war, würde Toddy immer noch im Knast sitzen und jede Menge Zeit haben, sich zu fragen, was er an jenem Tag anders hätte machen sollen. Er wird sein Schicksal verfluchen, an seine Freundin denken und wissen, dass kein Mädchen auf der Welt vierzehn Jahre lang einem verurteilten Drogendealer treu bleibt. Nicht mehr lange, und sie springt zu einem anderen in die Kiste. Ich meine, wenn sie gut ist, wartet sie vielleicht eine Weile; sechs Monate, vielleicht sogar ein Jahr, aber irgendwann ist es vorbei, und das weiß er. Solange er im Knast sitzt, kann Toddy absolut nichts dagegen tun.

 

Drei Tage nach Arthur Gladwells Beerdigung setzten wir uns zusammen. Die Atmosphäre war keinesfalls respektvoller als sonst.

»Bist du immer noch dabei?«, rief Ray Fallon Kinane über den Konferenztisch des Copthorne Hotel zu. »Ich dachte, du wärst schon seit Jahren im Ruhestand.« Fallon war Kinanes Widerpart und in Glasgow ebenso legendär wie Joe in Newcastle. Die Gladwells erledigten ihre Drecksarbeit nicht selbst. Einen Teil überließen sie dem ein Meter neunzig großen und mit Steroiden vollgepumpten Schläger, der jetzt gegen Kinane hetzte. Fallons blaustichige Tattoos auf den kräftigen Unterarmen und dem Bizeps verzogen sich, als er vorwurfsvoll mit dem Finger auf meinen Vollstrecker zeigte. Fallons Nase war so oft gebrochen gewesen, dass sie fast platt an seinem Gesicht klebte, und seine Augen waren voller Hass. Er bleckte die Zähne wie der Kampfhund, der er im Prinzip ja auch war.

»Wenn du näher kommst, versetze ich dich in den Ruhestand. Ich reiß dir die verfluchten Arme raus und prügel dich damit tot, du blödes Arschloch«, knurrte Kinane.

»Das hättest du vor zwanzig Jahren vielleicht noch gekonnt«, räumte Fallon ein. »Damals war ich nämlich erst zehn. Und du? Vierzig?«

»Vor zwanzig Jahren?« Kinane tat, als würde er darüber nachdenken. »Da hab ich großmäulige Schwuchteln aus Glasgow verdroschen. Ist so ein Hobby von mir.«

»Na schön, ihr beiden«, unterbrach ich das Geplänkel, »nachher holen wir ein Lineal und messen aus, wer den Längeren hat, aber einstweilen stellt ihr eure Handtäschchen ab und benehmt euch.«

Ich sah zu Alan Gladwell rüber, der in sich hineingrinste, dann aber Fallon zunickte. Letzterer war einigermaßen angefressen, weil er von mir den Mund verboten bekam, aber wir waren hier, um übers Geschäft zu reden, und nicht, um uns in einem der besseren Hotels von Newcastle zu prügeln. Die Hauptakteure setzten sich, dazu gehörten Alan Gladwell, Fallon sowie die beiden anderen Gladwell-Brüder, Malcolm und Andrew. Amrein saß zwischen uns, fungierte als Moderator. Seine Leibwächter standen an der Wand Spalier und verhinderten, dass sich die beiden Parteien aufeinander stürzten. »Wollen wir anfangen?«, fragte er.

Ich sah Alan Gladwell an. Er musterte mich eindringlich, und mir fiel auf, wie unglaublich er seinem alten Herrn ähnelte, ganz anders als sein älterer Bruder Tommy. Alan hatte dieselbe lange Nase wie Arthur, Augen wie eine Ratte und Fünf-Uhr-nachmittags-Stoppeln im Gesicht.

»Amrein hat mir dieses Treffen vorgeschlagen. Er meinte, du wolltest Geschäftliches besprechen, deshalb habe ich mich bereit erklärt, dich anzuhören. Wir müssen aber vorher noch was klären.«

»Was soll das sein?«, fragte er.

»Dein Bruder Tommy kam auch nach Newcastle, aber nicht, um zu reden, und er ist nicht wieder nach Hause gefahren. Du und ich, wir beide wissen das. Wir können so tun, als wär’s nicht so, aber dann würden wir uns was vormachen. Du weißt, dass er sich Bobby Mahoneys Imperium unter den Nagel reißen wollte, und auch, dass das nicht geklappt hat. Ich wundere mich, dass du unter den gegebenen Umständen mit uns Geschäfte machen willst. Es gibt einige, die das mit Misstrauen betrachten.«

Alan Gladwell ließ auf seine Antwort warten. Er schindete Zeit, indem er nach einer schweren Glasflasche mit kohlesäurehaltigem Wasser griff und sich ein Glas voll einschenkte, dann ließ er sich wieder auf seinem Stuhl nieder und sah mich an. Offensichtlich fiel es ihm schwer, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.

»Tommy war mein großer Bruder, und ich habe ihn geliebt …« Er hustete, als wollte er verhindern, dass seine Stimme seine Gefühle verriet. »Als er nicht wiederkam, haben wir alle um ihn getrauert, ich auch.«

»Sein« – er suchte nach dem richtigen Wort – »Verschwinden … hat meiner Familie großen Kummer bereitet. Wir mussten uns um seine Kinder kümmern, ihnen Dinge erklären, die nicht für Kinderohren bestimmt sind. Tommys Verlust hat meinen Vater um Jahre altern lassen.« Er sah mich jetzt direkt an, als wäre außer uns beiden niemand im Raum. »Aber eines habe ich nie aus den Augen verloren« – er hustete erneut, räusperte sich – »Tommy hat über die Stränge geschlagen. Was er plante, war falsch. Er hat euch verarscht und dafür einen hohen Preis bezahlt.«

»Na gut«, sagte ich.

»Wenn ich euch den Krieg erklären wollte, dann nicht deshalb. Tommy hat getan, was er getan hat, und Bobby hat getan, was er für richtig hielt. Das muss mir nicht gefallen, und es gefällt mir auch nicht, aber ich kann nachvollziehen, wie es dazu kam. Wenn wir uns an euch rächen wollten, hätten wir das längst getan, aber mein Dad hat keinen Sinn darin gesehen. Fehden kosten Geld, und auf beiden Seiten sterben gute Leute. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir der Polizei und allen Wichsern da draußen, die ein Stück von unserem Kuchen wollen, immer einen Schritt voraus sind. Hab ich recht?«

»Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können.«

»Und da ist noch was«, sagte er und sah Amrein unsicher an. Dieser nickte aufmunternd.

»Der Raum ist sauber«, versicherte er. »Sie können ganz ungezwungen sprechen.«

»Das Töten«, sagte Gladwell, »ich will, dass es aufhört.« Ich muss ungläubig geguckt haben, denn er fuhr fort: »Das war der Stil meines Vaters. Er hielt es für die einzige Möglichkeit, sich in einer Stadt wie der unseren an der Spitze zu behaupten. Vielleicht war das auch so, aber die Zeiten haben sich geändert. Man kann heute nicht mehr Leute ermorden und erwarten, dass die Polizei beide Augen zudrückt. Nicht alle sind korrupt, nicht mehr. Und was haben wir überhaupt davon? Mein Vater stand zweimal wegen Mordes vor Gericht und hätte um ein Haar lebenslänglich bekommen. Den Stress will ich mir nicht antun. Er hat getötet und ich auch, aber ich behaupte, es geht auch anders. Wir sollten das Morden nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn überhaupt, dann sollte es wirklich nur der allerletzte Ausweg sein. Verstehst du, was ich meine?«

Das tat ich, aber ich war hin- und hergerissen, weil er punktgenau meine eigenen Ansichten wiedergab. Erzählte er mir, was ich hören wollte?

»Ich wäre froh, wenn ich’s nie wieder tun müsste. Klar, wenn jemand aus der Reihe tanzt, gibt’s was auf die Löffel, aber das sollte genügen. Ich denke, du, ich und Amrein können uns darauf einigen, und fürs Geschäft wäre es auch gut, weil uns die Kollegen in Uniform und die Politiker in Ruhe lassen, wenn wir selbst dafür sorgen, dass Ordnung bei uns herrscht.«

»Leuchtet mir ein«, gab ich zu.

»Dann schlage ich vor, dass wir uns darüber unterhalten, wie wir mit dieser Sache in Edinburgh umgehen, sonst wird sich ganz bestimmt jemand anders einschalten und dort weitermachen wollen, wo Dougie Reid aufgehört hat. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich will nicht mit ansehen müssen, wie einer in Edinburgh mit Heroin reich wird und sich anschließend Glasgow unter den Nagel reißt. Ich weiß, dass du etwas Ähnliches auch schon gedacht hast.«

»Hab ich.«

»Mein Vater ist tot, aber ich möchte nicht, dass irgendwelche Unklarheiten darüber entstehen, wer bei uns das Sagen hat. Ich bin der Einzige, der die Männer, die Durchsetzungsfähigkeit und das Geld hat, ein Unternehmen unserer Größe zu führen.«

Er nahm einen weiteren Schluck Wasser, und ich fragte mich, ob er nervös oder einfach nur durstig war. »In Edinburgh ist das anders. Die Polizei da oben hat ein paar Glückstreffer gelandet, und einige hochkarätige Akteure sind von der Bildfläche verschwunden, so dass jetzt beinahe so was wie Anarchie dort herrscht. Jeder Kleinganove dealt inzwischen ein bisschen Koks hier und Heroin da, Leute werden an Garagentore genagelt und von Brücken geworfen. Der Polizei gefällt das gar nicht.«

»Hast du mit denen geredet?«

»Es gab ein paar informelle Gespräche mit ausgewählten Vorgesetzten, die wir schon länger kennen.«

Amrein schaltete sich ein: »Gespräche, die wir vermittelt haben.« Als hätte ich je daran gezweifelt. Er wollte mir nur in Erinnerung rufen, dass er seine regelmäßigen Bezüge wert war.

»Die sind nicht dumm«, fuhr Gladwell fort. »Die wissen, dass es eine Marktlücke gibt, und wenn sie nicht von jemandem geschlossen wird, geht es in Edinburgh bald zu wie in der Innenstadt von Kabul. Vergangene Woche schoss eine Kugel durch das Verdeck eines Buggys, nur Zentimeter an dem darin sitzenden Kind vorbei. Die Geschichte landete auf den Titelseiten der Boulevardblätter. Die Presse behauptet, die Polizei habe die Situation nicht mehr im Griff, in Edinburgh gebe es schon jetzt kein Recht und keine Ordnung mehr.«

Nach den Angriffen auf mich und meine Männer sah es in Newcastle nicht viel anders aus, dachte ich, aber ich ließ ihn weiterreden. »Der Polizei gefällt so was gar nicht. Ich habe meinen Kontaktpersonen versichert, dass ich mein Möglichstes tun werde, um das Chaos zu schlichten, aber eigentlich haben wir mit unserer eigenen Stadt schon genug zu tun.«

»Geht uns genauso«, erklärte ich.

»Ja, aber … zusammen …« Er musste den Satz nicht weiter ausführen. »Ich schlage vor, du lässt es dir durch den Kopf gehen. Ich stelle ein paar Leute ab, du auch, dann machen wir halbe-halbe. Du weißt, dass das sinnvoll ist. Im Prinzip haben wir grünes Licht von oberster Stelle.«

Ich nickte. »Ich überleg’s mir«, versicherte ich ihm.

»Mach das«, erwiderte er. »Ich kann dir noch ein bisschen Zeit geben, aber nicht zu viel. Amrein vereinbart einen weiteren Termin, und wenn ich wiederkomme, will ich deine Antwort hören.«

»Gut.«

Der Deal leuchtete mir ein, ich hatte nur einen einzigen nagenden Zweifel. Konnte ich wirklich einem Mann vertrauen, dessen Bruder ich mit einer Machete in Scheiben geschnitten hatte? Sollte ich glauben, dass Alan Gladwell geläutert war, oder wollte ich das nur?

 

Ich hatte Hotels und Hotelessen satt. Keine Lust mehr, in dunkle Gänge zu schauen und zu fürchten, dass sich jemand auf mich stürzt, noch bevor ich dazu komme, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Andererseits wollte ich mich aber auch nicht bei Palmer einquartieren oder bei meinem Bruder übernachten. Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich allein, wollte einkaufen und für mich selbst kochen, mein Essen mit einem Glas Wein runterspülen und vielleicht einen alten Film gucken. Für alles andere war ich zu müde.

Nach dem Treffen mit den Gladwells ging ich mit Palmer zum Wagen. »Ich fahre heute in unser Townhouse«, sagte ich, »wenn du mich brauchst, findest du mich dort.«

»Okay«, sagte er, mehr aber auch nicht. Irgendwas an der darauffolgenden Stille beunruhigte mich.

»Noch nicht angekommen?«

Er schüttelte langsam den Kopf.

Ich holte tief Luft. »Ich fasse nicht, was sich dieser Wichser herausnimmt. Wofür, zum Teufel, hält der uns? Für einen Haufen Amateure, die ein bisschen Pot an Sechstklässler verticken?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Warum verkauft er mich dann für blöd? Er ist seit Jahren im Geschäft und steht in dem Ruf, zu liefern, aber kaum hat er unser Geld, kriegt er es nicht hin, die Ware in Amsterdam abzusetzen. Komm schon, Palmer, das gehört für den doch zum Alltagsgeschäft.«

Palmer zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Problem aufgetaucht, und jetzt kriegen sie das Zeug nicht außer Landes. Einer der Beamten, mit denen er lange gearbeitet hat, ist aufgeflogen. Nichts, das er nicht wieder hinkriegt, meint er.«

»Und du glaubst es ihm?«

»Warum sollte er lügen?«

»Dann sag ihm, dass er sich beeilen soll. Die Sache ist ganz einfach: Entweder schickt er uns die Ware, oder er gibt uns die Million zurück. Eine dritte Möglichkeit, das Geschäft abzuschließen, gibt’s auch noch, aber ich glaube kaum, dass ihm die gefallen würde.«

»Vorsicht«, mahnte Palmer, »ich sag dir doch, seine Organisation ist groß. Wir wollen keinen Krieg mit denen.«

»Was schlägst du vor?«

»Ich weiß, dass du unzufrieden bist, aber ich denke, wir sollten ihm noch Zeit geben.«

»Haben wir eine andere Wahl?«, fragte ich. Die Frage war rhetorisch.

 

Ich traf DI Sharp in einer unserer Wohnungen in der Innenstadt.

»Ich soll was?«, fragte er, als hätte ich ihm vorgeschlagen, sich von einem Hochhaus zu stürzen. »Ist das dein Ernst?«

»Was glaubst du wohl?«

»Ich soll Alan Gladwell ausspionieren? Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist? Du kennst doch die Geschichten. Alan Gladwell war seit Tommys Tod die treibende Kraft im Unternehmen seines Vaters. Der überlässt die Drecksarbeit nicht seinen Männern.« Das war eine Spitze gegen mich, aber ich reagierte nicht darauf. »Gladwell macht alles selbst. Der hat Spaß daran, anderen weh zu tun. Der zerschreddert Menschen und zündet sie an. Einmal hat er jemanden kastriert!«

»Die Geschichte hab ich auch gehört.«

»Das ist keine Geschichte, das ist die Wahrheit. Dem Letzten, der versucht hat, Arthur Gladwell Glasgow abzunehmen, hat Arthur Gladwell persönlich den Schwanz und die Eier abgeschnitten!« Ich wartete, bis er sich beruhigt hatte und weitersprechen konnte. »Das ist ein verfluchter Psychopath. Dem ist es scheißegal, ob du Zivilist, Verbrecher oder Bulle bist.«

»Dann ist er ein Idiot.«

»Das glaube ich kaum«, erklärte Sharp. »Ich werde Alan Gladwell nicht in Glasgow beschatten, wo er zu Hause ist und sich auskennt. Nur eine Frage der Zeit, bis er es merkt. Ich habe Bilder gesehen von Leuten, an denen er sich gerächt hat, und das war kein schöner Anblick, glaub mir. Nein danke, diesmal nicht.«

Daran, dass Sharp anscheinend völlig vergessen hatte, in welcher Position er sich befand, merkte ich, dass er sich wegen Alan Gladwell wirklich in die Hose machte. »Erstens, Sharp, das ist keine Bitte, sondern ein Befehl«, sagte ich durch zusammengebissene Zähne.

»Moment, warte mal …«

»Halt die Klappe«, fuhr ich ruhig fort, und wenigstens reichte sein Verstand, um zu verstummen. »Du sollst nicht durch Glasgow fahren und dich an Alan Gladwells Wagen hängen. Ich will nur, dass du so viel wie möglich über ihn herausfindest und mir berichtest.«

»Gut«, sagte er, »tut mir leid, ich bin nur …«

»Aber glaub bloß nicht, es reicht, wenn du ein paar Polizeiakten durchblätterst und mit einigen korrupten Kollegen sprichst. Ich will, dass du ihm auf die Pelle rückst, du musst was finden.«

»Und was genau soll ich finden?«

»Etwas, das ich verwenden kann!«, blaffte ich ihn an. »Im Moment hat Alan Gladwell nördlich der Grenze sämtliche Trümpfe in der Hand. Ihm gehört Glasgow, und mit oder ohne uns wird er schon bald Edinburgh regieren. Wenn er eine Schwachstelle hätte, würde das meine Verhandlungsposition durchaus stärken, aber ich weiß erst, wo sie liegt, wenn du sie gefunden hast. Komm schon, du weißt genau, wovon ich rede. Heb ein paar Steine auf und erzähl mir, was darunter hervorkriecht.«

»Okay, ich werde mein Bestes tun.«

Ich hatte echt genug davon, ständig allein mit dem ganzen Druck klarkommen zu müssen. Ich ging zu dem Stuhl, auf dem Sharp saß, legte ihm meine Hände auf die Schultern und beugte mich zu ihm herunter. Ich musste meine Wut zügeln, weil ich das Gefühl hatte, gleich zu explodieren. Was auch immer er in meinem Gesicht sah, es schien ihn zu beunruhigen. »Dein Bestes ist nicht gut genug, Sharp. Besorge mir etwas, das ich verwenden kann, sonst hat’s keinen Sinn, dich weiter zu beschäftigen. Dann bist du nur noch ein teures Luxusgut, das ich mir nicht leisten kann – und dann muss ich dich abstoßen. Hast du das kapiert?«

Er nickte hastig: »Hab ich kapiert.«

»Ist auch besser so«, ermahnte ich ihn.

Gangland: Thriller
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