18

Den Befehl, Billy zu suchen, musste ich gar nicht geben. Es lag auf der Hand. Alle waren auf der Straße und hielten nach Billy Ausschau. Er würde noch am selben Tag gefunden werden, ob er wollte oder nicht.

Was war so plötzlich in Billy Warren gefahren, dass er sich als Mittelsmann zwischen einem Killer und dessen Auftraggeber zur Verfügung stellte? Ich konnte nur raten. Anscheinend hatte ich Billy völlig falsch eingeschätzt, und das beunruhigte mich, denn an sich war Billy denkbar einfach gestrickt. Ich glaubte, ich hätte ihm eine Heidenangst eingejagt, als ich ihn dabei erwischte, wie er Bobby hinterging. Er wusste, dass ich ihn deshalb hätte umlegen können, tatsächlich aber ließ ich ihn leben und bezahlte ihn weiterhin. Zugegeben, ich hatte ihm die Flügel gestutzt, aber das war ein kleiner Preis für die Erlaubnis, weiteratmen zu dürfen.

Jetzt schien es, als hätte ich mich in Billy Warren getäuscht. Er war zu ehrgeizig, um sich mit einem rechtschaffenen Lohn für rechtschaffene Arbeit zufriedenzugeben. Er wollte mehr und war bereit, mich dafür zu opfern.

 

Ich parkte meinen Wagen mit zwei Reifen auf dem Gras, dann stieg ich aus, kletterte über das Tor und trottete über das Feld, verfluchte das lange, nasse Gras und DI Sharp – in genau dieser Reihenfolge. Als ich am anderen Ende des Ackers angekommen war, kletterte ich erneut über ein Tor, überquerte die Straße und stieg zu Sharp in den Wagen.

»Müssen wir jetzt bei jedem Treffen diesen John-le-Carré-Quatsch nachspielen?«, fragte ich.

»Ja, müssen wir. Hast du eine Ahnung, wie verbissen die dir auf den Fersen sind? Wenn ich auch nur mit dir gesehen werde, bin ich geliefert.«

»Was hast du für mich?«, fragte ich. »Hoffentlich was Gutes, ich hab mir nämlich gerade ein sehr schönes Paar Schuhe ruiniert.«

»Offiziell weiß niemand, wer für den Ausfall des Kamerasystems verantwortlich war. Es gibt keine Verdächtigen, und selbst wenn, würde es niemand zugeben.«

»Erzähl weiter«, drängte ich. »Warum nicht?«

»Weil«, hob er feierlich an, »uns korrupte Polizisten blöd dastehen lassen.« Er sprach ohne erkennbare Ironie.

»Nenne mir einen Namen, Sharp.«

»Ich hab was viel Besseres«, erklärte er, griff in seine Tasche und zog ein Foto heraus. Es war ein zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großes Schwarzweißfoto aus einer Überwachungskamera, und es zeigte einen untersetzten Mann Mitte dreißig. Eher ein Gangster als ein Polizist. »Das ist Detective Sergeant Ian Wharton vom Drogendezernat. Anscheinend hat er dem Büro der Sicherheitsfirma, die sich um die Kameras kümmert, ein paar Tage vor dem Systemausfall einen Besuch abgestattet. Angeblich ist er da mit einem Kollegen aufmarschiert, um Filmmaterial zu sichten, was Wharton natürlich abstreitet. Er konnte sich ausweisen, und der zuständige Mitarbeiter hat ihn auf seine Bitte hin allein gelassen.«

»Wodurch der zweite Mann mehr als genug Zeit hatte, sich in die Software zu hacken und das System zu einem bestimmten Zeitpunkt in der näheren Zukunft abstürzen zu lassen«, riet ich.

»Das vermute ich.«

Ich dachte einen Augenblick darüber nach. »Was passiert jetzt mit DS Wharton?«

»Nichts«, sagte Sharp, »erst mal. Der Mann vom Sicherheitsdienst muss sich geirrt haben.«

»Wie meinst du das?«

»Zuerst hat er dem ermittelnden Beamten erzählt, Wharton sei in Begleitung eines weiteren Mannes erschienen. Als er vorgeladen wurde, gab er aber zu, dass er sich getäuscht hatte und Wharton allein gekommen war. Es gab keinen zweiten Mann.«

»Man kann sich ja mal irren.«

»Die ermittelnden Beamten waren nicht ganz so verständnisvoll wie du. Sie haben ihn in die Mangel genommen, aber er hat nicht nachgegeben, und natürlich verfügt DS Wharton auch nicht über das technische Wissen, um sich allein in das Überwachungssystem der Stadt zu hacken. Das heißt, man kann ihm nichts nachweisen und er ist nicht länger suspendiert.«

»Wo ist Wharton jetzt?«

»Man hat ihm empfohlen, sich erst mal Urlaub zu nehmen. Keine Ahnung, wohin er gefahren ist, aber er ist nicht mehr in der Stadt.«

»Scheiße, er könnte der Einzige gewesen sein, der ohne Mittelsmann engagiert wurde. Gib mir das Bild«, verlangte ich.

»Was hast du vor?«, fragte er, wirkte dabei wie immer ängstlich.

»Nichts«, versicherte ich ihm. »Ich hör mich nur mal um.«

 

Palmer wollte mich allein sprechen, also fuhren wir zu ihm nach Hause. Ich saß am Küchentisch, während er uns Kaffee kochte. Ich sah mich um.

»Wie lange wohnst du jetzt schon hier?«

Er zuckte mit den Schultern: »Ungefähr drei Jahre.«

»Sieht immer noch aus, als wärst du gestern erst eingezogen.« Erstaunlich, wie wenig Palmer besaß. Ich bezahlte ihn gut, aber es fiel mir schwer, etwas zu finden, das ihm wirklich gehörte. An der Wand im Wohnzimmer hing ein 42-Inch-Plasmabildschirm, darunter eine Playstation mit ein paar Spielen, aber die Sofas waren schon vorher hier gewesen. Das Haus war ein ehemaliges Musterhaus, und ich schwöre, Palmer hatte es nur gekauft, weil er sich keine Extramöbel mehr anschaffen musste. Auf dem Esstisch stand ein Laptop, den er einschaltete.

»Mrs. Evans macht hier für mich sauber«, sagte er. Die Gründlichkeit seiner Putzfrau hatte ich nicht gemeint, und das wusste er, aber das Thema behagte ihm nicht. Der Widerwille gegen jegliche Form des Besitzes war eine Facette an Palmers Persönlichkeit, die mich faszinierte und um die ich ihn in gewisser Weise beneidete. Er schien überhaupt keinen Ballast mit sich herumzuschleppen. Es gab keine Kinder, nur eine Ex, wobei die ehemalige Mrs. Palmer so gut wie nie erwähnt wurde, außer wenn er behauptete, sie habe wahrscheinlich gut daran getan, sich von ihm zu trennen. Hin und wieder sahen wir ihn mit einer Frau, aber er hielt sie immer auf Armeslänge Abstand, und bis wir überhaupt ihren Namen erfuhren, war sie schon wieder Geschichte. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich eines Tages zu Palmer rausfahren und feststellen würde, dass er ohne jede Erklärung verschwunden war.

»Worum geht’s?«, fragte ich ihn.

»Jaiden Doyle«, sagte er.

»Ach«, erwiderte ich trocken, »bei dem ganzen Theater hab ich Doyley fast vergessen.«

»In dem Fall gibt’s aber Filmmaterial.«

»Ich denke, da ist nicht viel darauf zu sehen, oder? Hast du doch behauptet.«

»Hab ich«, stimmte er mir zu, »aber dann hab ich’s mir noch mal angesehen, und da ist was, das ich dir zeigen möchte.«

Er drehte den Bildschirm so, dass ich das starre Schwarzweißbild von Jaiden Doyle beim Verlassen des Hotels sehen konnte. Palmer klickte auf den Pfeil, und das Bild bewegte sich. Ich sah, wie sich Doyley vom Hotel entfernte. Er machte ein paar Schritte, dann trat eine dunkle, unscharfe Gestalt ins Bild, richtete eine Waffe auf Doyley und schoss ihm zweimal in den Rücken. Doyley ging zu Boden, der Mann verschwand, und das Bild erstarrte wieder.

»Was meinst du?«

»Ich kapier’s nicht.«

»Guck’s dir noch mal an«, sagte er, und das tat ich.

»Wer ist das?«

»Wie sieht er aus?«

»Der Schütze?«

»Nein, Doyley.«

»Doyley?«, fragte ich. »Wie meinst du das? Er sieht aus wie Doyley.«

»Okay«, sagte er vernünftig, »dann beschreibe ihn. Tu so, als würdest du ihn nicht kennen.«

»Wieso?«

»Mir zuliebe.«

»Na schön. Er ist ungefähr eins achtzig groß, schlank, hat kurze dunkle Haare, trägt eine Sonnenbrille, ein elegantes Sakko und eine Hose, dazu ausnahmsweise mal schwarze Schuhe. Das war’s.«

»Und wen hast du da gerade beschrieben?«, fragte er.

»Doyley«, erwiderte ich ungeduldig.

»Dich selbst«, korrigierte er mich. »Du hast dich haargenau selbst beschrieben. Ich glaube, wir waren auf dem Holzweg, die ganze Zeit. Das war schluderig. Der Mann, der auf Jaiden Doyle geschossen hat, dachte, er hätte dich im Visier.«

Erneut betrachtete ich das starre Schwarzweißbild des elegant gekleideten, großen schlanken Mannes mit der Sonnenbrille und sah es mit neuen Augen. »Ach du Scheiße« war alles, was ich herausbrachte.

 

Wir saßen bei Palmer im Garten, tranken Bier und gingen alles noch mal durch.

»Und jetzt?«

»Weißt du, was mir am liebsten wäre?«, sagte Palmer.

»Wenn ich Großbritannien verlasse, bis du hier durchblickst.«

»Genau.«

»Du bist diese Woche schon der zweite, der mich auffordert, das Land zu verlassen. Bei der Polizei haben sie’s mir auch gesagt, und ich denke, ich werd’s machen. In zwei Tagen werde ich sehr öffentlich abreisen. Ich gönne mir ein paar Tage mit Sarah in Hua Hin, dann komme ich zurück. Aber diesmal bleibe ich unter dem Radar. Niemand soll wissen, dass ich da bin. Jedenfalls erst mal nicht. Wenn wir’s richtig angehen, klappt das.«

»Ich denke, du solltest länger bleiben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie willst du rauskriegen, wer mich umbringen will, wenn ich fünftausend Meilen von hier auf meinem Anwesen hocke und mich nicht mal traue, mich an meinem eigenen Swimmingpool blicken zu lassen?«

»Ich finde schon eine Möglichkeit«, versicherte er mir, aber die Antwort kam ein bisschen schleppender als sonst.

»Ich wüsste nicht, wie. Die Liste der Leute, die von meinem Ableben profitieren würden, ist lang, das ist uns allen klar, aber keiner kann mir was anhaben, wenn ich außer Landes bin.«

»Und genau deshalb ist es ja eine gute Idee, wenn du mit dem nächsten Flug verschwindest«, warf er ein.

»Du kapierst es nicht«, sagte ich. »Ich würde nichts lieber tun, als abzutauchen und mich aus der Schusslinie zu entfernen, aber dann lösen wir das Problem nie. Wir haben nur dann eine Chance, der Sache auf den Grund zu gehen, wenn ich mit dir, Joe und Danny hierbleibe. Irgendjemand in dieser Stadt muss doch was wissen, nur so kriegen wir heraus, wer die Fäden zieht. Und dann bringst du ihn um, bevor er mich umbringt.«

»Dir ist hoffentlich klar, wie riskant das ist.« Er sah mich an wie einen Irren. »Du willst einen Berufskiller aufscheuchen, um rauszufinden, wer ihm den Job verschafft hat. Und wenn der nächste Killer zu schnell ist? Wenn wir ihn nicht zuerst erwischen?«

»Dann bist du arbeitslos«, erklärte ich, »und ich bin unter der Erde. Sonst noch Fragen?«

»Nein«, brummte er.

»Sieh mal, so was kann ich gut. Ich kenne diese Stadt mein Leben lang und hab so was schon mal gemacht.« Dieses Mal war ich allerdings nicht auf der Suche nach einem verlorenen Koffer voller Geld, sondern nach einem Auftragsmörder. Nur weil Palmer zwei Killer in Quayside erledigt hatte, würde es nicht aufhören. Es würde so lange weitergehen, bis entweder der Mann, der die Killer angeheuert hatte, tot war oder ich. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Ich musste die Sache durchziehen.

»Für Bobby hab ich so was Ähnliches gemacht, schon vergessen?«, fragte ich.

»Klar«, räumte er ein, »das weiß ich noch.«

Ich war froh, dass er der Versuchung widerstand, mir ins Gedächtnis zu rufen, wie die Geschichte damals ausgegangen war.

Gangland: Thriller
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