30

Das Wartezimmer vor einer Intensivstation gehört zu den trostlosesten Orten überhaupt. Die Patienten auf der anderen Seite der großen doppelten Tür mit den Bullaugen befanden sich fast allesamt in medikamentös bedingtem Dauerschlaf, weshalb sie ihren Angehörigen nicht viel zurückgeben konnten. Ich sah Besucher aus der Station herausschleichen, verloren, erledigt und schuldbewusst. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, spähte ich hinein, hoffte, einen Blick auf Danny zu erhaschen. Viel war aber nicht zu sehen. Am liebsten wäre ich einfach hineinmarschiert, aber ich wusste, dass mich der Detective vor der Tür aufgehalten hätte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich der Oberarzt erschien. Er war groß und gebieterisch und schien seinen eigenen Fähigkeiten uneingeschränkt zu vertrauen. Anscheinend wollte er unbedingt den Eindruck bei mir hinterlassen, dass es einzig und allein auf das Schicksal meines Bruders Danny und keinesfalls auf das Können des Chirurgen zurückzuführen sei, wenn mein Bruder die Nacht nicht überlebte.

»Die Operation war sehr schwierig. Daniel hat Glück, dass er noch lebt.« Von Glück konnte meiner Ansicht nach keine Rede sein. »Die Lage der Projektile hat die Prozedur ganz besonders heikel gemacht.« Er fuhr fort und beschrieb einige der Komplikationen im Detail, aber ich hörte gar nicht richtig hin, bis er schließlich einen Satz mit den Worten beendete: »… und die Wirbelsäule wurde ebenfalls verletzt.«

»Wir sind alles andere als sicher, dass Ihr Bruder überlebt«, erklärte er mir mit einer Ehrlichkeit, die ich mir wünschte und für die ich ihn hasste. »Aber Daniel ist ein starker, an sich gesunder Mann, und dadurch hat er eine realistische Chance.« Wie groß diese Chance war, wollte er mir jedoch nicht verraten. »Sie müssen sich darüber im Klaren sein: Selbst wenn er es schafft, wird er aufgrund der Verletzungen seiner Wirbelsäule nie mehr laufen können.«

Schon seltsam, welche Streiche einem das eigene Gehirn spielt, nur damit man nicht zusammenbricht. Ich hörte die Worte und begriff sofort deren Bedeutung, aber irgendwie gelang es mir, weiter mit dem Arzt zu palavern, als würde schon alles wieder gut werden. Ich wolle mich bei ihm und seinem Team für seine Bemühungen bedanken, meinem Bruder das Leben zu retten, erklärte ich, und er erinnerte mich erneut daran, dass noch nicht feststand, ob ihnen dies überhaupt gelungen sei. Nichtsdestotrotz, versicherte ich ihm, sei ich ihnen allen bis in alle Ewigkeit dankbar und würde es ihnen nie vergessen. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie, während ich mit ihm sprach, und vergaß, sie wieder loszulassen. Ich pumpte und pumpte wie ein Bekloppter, bis er schließlich irritiert auf unsere Hände blickte.

»Jetzt würde ich meinen Bruder gern sehen«, sagte ich.

Er erwiderte, ich dürfe reingehen, aber er müsse dem Mann an der Tür Bescheid geben. Der Mann an der Tür war ein Detective in Zivil, der dort Stellung bezogen hatte, falls der Mörder meinen Bruder besuchen und in seinem Bett ermorden wollte. Und bevor er mich endlich eintreten ließ, musste ich beweisen, dass ich derjenige war, der ich behauptete zu sein.

 

Mein großer Bruder wirkte hilflos. Er hing an einer Maschine, die seine Herzschlagfrequenz überwachte, und an einer zweiten, die seine Lungen unterstützte. Sein Gesicht wurde teilweise durch den Schlauch des Beatmungsgeräts verdeckt, und in einem Arm verschwand außerdem noch die Kanüle eines Tropfs. Er trug einen weiten, dunkelgrünen Krankenhauskittel, der die Schnitte der elfstündigen Operation verdeckte, bei der ihm drei Kugeln aus dem Körper entfernt worden waren. Das einzige Geräusch war das leise Piepen des Monitors und das tiefe monotone Zischen des Beatmungsgeräts, das für ihn arbeitete, meinen Bruder am Leben erhielt, Atemzug für Atemzug.

Und als ich Danny ansah, der mit den ganzen Drähten und Schläuchen vor mir lag, und mir immer wieder sagte, dass alles meine Schuld war, brach es über mich herein: Die Mischung aus drückend heißer Luft, der süßliche Gestank der Desinfektionsmittel und der Anblick des geschundenen Körpers meines Bruders waren zu viel für mich. Ich spürte, wie der Raum schwankte, und musste mich an dem Metallgestell des Betts festhalten, sonst wäre ich gefallen. Rasch setzte ich mich auf den harten Plastikstuhl neben seinem Bett und legte mir eine Hand auf die verschwitzte Stirn. Ich musste mich anstrengen, um wieder aufstehen und den Raum verlassen zu können, spürte im Gang Übelkeit in mir aufsteigen. Endlich stieß ich die letzte Schwingtür auf und legte die wenigen verbliebenen Meter durch das Wartezimmer fast rennend zurück, dann trat ich durch die schwere Glastür am Haupteingang. Die kühle Luft schlug mir ins Gesicht, und ich sog sie tief in meine Lungen ein. Ich schaffte es noch ein paar Meter weiter zu einer Bank, setzte mich und schlug die Hände vors Gesicht, damit mich niemand erkannte.

 

Ich ging in ein Pub, in dem ich nie zuvor gewesen war. Es war fast leer, und ich bestellte ein Bier und einen Whisky. Außer der vagen Vorstellung, dass ich dort sitzen und trinken wollte, bis ich vom Barhocker fiel und man mir ein Taxi – oder die Polizei – rief, hatte ich keinen besonderen Plan. Dann blickte ich auf und sah mein aschfahles Gesicht im Spiegel hinter den Flaschen an der Bar. Mir wurde bewusst, dass es mir nur noch schlechtergehen würde, wenn ich hier allein sitzen blieb, mich betrank und schuldig daran fühlte, dass mein Bruder nie wieder würde laufen können. Ich brauchte Gesellschaft, aber niemanden aus der Firma.

 

Es regnete heftig, als ich draußen vor dem Wohnblock vorfuhr. Bis ich die Tür erreicht hatte, war ich völlig durchnässt. Eine Frau um die dreißig ging gerade hinein, drehte sich um und hielt mir die Tür auf, dann bedachte sie mich mit einem fragenden Blick, weil sie mich offensichtlich nicht kannte. Ich nuschelte nur »danke« und folgte ihr, ohne ihr Gelegenheit zu geben, sich zu erkundigen, wer ich war.

Ich wartete nicht auf den Fahrstuhl. Ich nahm die Treppe, zwei Stufen auf einmal, bis in den dritten Stock, dann suchte ich Wohnung zweiunddreißig. Ich war nur leicht außer Atem, aber mein Herz raste, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Vor mir sah ich immer nur den künstlich beatmeten Danny mit all den Kabeln und Schläuchen. Ich gab mir große Mühe, den Anblick aus meinen Gedanken zu verdrängen, denn wenn es mir nicht gelang, würde ich erneut darüber nachgrübeln, dass es meine Schuld war, dass er dort lag. Jetzt im Moment kam ich damit überhaupt nicht klar, und genau deshalb stand ich im dritten Stock eines mir fremden Wohnblocks und drückte nun schon zum zweiten Mal auf die Klingel.

»Augenblick«, ertönte eine ungeduldige Stimme von drinnen, dann hörte man Füße über den Fußboden tapsen, und die Tür ging auf.

Sie stand in einem locker gebundenen, weißen Bademantel vor mir, presste sich ein Handtuch an den Kopf und trocknete sich die tropfnassen Haare. Sie musste gerade aus der Dusche gekommen sein. Irgendwie sah sie sehr sauber aus. Zunächst schien sie mich kaum zu erkennen, aber dann seufzte Simone und sagte: »Wenigstens muss ich dich nicht fragen, woher du meine Adresse hast.« Und einen Augenblick lang dachte ich, mir würde eine Abfuhr blühen. Dann sah sie mich durchdringend an, runzelte die Stirn und fragte: »Was ist? Was ist passiert?«

Was auch immer sie in meinem Gesicht gesehen haben mochte, es genügte ihr, um mich reinzulassen. Sie wich einen Schritt zurück, hielt mir die Tür auf, und ich trat ein.

Ich ging voran in das Wohnzimmer der hübschen kleinen Wohnung, sie folgte mir durch den winzigen Flur. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich die Besorgnis in ihren Augen. »Setz dich«, sagte sie, und ich entschied mich für den einzigen Sessel. Sie setzte sich auf die Sofalehne, und als sie dies tat, verrutschte der Bademantel ein bisschen, so dass ich ein Stück von ihrem nackten Oberschenkel zu sehen bekam. Schnell zog sie den Bademantel fester zusammen, wodurch sie nur umso deutlicher darauf hinwies, dass sie darunter nackt war.

»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte sie.

Irgendwo tief in meinem Inneren fand ich die Worte, um zu erklären, dass mein einziger Bruder angeschossen worden war, dreimal, und dass es nicht gut um ihn stand. Es war nicht davon auszugehen, dass er die Nacht überlebte, und selbst wenn … aber den Satz konnte ich nicht zu Ende bringen. Einerseits weil ich nicht wusste, was für ein Leben Danny dann führen würde, aber vor allem, weil ich gar nicht darüber nachdenken wollte.

Simone lauschte geduldig, hörte mich bis zum Schluss an, und sofern sie nicht die größte Schauspielerin auf dem Planeten war, erschrak sie aufrichtig und machte sich große Sorgen. Als ich fertig war, sagte sie: »O Gott, das ist schrecklich!« Und weil ihr wahrscheinlich sonst nichts einfiel, fügte sie hinzu: »Ich hol dir was zu trinken.«

Sie ging aus dem Wohnzimmer, und ich folgte ihr in den Flur und in die Küche. Auch die Küche war klein, ganz hinten stand ein Kühlschrank. Sie machte ihn auf und nahm eine Flasche Absolut heraus, dann drehte sie sich zu mir um. Sie hatte nicht gehört, dass ich ihr gefolgt war, und als sie es merkte, zuckte sie vor Schreck zusammen. Vielleicht hatte sie Angst, in der Falle zu sitzen, oder sie fühlte sich verletzlich, weil sie außer ihrem Bademantel nichts anhatte. Sie wandte sich wieder ab, machte den Schrank auf und nahm zwei Gläser für den Wodka heraus.

Die winzige Küche wirkte auch auf mich ein kleines bisschen klaustrophobisch. Irgendwo gab es noch ein oder vielleicht sogar zwei Zimmer und ein Bad, vermutlich von der Größe unserer Dusche in Hua Hin. Mir waren ein paar Drucke an den Wänden aufgefallen, moderne Kunst, nichts Denkwürdiges, aber keine gerahmten Familienfotos oder Urlaubsschnappschüsse. Sie griff nach dem Wodka, und ich hörte das metallische Klicken, als sie die brandneue Schnapsflasche öffnete, gefolgt von einem satten, öligen Gluckern beim Einschenken. Irgendwie wirkte alles verstärkt: die Geräusche in der Küche, meine Sinne. Ich war aufs äußerste angespannt.

Ich sah zu, wie sie auch in das zweite Glas Absolut schenkte. Am liebsten hätte ich sie hochgehoben, auf den Boden geworfen und gleich dort an Ort und Stelle genommen, bis wir beide genug voneinander gehabt hätten. Stattdessen ging ich langsam auf sie zu, achtete darauf, dass sie meine Schritte hörte, um sie nicht noch einmal zu erschrecken. Als ich näher kam, drehte sie sich zu mir um, und ich sah die Unsicherheit in ihrem Blick. Sie wich mir aus, indem sie sich wieder den Getränken widmete. Dann schraubte sie den Deckel auf die Wodkaflasche und sagte: »Ich weiß nicht, was ich zum Mixen habe.« Ihre Stimme schien vor Nervosität zu beben.

Als sie sich erneut zu mir umdrehte, stellte ich mich direkt vor sie. Ich streckte meine Hand zu ihr aus, und sie stöhnte leise, aber ich griff nur nach einem der Gläser auf der Anrichte. Sie sah mich trinken, dann kehrte sie mir den Rücken zu und nahm ihr eigenes Glas.

Erneut streckte ich die Hand aus, berührte dieses Mal ihr nasses Haar, hielt es behutsam in der Hand. Ihr Körper erstarrte, aber sie sagte nichts, und ich griff höher, legte meine freie Hand unter ihre Haare, in ihren Nacken, spürte die kühle, feuchte Haut und fing sanft an zu kneten. Bei meiner Berührung neigte sie den Kopf, und ich massierte weiter. Bei jeder Bewegung hörte ich sie tiefer atmen, sie ließ den Kopf zur Seite sinken und im Einklang mit meinen Handbewegungen hin und her rollen.

Ich ließ ihr Haar los und griff um sie herum; ich nahm die Aufschläge ihres Bademantels in jeweils eine Hand und öffnete den Mantel, bis ihr der weiche Stoff von den Schultern glitt. Sie presste ihren Körper an die Anrichte, um zu verhindern, dass ihr der Mantel vollständig vom Körper rutschte, und ich massierte ihre nackten Schultern mit beiden Händen. Jetzt atmete sie tief, und ich wanderte mit den Händen zwischen ihren Schultern und ihrem Nacken hin und her, dann beugte ich mich vor und küsste sie auf den Hals.

Sie verschränkte die Arme, damit der Bademantel nicht tiefer rutschte, und sagte: »Tu das nicht.« Aber ihre Stimme war sehr leise, und sie bewegte sich nicht von mir weg. Ich rieb ihr weiter den Rücken, dann beugte ich mich erneut vor, um sie zu küssen. Dann packte ich den Kragen ihres Bademantels mit beiden Händen und öffnete ihn ganz, entblößte ihre Brüste. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter und griff nach ihr, rieb ihr mit einer Hand über den Rücken und berührte mit der anderen sachte ihre Brust. Als ich dies tat, presste sie sich an mich, und so blieben wir eine Weile stehen.

Sollte sie immer noch denken, dass ich das eigentlich nicht tun sollte, so hatte sie es aufgegeben, mir dies zu sagen. Ich legte meinen Arm um sie, nahm den Gürtel und zog langsam daran, bis er sich löste und sich der Bademantel öffnete. Sie legte den Kopf in den Nacken. Ich küsste sie auf den Mund, und sie erwiderte den Kuss, innig und begierig.

Dann löste sie sich und drehte sich zu mir um, ließ den Bademantel auf den Boden gleiten, legte mir beide Arme um den Hals, und wir küssten uns erneut. Ich presste eine Hand in ihr Kreuz und bewegte die andere langsam ihren Körper hinab, bis sie am weichen Fleisch ihres Oberschenkels angekommen war. Anschließend ließ ich sie sanft den Schenkel hinauf- und hinunterwandern, streichelte ihn zärtlich. Während wir uns küssten, wanderte meine Hand immer höher. Ich berührte sanft ihren Bauch, strich mit den Fingern darüber und glitt immer tiefer, bis ich sicher war, dass sie mich auch wollte. Dann schob ich ihr meine Finger zwischen die Beine. Sie stöhnte leise und löste sich aus dem Kuss, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ich blieb so, stützte sie mit meiner anderen Hand. Sie legte erneut die Arme um mich, klammerte sich fest an mich, während ich sie zärtlich berührte. Als sie fertig war, nahm sie meine Hand und führte mich ins Schlafzimmer.

Gangland: Thriller
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