36

Es wurde bereits dunkel, als ich auf das Dach des Cauldron hinaustrat, der inzwischen so was wie ein zweites Büro für mich geworden war. Hier konnte ich reden, ohne fürchten zu müssen, dass jemand mithörte. Ich rauchte und bekam wieder einen klaren Kopf. Palmer war bereits draußen, blickte auf die Stadt. »Was ist los, Palmer?«, fragte ich, obwohl ich schon eine ungefähre Vorstellung hatte.

Er wandte sich zu mir um. »Was meinst du?«

»Du ziehst schon seit Tagen eine Fresse wie ein wunder Affenarsch«, sagte ich, »also raus damit. Was geht dir durch den Kopf?«

»Willst du’s wirklich wissen?«, fragte er.

»Sonst würde ich nicht fragen.«

Er zog an seiner Zigarette, um sich zu wappnen, dann sagte er: »Ich denke daran, was wir dem Mann angetan haben.« Er sah mir nicht in die Augen. »Dass er auf Danny geschossen hat, gibt dir jedes Recht, es ihm heimzuzahlen, aber was wir da gemacht haben … ich weiß nicht.« Er nahm noch einen Zug, suchte nach Worten und sagte: »Es war nicht richtig, ihn so zurückzulassen. Wir hätten ihn töten sollen. Was wir gemacht haben, war nicht richtig«, wiederholte er noch einmal, dann wandte er sich von mir ab. Er beugte sich vor, hielt den Kopf gesenkt, die Ellbogen ruhten auf der Brüstung.

»Das war keine reine Boshaftigkeit«, erklärte ich Palmers Hinterkopf. »Was wir mit dem Mann gemacht haben, war nicht nur Rache für meinen Bruder. Größtenteils schon, das gebe ich zu.« Ich stellte mich neben ihn, und wir blickten gemeinsam über die Dächer.

»Ich wollte, dass er leidet, richtig leidet, aber das war nicht der einzige Grund.« Er sah mich skeptisch an. »Kinane wird ein bisschen was durchsickern lassen. Keine Angst, er wird nicht erzählen, wer daran beteiligt war, aber er wird verbreiten, dass der Mann, der auf meinen Bruder geschossen hat, auf die denkbar schlimmste Art gestorben ist: dass wir ihn angekettet und eingemauert haben, als er noch geatmet hat. Dann wird sich jeder zweimal überlegen, ob er sich mit uns anlegt.«

»Du meinst, das funktioniert?«

»Wie oft hast du die Geschichte gehört, dass Joe mit einem Fischerboot zehn Meilen raus vor die Küste gefahren ist und einen Kerl über Bord geworfen hat?«, fragte ich.

»Oft«, räumte er ein.

»Was hast du gedacht, als du sie gehört hast?«

»Ich war froh, dass er nicht mit mir rausgefahren ist«, gab er zu.

»Genau. Und dasselbe gilt auch für die Geschichte, dass Alan Gladwell einem den Schwanz abgeschnitten hat. Jetzt macht eine neue Geschichte die Runde, die den Leuten verdeutlicht, dass wir hier unten keinen Spaß verstehen. Würdest du uns angreifen, wenn du wüsstest, dass der Tod noch das Geringste ist, was dir blüht?«

»Ich weiß nicht«, sagte er, »ganz ehrlich, ich weiß es nicht.« Ich hatte Palmer bis zu diesem Moment noch nie auch nur müde erlebt, aber heute Abend wirkte er völlig erschöpft.

»Okay«, sagte ich, »morgen fährst du mit einem Bulldozer oder einer Planierraupe hin, egal, was du eben kurzfristig organisieren kannst. Nimm zwei von Kinanes Söhnen mit, um auf Nummer sicher zu gehen. Sie sollen bewaffnet kommen. Ich will nicht, dass was schiefgeht.«

»Hab’s verstanden.«

»Mach das Ding dem Erdboden gleich. Bei Anbruch der Dunkelheit will ich keine Spur mehr von dem Häuschen sehen, kapiert?«

»Ja.« Ich konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören. Mir persönlich war das grinsende Arschloch Mason scheißegal. Ich vermutete, dass er inzwischen sowieso schon halb wahnsinnig war, so lange, wie er bereits in dem dunklen Loch hockte, aber ich brauchte meinen alten Palmer wieder. Mein wichtigster Mann musste jetzt hellwach und auf meiner Seite sein. Wenn ich ihm diesen kleinen Sieg ließ, würde sich alles wieder zum Besseren wenden, das wusste ich. Vielleicht würde er heute Nacht sogar schlafen können.

»Palmer, aber pass auf, dass da nichts unter den Trümmern hervorkriecht, hast du gehört?«

Er nickte langsam. »Ich pass auf«, versicherte er mir, »mach dir keine Sorgen.«

Ich und keine Sorgen? Das war fast schon lustig.

 

Den Abend verbrachte ich bei Simone, genauer gesagt, in ihrem Bett. Seit jenem ersten gemeinsamen Abend hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, auch nur mit ihr zu telefonieren. Sie schien zu verstehen, dass mir Dannys Wohlbefinden im Moment am allerwichtigsten war, deshalb hielt sie Abstand. Aber ich bekam hin und wieder eine SMS, und manchmal sprach sie mir auf die Mailbox; kurze Botschaften, die durchaus unschuldig wirkten. Sie spielte auch nie darauf an, dass wir miteinander geschlafen hatten. Ein paar Tage später war ich wieder zu ihr gegangen und seitdem noch zweimal. Ich konnte nichts Unrechtes daran erkennen. Schließlich führte ich kein normales Leben, und mein Stressniveau lag vermutlich hundertmal höher als bei jedem anderen Mann. Warum sollte ich mir also nicht ein bisschen Abwechslung gönnen? Andererseits sah ich aber auch nicht, dass auf Dauer etwas aus uns werden könnte. Sie war so was wie beschädigte Ware, und das nicht nur wegen ihres Jobs im Massagesalon. In ihrem Kopf ging so einiges vor sich, von dem ich nicht glaubte, es je in Ordnung bringen zu können.

Sie döste neben mir, und ich wollte gerade gehen, als mich Sharp anrief. »Ich hab was, vielleicht nicht viel, aber wer weiß.«

»Lass hören.« Zuerst sprach ich leise, verließ Simones Schlafzimmer, um sie nicht zu wecken.

»Kommt von einem Spitzel, ein kleiner Fisch, ein Straßendealer, der über fünf Ecken Kohle an Gladwell abdrückt.«

»Weiter, erzähl.«

»Alan Gladwell fährt ein paar Tage weg. Ins Ausland. Anscheinend geschäftlich, aber er nimmt niemanden mit.« Das kam mir mehr als merkwürdig vor, dass ein Mann mit Alan Gladwells Profil ohne Schutz verreisen wollte. »Ich weiß das, weil er seinem Bruder Malcolm für die Zeit seiner Abwesenheit die Verantwortung übertragen hat.«

»Und woher weißt du, dass keiner mitkommt?«

»Sicher weiß ich’s nicht, aber ich hab ein bisschen nachgeforscht, und wie sich herausstellte, hat er das in letzter Zeit regelmäßig gemacht. Er fährt ein paar Tage weg, lässt seine Leute zu Hause und erzählt keinem, was er treibt. Angeblich fährt er nach Nahost und verhandelt mit einem Lieferanten über eine Warensendung. Auf der Straße wird behauptet, dass es eine große Lieferung sein soll, eine sehr große.«

Anscheinend waren wir nicht das einzige Unternehmen, das sich nach der Festnahme der Haan-Brüder nach alternativen Bezugsquellen umsehen musste.

»Und er fährt ganz allein, ohne seine Leute?«

Meiner Meinung nach war da etwas faul.

»Angeblich, ja, aber ich wollte es ihm auch nicht abkaufen, also bin ich ihm gefolgt.«

»Du bist Alan Gladwell gefolgt?« Die Überraschung war noch größer.

»Ich weiß. Ich hab mir, verflucht noch mal, ins Hemd gemacht. Scharf war ich nicht darauf, aber du hast gesagt, wenn ich nichts gegen ihn herausfinde, bin ich sowieso tot. Also hab ich mich schön im Hintergrund gehalten und bin immer nur lange genug an ihm drangeblieben, um zu sehen, wohin er fährt.«

»Und wohin ist er gefahren?«

»Das ist ja das Seltsame. Er hat seinen Fahrer parken lassen und ist dann mit viel Tamtam gegenüber in einem Wettbüro verschwunden. Da ist er aber bloß eine Minute lang dringeblieben, dann kam er wieder heraus und hat heimlich seinen eigenen Wagen beobachtet. Als er der Meinung war, dass gerade keiner guckt, ist er rüber ins Nachbarhaus.«

Sharp machte eine Pause.

»Ein Puff?«

»Nein.«

»Sharp, ich weiß, du bist stolz auf dich, aber ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Wo ist er hin?«

»In ein Reisebüro.«

»Ein was? Wozu denn das?« Wenn Alan Gladwell einen Flug buchen wollte, dann standen unzählige Leute Schlange, die sich liebend gern für ihn darum gekümmert hätten.

»Ich dachte, wahrscheinlich will er nicht, dass jemand weiß, wohin er fliegt, nicht mal seine direkten Assistenten und seine Brüder, weil sie dann vielleicht darauf kommen würden, mit wem er die Gespräche führt. Du hast auch Probleme mit undichten Stellen, vielleicht geht’s ihm genauso. Vielleicht traut er keinem, wenn’s wirklich so ein großer Deal ist.«

»Das ist ein hohes Risiko«, sagte ich. »Erzähl weiter.«

»Ich hab gewartet, bis Gladwell wieder herausgekommen, ins Auto gestiegen und weggefahren ist, dann hab ich alles auf eine Karte gesetzt und bin rein. Hab der jungen Frau erzählt, ich würde gegen einen Kreditkartenbetrüger ermitteln, und ob ich mir die Buchungen aus der vergangenen Stunde ansehen dürfte. Es gab nur zwei, und ich versicherte ihr, beide seien ordnungsgemäß. Ich wollte nicht, dass sein Flug storniert wird.«

»Und wo fliegt er hin?«

»Das ist der Teil, der dich am meisten interessieren dürfte«, erklärte er mir. »Er fliegt nach Thailand.«

 

Ich ließ mir von Sharp Gladwells Flugdaten durchgeben, dann legte ich auf und verließ Simones Wohnung. Ich rief Sarah an und sagte ihr, sie solle unter gar keinen Umständen das Haus verlassen, und ausnahmsweise widersprach sie mir nicht. Dann ließ ich mir Jagrit geben, um ihm zu sagen, dass erhöhte Alarmbereitschaft nötig wäre. Jagrit versicherte mir, er würde die zeitlichen Abläufe variieren und die Wachen auf dem Gelände verstärken. Dann buchte ich mir ein Ticket für den nächsten verfügbaren Flug nach Bangkok. Anschließend rief ich Pratin an und arrangierte eine dringende Notfallbesprechung mit meinem korrupten Thai-Detective. Die Vorstellung, Danny allein zu lassen, gefiel mir überhaupt nicht, aber ich hatte keine andere Wahl. Palmer und Kinane meinten, sie würden ihn besuchen, und ich hoffte, ich würde nicht lange weg sein. Ich packte eine Tasche, dann ging ich. Ich wusste, wenn ich jetzt schnell handelte, hatte ich zwei Tage Vorsprung vor Alan Gladwell – und die würde ich brauchen.

Gangland: Thriller
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