Davor

»Was riecht hier eigentlich so komisch?«

Tim drehte sich zu seinen Laborgeräten. Dabei fuhr er sich übers Haar, als wolle er eine Spinne wegwischen. »Magst du etwas trinken?«, fragte er.

Er schien völlig geistesabwesend. Felix konnte sein knochig hervortretendes Rückgrat erkennen. Er setzte sich, und Tim wandte sich wieder um und schaute ihn über den Tisch an. Ohne eine Antwort abzuwarten, spülte er zwei Kaffeetassen ab und füllte den Wasserkocher. »Pfefferminz oder Roibusch? Etwas anderes habe ich nicht.«

»Wir sollten reden. Es gibt einiges zu besprechen.«

»Ich weiß«, sagte Tim. »Lass mir noch kurz Zeit. Ich weiß noch nicht genau, wo ich anfangen soll. Ich habe solange nachgedacht und mit niemandem darüber geredet.« Er schob den zweiten Stuhl heran und setzte sich ebenfalls.

»Wie wär es damit?«, sagte Felix. »Warum bist du so plötzlich von der Bildfläche verschwunden? Alle suchen dich da draußen. Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Doch nicht etwa hier unten?«

»Das sind jetzt schon zwei Fragen«, murmelte Tim. »Und es ist eine lange Geschichte.«

»Im Moment haben wir beide ja jede Menge Zeit. Oder sehe ich das falsch?«

Tim lachte trocken auf. »Du weißt gar nicht, wie Recht du damit hast.«

Sein Zynismus beunruhigte Felix. Er verstand nicht, wovon Tim redete. Aber er beschloss, die Sache möglichst ruhig anzugehen, obwohl er vor Neugier fast platzte. Selbst wenn Tim ihm alles erzählte, bestand die Gefahr, dass er irgendwie ausflippte. Er stand offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

»Wie ist das Wetter da draußen?«, fragte Tim, als sei das die normalste Frage der Welt.

»Heiß. Sehr heiß«, antwortete Felix genauso normal. «Die Sonne scheint ununterbrochen. Gestern hatten wir 38 Grad und niemand weiß, wie lange diese Affenhitze noch andauern wird. Wann warst du denn das letzte Mal an der frischen Luft?«

Tim kramte in den Taschen seines fleckigen Laborkittels herum. »Das ist, ehrlich gesagt, ziemlich lange her.« Er zog ein kleines quadratisches Tuch heraus, nahm seine Brille ab und begann sie akribisch zu putzen.

Felix, der inzwischen wieder alles deutlich sah, stellte fest, wie dünn und abgemagert sein alter Freund war. Schon bei ihrer Umarmung hatte es sich angefühlt, als ob er keinen Menschen, sondern ein paar lose zusammengeschnürte Äste drückte, die jederzeit brechen könnten.

Das Wasser kochte. Tim setzte die Brille wieder auf, erhob sich und füllte es in Becher. »Pfefferminz oder Roibusch?«, fragte er noch einmal.

»Pfefferminz«, antwortete Felix.

»Warum nicht gleich so?«

»Ha, ha.«

Sie warteten stumm, bis der Tee gezogen hatte. Tim wickelte den Beutel umständlich auf seinen Löffel und nippte ein paar Mal. Felix tat es ihm nach und zwang sich, nichts mehr zu sagen, bis Tim endlich selbst das Schweigen brach.

»Zu deiner zweiten Frage …«, sagte Tim schließlich.

»Ja?«

»Ich war zwei Wochen in den USA. Und danach tatsächlich die ganze Zeit hier.«

»Mit Sofie, nehme ich an.«

»Genau. Mit Sofie, meiner Freundin. Du kennst sie?«

»Nicht persönlich. Aber da sie auch verschwunden ist, konnten wir eine Verbindung zu dir herstellen.«

Tim lächelte milde.

»Hast du sie aus dem Krankenhaus geholt?«, fragte Felix.

»Ja.«

»Warum denn das?«

»Weil sie sehr krank ist.«

»Das verstehe ich nicht.« Felix fuhr sich über die Stirn. »Ein Krankenhaus ist doch der richtige Ort für Kranke.«

»Nun«, sagte Tim, »im Allgemeinen mag das so sein. Aber nicht bei dieser Krankheit.«

»Soweit ich weiß, lag sie nach einem Verkehrsunfall im Koma. Was ist daran so ungewöhnlich?«

Tim kicherte unwillig. Es klang ein wenig wahnsinnig. »Koma«, äffte er Felix nach. »Die haben doch keine Ahnung, womit sie es zu tun haben. Ich musste sie da rausholen und isolieren, sonst wäre sie dort aufgewacht und hätte alles noch viel schlimmer gemacht.«

»Ich wusste gar nicht, dass du nach deinem Biologie-Studium noch Arzt geworden bist …« Felix bemühte sich, den harmlosen Plauderton beizubehalten.

»Bin ich auch nicht. Mein zweiter Studiengang war Bio-Technologie an der University of California in Los Angeles.«

»Wow, UCL. Du warst halt schon immer der Streber von uns beiden.«

Tim lachte kurz. Es klang nicht heiter. »Und du schon immer my pain in the ass

Das war ein alter Insider-Witz zwischen ihnen. Felix musste unwillkürlich lachen, aber er hörte selbst die ängstliche Unsicherheit in seiner Stimme. Er schluckte trocken.

»Immer noch bei der ›Woche‹?«, fragte Tim unvermittelt.

»Ja.«

»Hut ab. Du hast es weit gebracht.«

»Nun ja. Wenigstens hat meine Wohnung Fenster.«

Tim grinste schief und gab Felix einen kameradschaftlichen Stoß. Dabei bewegte er sich so unkoordiniert und fahrig, dass er die Hälfte seines Tees verschüttete. Ein paar neue Flecken entstanden auf seinem schmuddeligen Kittel. Dann wurde er wieder ernst. »Also, die Kurzfassung: Von dieser Krankheit hat niemand da draußen eine Ahnung. Auch ich nicht. Das liegt daran, dass sie nicht auf natürliche Weise entstanden ist. Bei dem Erreger handelt es sich um eine Art biologische Waffe.«

Felix blieb für einen Augenblick die Spucke weg. »Wie bitte?«

»Du hast richtig gehört. Es handelt sich um einen künstlich entwickelten Organismus, der nur für einen Zweck geschaffen wurde: Mutation durch Degeneration.«

Felix bemühte sich, seinen Mund wieder zuzukriegen. »Moment mal. Davon habe ich ja noch nie gehört … Mutation? Das klingt wie in einem Superman-Comic.«

»Das ist kein Witz«, sagte Tim. »Niemand weiß davon. Alle die davon wussten, sind längst tot oder sie schweigen. Wie mein Vater zum Beispiel.«

Wie immer, wenn Felix verwirrt war und sich gedanklich ordnen musste, kramte er nach seinen Zigaretten. Er steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie an.

Tim blieb ruhig sitzen und beobachtete ihn. »Du hast also nie damit aufgehört«

»Nie versucht. Ich weiß, es ist idiotisch.«

Tim lächelte wieder sein dünnes Lächeln. »Keine Sorge«, sagte er, während Felix den Rauch tief einatmete und sofort husten musste. »Keine Sorge. Daran wirst du nicht sterben. Soviel steht fest.«

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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