Jetzt

Felix saß im Labor und schrieb bei schwachem Neonlicht an einem Artikel, der niemals veröffentlicht werden würde. Die letzten gleichförmigen Tage und Nächte unter der Erde hatte er damit verbracht, die Unterlagen aus den Firmenarchiven der Zucker AG auszuwerten. Zusammen mit Tims – von starken Fieberschüben unterbrochenen - Berichten und seinen eigenen Recherchen, hatte er so ein Protokoll der Ereignisse geschaffen. Freilich fehlten ihm wichtige Puzzlestücke. Die genaue Wirkungsweise und Ursprünge der Viren zum Beispiel. Oder wie es gelingen konnte, die Operation Zuckerweizen all die Jahre nach dem Krieg geheimzuhalten.

Aber das war im Moment egal. Der Artikel würde wahrscheinlich nie gedruckt werden, aber die Arbeit daran hatte ihn davor bewahrt, in klaustrophobischen Grübeleien zu versinken oder eine Dummheit zu begehen. Zum Schluss setzte Felix in Schönschrift Datum und Namen unter den Text, legte den Kugelschreiber beiseite und schloss die Kladde. Er richtete sich auf und drückte das Kreuz durch.

Die Neonröhre flackerte. Für den Bruchteil einer Sekunde erlosch das Licht, dann brannte es einen Tick heller als zuvor, bis es sich wieder einpendelte. Der Tank des alten Dieselgenerators war fast leer. Jetzt zog er manchmal Schlickreste vom Grund an. Dann verstopfte die Treibstoffleitung und der Motor, der für den nötigen Strom sorgte, stotterte. Auch wenn Tim es verhindern wollte: Sie mussten den Schutz des Bunkers bald verlassen. Denn auch die Nahrungsmittel und das Wasser gingen langsam aber sicher zur Neige. Zigaretten hatte er schon lange keine mehr. Er hatte jedenfalls nicht vor, hier unten zu verrotten. Auch wenn es mein Ende ist.

Mit Zeige- und Mittelfinger ertastete er seine Lymphknoten am Hals. Tim hatte ihm gesagt, dass er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch infiziert hatte. Wenn nicht bereits beim Brand in der Hütte, dann spätestens bei ihm oder Sofie. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis er selbst erste Anzeichen der Seuche an sich bemerke. Dann könne Tim ihm nur hier unten helfen, mit seinem aus Weizenkörnern und einem starken Breitband-Antibiotikum gewonnenen Serum. Das könne ihn zwar nicht heilen, den Ausbruch der Krankheit jedoch stark verlangsamen. Aber Felix fühlte sich nach wie vor gesund. Er war zwar müde von der ständigen Dunkelheit und dem künstlichen Licht. Auch hatte er schlimme Blähungen vom langweiligen Dosenfraß. Aber ansonsten ging es ihm gut. Um sich zusätzlich fit zu halten, machte er regelmäßig Sit-ups und Liegestützen.

Er stand auf und ging zum Feldbett, das Tim für ihn im Labor aufgestellt hatte. Nach dem langen Schreiben fielen ihm die Augen zu. Ein letzter Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es schon kurz nach elf Uhr war. Er legte sich auf den Rücken und löschte das Licht.

Kaum war er eingeschlafen, weckte ihn ein seltsames Geräusch. Verwirrt und beunruhigt schnellte er hoch. Erst dachte er an Sofie und schüttelte sich. Aber dann hörte er es wieder. Von der anderen Seite des Bunkers kam ein metallisches, dumpfes Klopfen. Kein Zweifel, jemand machte sich an der Tür zu schaffen, durch die er selbst in das Versteck gekommen war. Er knipste das Licht wieder an, stand auf und schlüpfte in seine Schuhe. Vorsichtig tapste er aus dem Raum und den Gang entlang. Kurz überlegte er, ob er Tim Bescheid geben sollte. Aber er verwarf den Gedanken. Seinem alten Freund ging es seit Tagen schlecht. Er spritzte sich das selbst gemixte Zeug mehrmals täglich in die Arme und fiel dazwischen immer wieder in einen komatösen Schlaf.

Nein, das hier erledigte Felix besser allein. Er lief weiter zur Tür. Dort lugte er durch das erblindete Guckfenster. Und zuckte zurück. Da draußen stand ein verwahrloster Typ mit Bart und einem US Army Cap auf dem Kopf. Er trug hohe Gummistiefel, eine seltsame Hose und war mit einer altertümlichen Flinte bewaffnet. Der Kerl sah aus wie ein amerikanischer Farmer, der sich in die Minen von Moria verirrt hatte. Eben hatte er sich nach irgendetwas oder irgendwem umgesehen. Jetzt trommelte er wieder mit den Fäusten gegen die Tür, genau so, wie es Felix vor einigen Wochen getan hatte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und schaute noch einmal ganz genau hinaus.

Er traute seinen Augen nicht. Der Kerl sah aus wie Marti! Jetzt erkannte ihn der andere auch. Wie vom Schlag getroffen taumelte er zurück. Dann verzog er sein braun verbranntes Gesicht zu einer Grimasse und hob die Arme. Er schien etwas zu rufen, aber Felix konnte durch die dicke Tür nichts hören. Schon drehte er wie wild an dem Rad, das an der Innenseite der Tür angebracht war und das die luftdichte Verriegelung löste. Kaum war sie offen, stieß er die Tür weit auf.

»Felix! Du bist es wirklich. Du lebst! Du lebst!«

»Marti! Ich glaub ich spinne.«

Beide schrien vor lauter Aufregung. Sie fielen sich in die Arme. Marti packte Felix und warf ihn fast in die Luft. Doch die Freude währte nur kurz.

Marti stieß Felix weg und richtete seine Waffe in den Gang hinter sich. »Scheiße. Sie kommen! Felix, sie kommen!«

»Wer kommt?«

»Die Teufel, diese verdammten Teufel. Schnell! Rein!«

»Die Teufel?«

Felix sah erstaunt, wie Marti ein sehr kleines Schweinchen und eine riesengroße NIKE-Sporttasche aufraffte. Er schob sie zusammen mit Felix in den Bunker und zog die Tür zu. Kaum hatte er sie geschlossen, prallte von außen etwas oder irgendwer mit voller Wucht dagegen.

»Hilf mir! Mach zu!«, rief Marti. »Komm schon, mach zu!«

»Das verdammte Rad klemmt!«

Gemeinsam schafften sie es. Als die Tür dicht war, blickte Felix durch das Guckfenster in den kleinen Raum. Er war voll mit Kranken, die wie irre Ameisen hin und her wuselten.

»Schau sie dir an! Schau dir die blöden Ficker an! So habt ihr euch das nicht gedacht, ne! So nicht! Ihr Ficker!«, brüllte Marti. Er lachte so laut und hysterisch, dass ihm die Tränen kamen.

Felix wand sich ab, der Anblick der hässlichen Fratzen und Kreaturen war zu viel für ihn. »Oh Mann«, stammelte er.

Das Schweinchen, das Marti auf den Boden gesetzt hatte, war voraus in den Gang gelaufen. Nun kam laut fiepend zurück und presste sich ängstlich an Martis Beine.

»Was hat es denn?«, fragte Felix. Ihm war flau im Magen.

»Gegenfrage: Was stinkt hier denn so?«

Von einer Sekunde zur anderen wurde Martis Gesicht hart wie Stein. Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er Felix einfach stehen und lief, mit der Flinte im Anschlag, Richtung Labor.

»Marti«, rief Felix ihm hinterher. »Warte auf mich!«

Als er ihn eingeholt hatte, kam Marti schon wieder aus dem Labor heraus und machte sich weiter auf die Suche.

»Wo ist das Biest?«, schrie er. »Ich knall es ab!«

»Beruhige dich. Keine Gefahr.«

»Sag du mir nicht, was Sache ist. Ich finde es auch so.«

Marti eilte weiter. Kurz darauf stand er im dunklen Aufenthaltsraum des Bunkers. Hier lag Tim und träumte im Fieberwahn vor sich hin. Felix hörte seine leisen, stockenden Atemzüge.

»Mach das Licht an!«, befahl Marti.

Felix gehorchte.

Tim schlief zusammengerollt auf seiner Pritsche. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und die Haare klebten ihm am Schädel. Von diesem Keller ging nur noch drei weitere Türen ab: zum Generator, zur Toilette und zum Lagerraum. Dort war Sofie und von dort kam auch der Gestank.

»Da drin ist es? Richtig?«

Felix nickt. »Beruhig dich. Es ist doch nur Sofie, Tims Freundin. Du weißt schon, das Mädchen, das du gesucht hast. Sie ist krank. Er versucht, sie zu heilen.«

»Einen Teufel wird er. Ich werde sie heilen.«

Marti entriegelte die Tür. Felix packte ihn an der Schulter. Marti fuhr blitzschnell herum und richtete eine Pistole auf ihn.

»Spinnst du?«, rief Felix.

»Verpiss dich!« Marti riss die Tür mit einem Ruck auf. Ein übler Schwall warme Luft strömte in den Raum und sie hörten ein fieses, unnatürliches Zischen und Gurgeln. Das Neonlicht sprang knisternd an und dann sahen sie das Mädchen. Sofie lag in ihrem blut- und kotbeschmierten Nachthemd auf einer mobilen Bahre, wie man sie in Krankenhäusern zum Transport benutzte.

Tim hatte sie mit den Armen und Beinen daran festgeschnallt. Als Sofie Marti und Felix sah, bäumte sie sich auf. Es war, als wolle ihr jemand den Teufel aus dem schmächtigen Körper treiben. Das ehemals hübsche Gesicht war vollkommen zerstört. Die Lippen und Augen waren mit eitrigen Pusteln und Blasen übersät. Blut sickerte aus Sofies Stupsnase und sie riss die Zähne auseinander und schnappte. Bevor Felix noch irgendetwas tun oder sagen konnte, hatte Marti ihr den Doppellauf der Schrotflinte unter den Kiefer gedrückt. Dann drückte er einfach ab. Blut, Knochen und Hirn spritzten breitflächig an die Wand, es roch nach Salpeter und Schwefel. Sofies Kopf war einfach weg.

»Operation erfolgreich. Patient geheilt.« Marti drehte sich zu ihm um.

Felix musste sich übergeben. Noch im Würgen hörte er einen langen, herzzerreißenden Schrei.

Tim war aufgewacht und stand auf einmal hinter ihnen.

Dann wurde es still.

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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