Danach

Eva klappte die Leuchtpistole auf und klopfte sie rücklings gegen das Fensterblech. Die rote Patrone fiel aus dem rauchenden Lauf. Drei Stockwerke weiter unten schlug sie auf der Straße auf. Sie landete zwischen den großen und kleinen Plastiktüten, die Eva seit Wochen mit Müll und Kot gefüllt und verschnürt einfach aus dem Fenster geworfen hatte.

In den ersten Tagen der Katastrophe, als erst das Wasser und wenig später auch der Strom in der Stadt abgestellt worden waren, hatten das alle gesunden Nachbarn so gemacht. Eine Woche lang hatte Eva mit einem jungen Mann kommuniziert, der schräg gegenüber von ihr im vierten Stock wohnte. Über die Straße hinweg hatten sie sich gegenseitig Botschaften auf Pappschilder gemalt, aus Angst durch Rufe die Aufmerksamkeit der Infizierten auf sich zu lenken. Doch dann war der Typ eines Morgens nicht mehr ans Fenster getreten und auch die anderen Müllhaufen wurden nicht mehr größer. Verwilderte, in den Gassen umherirrende Hunde rissen die Tüten auf und suchten gierig nach Essensresten. Irgendwann kamen auch sie nicht mehr. Die grausamen Schreie in der Nacht ließen Eva ahnen, was mit ihnen geschehen war.

Eva schloss das Küchenfenster und legte die Pistole zurück auf die Spüle, wo auch die Pappkiste mit den Patronen lag. Sie zog sich das blaue Halstuch von Mund und Nase und zählte die Munition noch einmal nach, obwohl sie genau wusste, wie viele noch übrig war. Vierzehn von ursprünglich 20 Stück, eine für jeden Tag. Ursprünglich hatten sie einem ihrer Nachbarn gehört: Herrn Dr. Kundratitz. Seine Wohnung lag auf der gleichen Etage.

In Evas Erinnerung war er ein netter, stets braungebrannter Herr um die fünfzig gewesen und – soweit sie es in einem flüchtigen Treppengespräch erfahren hatte – Geschäftsführer einer mittelständischen Firma für moderne LED-Produkte. Er nutzte seine Stadtwohnung nur unter der Woche. Die freien Tage verbrachte er mit seiner Familie in einem Haus auf dem Land, wo er auch ein kleines Segelboot liegen hatte. Deshalb – und weil die Wohnung direkt an ihre angrenzte – hatte Eva sie als Erste aufgebrochen und nach Vorräten und anderen nützlichen Dingen durchsucht. Neben einer gut gefüllten Hausbar war ihr dabei auch diverses Segler-Equipment und die Pistole samt Leuchtmunition in die Hände gefallen. Eine Chance auf Rettung.

Im Bad bürstete Eva sorgfältig ihr langes braunes Haar und betrachtete sich dabei im Spiegel. Sehr sparsam trug sie etwas Make-up und Rouge auf die Wangen auf und tuschte sich die Wimpern. Sie war froh, wenn sie irgendetwas Alltägliches tun konnte. Irgendetwas, bei dem die Zeit verging und das zumindest den Schein von Normalität verbreitete. Sie hielt sich und die Wohnung sauber, so gut es ging. Sie hatte aufgeräumt und sogar die Badfließen geputzt. Die parfümierten Dünste der Reinigungsmittel lagen noch in der Luft. Sie schminkte sich, weil sie das auch davor jeden Morgen getan hatte. Es half ihr, die Ruhe zu bewahren und konzentriert zu bleiben, ohne zu sehr ins Grübeln abzudriften.

In den ersten Tagen, alleine und isoliert in ihrer Bude und im Stadium einer Art dauerverdrogten Panik, war ihr das unmöglich gewesen. Sie hatte bis zum Schluss mit ihrer Mutter in Berlin telefoniert, dabei kaum geschlafen und gegessen und viel zu viel geraucht. Nachdem auch das analoge Festnetz zusammengebrochen war, hatte sie sich im Bett verkrochen und solange die Katastrophensendungen im Radio verfolgt, bis die schrecklichen Übertragungen eine nach der anderen aufgehört hatten. Als sie über den Sucher auch keine englischsprachigen Sender mehr hereinbekam, hatte sie tagelang nur noch geweint. Entweder hatte sie vor Angst und Sorge schlotternd unter ihrer Bettdecke gelegen, oder sie ihre gesamten Gras- und Haschischvorräte weggeraucht und ohne Ende Wodkamischgetränke getrunken. Dabei war sie in einen sehr desolaten Zustand geraten. Zugedröhnt und übermüdet hatte sie das Geschrei der Kranken und Gesunden, das Wummern der vorbeifahrenden Militärfahrzeuge, die Schüsse und Explosionen auf den Straßen und das laute Flappen der niedrig über die Dächer fliegenden Hubschrauber nur noch begrenzt wahrgenommen, vermischt mit der klagenden Stimme ihrer Mutter und den schlimmen Bildern und Nachrichten, denen sie sich in den ersten Stunden wie gelähmt über TV, Facebook, Twitter und YouTube ausgesetzt hatte. Wie verheerende Schneisen hatten sie sich in ihre Erinnerung eingebrannt.

Doch irgendwann waren nicht nur ihre Hoffnungen, sondern auch ihre Drogenvorräte endgültig zur Neige gegangen. Die Bildschirme blieben schwarz und das Rauschen des Küchenradios wurde immer leiser, bis es irgendwann ganz schwieg. Nach einer kurzen Phase der Ausnüchterung und Depression war es Eva gelungen, weitere Exzesse zu vermeiden. Theoretisch hätte der Wegfall jeglicher Kommunikationsmöglichkeiten und die zunehmende Isolation sie noch nervöser machen müssen. Doch genau das Gegenteil war der Fall.

Seltsamerweise fand Eva die Stille nach dem Schlechte-Nachrichten-Sturm tröstlich. Es fühlte sich an, als hätte sie ein Problem weniger, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste. Wenn die Welt da draußen von sich aus schwieg, dann hatte Eva die Möglichkeit, sich ungestört eine eigene zu erschaffen. Und diese kleine Welt, ihre Welt, war beherrschbar. Sie funktionierte. Ihr Körper, zwei Zimmer, Küche, Bad – sie musste nur alles in Ordnung halten und sich konzentrieren, nie einen Schritt vor dem anderen tun und immer in Bewegung bleiben.

Am Wichtigsten – das hatte Eva in den Katastrophensendungen erfahren – war es, genug frisches Wasser und Lebensmittel vorrätig zu halten, ohne das Haus zu verlassen. So konnte man die Ansteckungsgefahr angeblich verringern. Wie empfohlen und zum Glück noch rechtzeitig hatte sie ihre Badewanne und alle im Hause verfügbaren Wannen, Töpfe und Krüge mit Leitungswasser gefüllt, bevor das Wasser endgültig abgestellt worden war. Dann hatte sie ihre kleine Vorratskammer komplett ausgeräumt, inventiert und rationiert. Schnell war ihr klar geworden, dass sie - selbst bei strengster Selbstdisziplin mit den vorhandenen Lebensmitteln nicht länger als eine Woche auskommen würde.

Wegen der drohenden Verseuchung und den nachts vor ihrem Fenster umherirrenden Gestalten kam ein Verlassen des Hauses für Eva nicht in Frage. Stattdessen hatte sie beschlossen, die leerstehenden Wohnungen im Haus zu identifizieren, aufzubrechen und zu plündern. Schnell war klar, dass sich niemand im Treppenhaus aufhielt und die Vordertür zur Straße und der Hinterausgang zum Hof ordnungsgemäß abgeschlossen waren. Und obwohl bei Einbruch der Dunkelheit in der Wohnung über ihr ein dumpfes Poltern zu hören war, hatte sich Eva eines Nachts ein Herz gefasst und mit einer Taschenlampe und einem Küchenmesser bewaffnet in Gang hinausgewagt. Dort hatte sie so lange an der gegenüberliegenden Nachbarstür gelauscht, bis sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, dass Herr Kundratitz auch an jenem unheilvollen Freitagnachmittag nicht in seine Stadtwohnung zurückgekehrt war.

Am nächsten Morgen hatte sie die Tür mit einem Schraubenzieher aufgebrochen und alles herausgeholt, was ihr von Nutzen sein konnte. Das Gleiche hatte sie in zwei leerstehenden Wohnungen im zweiten und vierten Stock wiederholt. Auf diese Weise hatte sie sich einen ordentlichen Vorrat an Lebensmitteln sichern können, trotzdem stand sie vor einem Problem: Ihr Vorrat an Getränken und Wasser ging endgültig zur Neige. Wenn sie nicht verdursten wollte, musste sie das Haus verlassen oder eine der Wohnungen aufbrechen, aus der Geräusche kamen. Ob sie wollte oder nicht.

Eva blickte prüfend in den Spiegel. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden, band sich die Haare zurück und beurteilte ihre Geistesverfassung als wachsam, aber ruhig. Sie fragte sich, warum sie immer noch gesund war. Sie konnte sich einfach nicht erklären warum. Alle anderen hatte es erwischt. Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen von Menschen waren erkrankt. Die Sache war außer Kontrolle. Alles war zusammengebrochen, doch ihr ging es gut. Sie wusste nicht, warum das so war. Aber wenn sie bei ihrem Versuch, an Wasser zu gelangen, scheiterte, dann würde ihr ihre Immunität auch nicht mehr helfen. Bald würde sie immer schwächer werden und innerhalb weniger Tage so stark dehydrieren, dass sie sich überhaupt keine vernünftigen Fragen mehr stellen könnte. Es war sinnlos zu warten: Sie musste etwas riskieren. Falls sie es nicht schaffte, dann hatte sie es wenigstens versucht.

Eva nickte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu. Dann streifte sie zwei neongelbe Putzhandschuhe bis zu den Ellbogen und zog das Halstuch wieder fest, über Mund und Nase.

»Kopf hoch«, sagte sie leise.

Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren.

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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