Davor

»Langsam machst du mir wirklich Angst«, sagte Felix und zog heftig an seiner Kippe.

Tim wiegte den Kopf, sagte aber nichts.

»Und das hier alles?« Felix machte eine Bewegung mit der Zigarettenspitze. »HVA Rgst. Quarantäne Abt. 3. Was heißt das?«

»Eine alte Bezeichnung aus dem Dritten Reich. Heeresversuchsanstalt Regenstauf. Quarantäne Abteilung Drei. Ein ehemals geheimes Forschungslabor der Wehrmacht.«

»Du willst mich doch verarschen.«

»Warum sollte ich? Solche Einrichtungen gab es damals im ganzen Reichsgebiet.«

»Heeresversuchsanstalt. Irgendwie kommt mir das sogar bekannt vor …«

»Wunderwaffen.«

»Wie bitte?«

»Du kennst das Wort im Zusammenhang mit Hitlers so genannten Wunderwaffen. Zum Beispiel die V2 Rakete. Die wurde in der HVA Peenemünde entwickelt und gefertigt. Aber es gab noch andere Forschungsprojekte: Panzer, Geschütze, Flugzeuge. Die Atombombe, natürlich. Das meiste davon wurde nach dem Krieg von den Amis und Russen mitgenommen und weiterentwickelt.«

»Und an was wurde hier gearbeitet? Lass mich raten: an deinem Virus? Ich dachte, Hitler war total gegen Kampfstoffe, wegen seiner traumatischen Giftgas-Erlebnisse im Ersten Weltkrieg?«

»Das war er auch. Aber bei den Z-Viren handelt es sich nicht um irgendeinen gewöhnlichen Kampfstoff. Fürs Schlachtfeld sind sie vollkommen ungeeignet.«

»Z-Viren? Ich dachte, es ist ein Virus.«

»Im Grunde ja. Aber soweit ich inzwischen herausbekommen habe, gibt es zwei Variationen. Ich hab die Unterlagen aus den Zucker-Archiven geklaut. In denen heißen sie Z1 und Z2. Nur wenn beide im menschlichen Organismus zusammenkommen, bricht die Krankheit aus. Es sind raffiniert gemachte Puzzlestückchen.«

»Aha.« Felix warf die heruntergebrannte Zigarette auf den Fußboden und drückte sie mit der Schuhspitze aus. Er war sich nicht sicher, ob Tim noch bei Verstand war. Das hier klang alles, als sei er vollkommen übergeschnappt.

Tim schien seine Gedanken zu erraten. »Du denkst, ich bin ein Fall für die Psychiatrie. Stimmt's?«

Felix zuckte mit den Achseln. »Wenn ich ehrlich sein soll … Es klingt schon ziemlich crazy.«

»Das kann ich dir nicht verdenken«, murmelte Tim. »Aber es ist leider wahr.«

Plötzlich fiel Felix wieder ein, was auf den Kisten unter der Hütte gestanden hatte. »Und ZW2? Was heißt das?«

»Zuckerweizen 2. So nannten die Nazis den Z2-Typ, den sie in den Pflanzen reproduziert hatten.«

»Aber in den Kisten waren doch nur Körner.«

»Das ist ja das Raffinierte. Der Virus ist im Korn isoliert und haltbar. Die Wirkungsweise selbst verstehe ich noch nicht ganz. Aber es handelt sich um eine Art früher Form der Molekulargenetik, wie wir sie heute kennen. Aber eigentlich war es ein Zufallsprodukt. Mein Großvater - Prof. Dr. Albert Zucker hatte in den dreißiger Jahren den Auftrag bekommen, eine besonders überlebensfähige und nahrhafte Weizenart zu züchten. Sie sollte nach dem Krieg im Osten großflächig angebaut werden und so das Überleben der deutschen Rasse sichern. So wie es heute amerikanische Agrarkonzerne wie Monsanto tun.«

»Und was wurde daraus?«

»Nichts. Die Ergebnisse waren miserabel. Es gab jedoch einen ungeplanten Nebeneffekt.«

»Nebeneffekt? Wie bei der Erfindung von Viagra?«

»Genau. Mit dem Unterschied, dass die Probanten, meist KZ-Insassen, nach dem Verzehr leider keinen besseren Sex hatten.«

»Sondern?«

»Sie degenerierten.«

»Degenerierten?«, echote Felix.

»Ja. Verdummen, verblöden, nenn es wie du willst. Sie wurden kurzeitig doof und stumpf. Willenlos. Menschen zweiter Klasse, wenn du so magst. Sie konnten plötzlich nicht mehr rechnen und schreiben. Ihr Wortschatz nahm rapide ab und sie waren nur noch an der Befriedigung der einfachsten Grundbedürfnisse interessiert. Aber nach ein paar Tagen erholten sie sich wieder.«

Felix wurde es zu viel, ihm brummte der Schädel. Er stand so abrupt auf, dass die Stuhlbeine über den Boden schrappten. An Tim vorbei trat er zu dem Labortisch und betrachtete die Gerätschaften. Er hatte keine Ahnung von Chemie oder Biologie, geschweige denn von naturwissenschaftlicher Forschung. Aber es sah tatsächlich so aus, als habe Tim hier wie ein Verrückter an irgendetwas herumgetüftelt. In verschiedenen Mörsern hatte er offensichtlich Weizenkörner zu Pulver zerstampft, dazwischen lagen Kopien von alten Laborberichten mit Hakenkreuzen im Briefkopf. Alte Glasampullen mit milchig gelben Flüssigkeiten standen herum und auf den Computerbildschirmen flackerten Zahlenkolonnen von Versuchsreihen. Tim war tatsächlich von all dem überzeugt, was er Felix gerade erzählt hatte.

»Und was ist dann geschehen?«, fragte er ihn.

»Als Hitler kurz vor Ausbruch des Krieges die Ergebnisse vorgelegt bekam, soll er gejubelt haben. Er sah darin eine neue Möglichkeit, wie er seine irrwitzigen Rassetheorien in die Realität umsetzen konnte. Denn natürlich glaubten die führenden Nazis ihren eigenen Müll in letzter Konsequenz nicht selbst. So dumm waren sie nicht. Aber wenn es faktisch keine Untermenschen gab, so konnte man sie vielleicht auf diese Weise erschaffen. Und beherrschen.«

»Und das alles mit der Hilfe deines Großvaters.«

Tim nickte. »Die Gelder für das Forschungsprojekt wurden vervielfacht. Großvater bekam alles, was er wollte. Die besten Wissenschaftler, die teuersten Gerätschaften, geheime Forschungseinrichtungen wie diese hier und natürlich auch jede Menge menschlicher Versuchskaninchen.«

»Das ist ja zum Kotzen«, rief Felix.

»Allerdings«, antwortete Tim. »Ich bin durch einen Zufall auf die Sache gestoßen und habe meinen Vater zur Rede gestellt. Es gab einen gewaltigen Krach. Ich wollte damit an die Öffentlichkeit gehen und reinen Tisch machen. Aber er hat sich geweigert, die Archive zu öffnen.«

»Und dich hat er einfach vor die Tür gesetzt.«

»Ja. Ich zerstöre sein Lebenswerk, hat er gesagt.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Felix. »Aber warum verkriechst du dich hier unter der Erde? Warum gehst du nicht einfach raus und erzählst allen, was damals geschehen ist? Ich kann dir dabei helfen.«

»Nein«, sagte Tim. »Du verstehst das nicht. Ich verstehe es ja selbst noch nicht ganz. Niemand kann mir helfen. Und dir auch nicht. Weil diese verdammte Hütte brennt.«

»Aber wieso denn das? Wieso gehen wir nicht einfach raus und klären alles auf? Wir müssen die Leute warnen.«

»Jetzt begreife doch, Felix. Dafür ist es jetzt zu spät. Z2 ist im Grunde nur ein Auslöser. Der Z1-Virus ist das Gegenstück. Er wurde von den Nazis bereits vor über siebzig Jahren per Saatgut in die Nahrungskette eingebracht. Inzwischen ist praktisch jeder Mensch auf der Erde damit infiziert.«

»Aber das Teufelszeug verbrennt doch gerade da draußen.«

Müde schüttelte Tim den Kopf. »Eine Verbrennung von Typ 2 schleudert Unmengen von Viren in die Luft. Die haben mit dem Originalvirus auch nicht mehr viel zu tun. Die Hitze hat sie teilweise sterilisiert und damit deformiert und verkrüppelt. Werden sie eingeatmet, setzen sie wahrscheinlich eine Pandemie in Gang. Mit wenigen Sekunden Inkubationszeit und fürchterlichen, unvorhersehbaren Folgen. Es ist außer Kontrolle. Vollkommen außer Kontrolle!« Tims Wangen glühten und seine Augen funkelten wie schwarze Sterne. Er hatte sich regelrecht in einen Wahn geredet.

»Du hast doch 'nen Knall«, blaffte Felix. »Woher willst du das denn alles wissen? Komm. Lass uns hier verschwinden. Es muss doch einen zweiten Ausgang über die Luftschächte geben.«

Er wollte sich von ihm abwenden. Aber Tim hielt ihn so fest am Oberarm, dass es schmerzte.

»Halt, warte«, sagt er bestimmt. »Ich werde es dir beweisen. Ich bringe dich jetzt zu Sofie. Aber du musst mir versprechen, dass du Ruhe bewahrst. Unter allen Umständen. Versprich mir das.«

»Na gut«, sagte Felix. »Versprochen.«

Aber er glaubte ihm kein Wort.

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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