Davor
Hinter dem Schuppen war der Boden dunkel. Felix stolperte und setzte das Mädchen ab. Sie brachte ihn zu einem schmalen Pfad, der über eine Wiese führte. Ausrangierte Landmaschinen standen wie Urtiere im hohen Gras. Vor einem windschiefen Bretterverschlag endete der Weg. Das Mädchen rüttelte an einer Tür. Es roch scharf. Der Boden war glitschig. Am Eingang hörte Felix ein misstrauisches Gurren und wartete.
»Ich mache Licht«, sagte das Mädchen und ein roter Strahler flammte auf.
In seinem Schein sah Felix das Federvieh auf den Stangen hocken. Die Tiere klappten die großen Augen auf und zu. Der Hahn erhob sich und plusterte den Hals.
»Da ist Herta«, sagte das Mädchen und zeigte auf den Boden.
Felix schaute nach unten. Ganz allein in der Ecke, halb im Stroh versteckt, sah er das Huhn mit dem schiefen Kamm.
»Warum sitzt sie dort unten und nicht bei den anderen?«, fragte er.
»Sie ist halt komisch«, sagte das Mädchen. »Die andern hauen ihr immer auf den Kopf.«
Der Hahn breitete die Flügel aus und die Hennen mussten zur Seite wackeln, um nicht herabzufallen. Aus einem Auge starrte der Hahn Felix böse an.
»Ich glaube, wir lassen sie lieber schlafen«, sagte er und trat hinaus.
Er ging ein paar Meter durch die Nacht, atmete frische Luft und versuchte, mit einem Stecken die Hühnerkacke von seinen Sohlen zu kratzen. Ein Stück unterhalb des Hofes begann der Wald. Dicht und schwarz standen die Bäume, als Felix den Blick über die Wipfel wandern ließ. Irgendwo im Tal brannte ein Licht. Die Kleine löschte die Lampe und schlug die Türe zu.
»Wo bist du?«, rief sie.
»Hier.«
Sie lief ihm entgegen und sein Herz machte einen kleinen Sprung.
»Mach die Augen zu«, sagte sie, bevor er sich wundern konnte.
Er gehorchte und sie legte ihm etwas Warmes und Rundes in die Hand. Ein Ei.
»Für dich.«
Er lächelte und wusste nicht, was er sagen sollte. »Siehst du das Licht?«, fragte er schließlich.
Das Mädchen folgte seinem ausgestreckten Arm mit einer schnellen Bewegung, schüttelte aber den Kopf.
»Da unten«, sagte er und kniete sich neben sie. Er nahm ihren kleinen Zeigefinger und wanderte damit über den Wald.
»Was ist da?«
»Die Hütte.«
Hütte, schallte es wie ein Echo in seinem Kopf. Tim. Hier hatte er sich versteckt. Ganz in der Nähe seines Elternhauses. Dort, wo ihn niemand suchen würde. Einfach genial.
Felix stand auf. Er musste Marti holen. Aber dann dachte er, dass es ursprünglich seine Story gewesen war. Sollte Marti doch mit Eva seinen Spaß haben, sollten sie sich doch gemeinsam die Birne vollknallen. Er würde in der Zwischenzeit das verdammte Rätsel lösen und Tim finden.
»Pass auf. Ich muss fort. Du bleibst hier.« Er gab dem Mädchen das Ei zurück. »Heb es für mich auf.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er los, direkt über die Wiese zum Waldrand. Bevor er zwischen den Stämmen verschwand, blickte er sich noch einmal um. Im Nachtschatten der Scheune war niemand zu sehen.
Im Unterholz verlor Felix das Licht aus den Augen. Je weiter er lief, desto weniger glaubte er an seine Schlussfolgerung. Es war doch alles Quatsch. Trockenes Laub lag auf dem Boden, es war dünn und knisterte wie Pergamentpapier. Er sah nach oben, wo der Mond durch die Blätter schimmerte. Kleinere Äste und Zweige zerbrachen unter seinem Gewicht, und er kam sich vor wie ein großer, stapfender Fremdkörper. Ein Eindringling, ein Außerirdischer. Für einen Moment schien alles still. Dann drang die Musik der Band wieder an sein Ohr und er hörte irgendetwas, ganz in der Nähe. Es klang wie ein stumm gestellter Klingelton. Angestrengt starrte er ins Gebüsch, sah aber nichts. Beim Schrei eines Vogels schreckte er hoch.
Er traf auf einen Weg, der ihn durch eine finstere Nadelschonung brachte. Der letzte Regen hatte die Fahrspuren ausgewaschen, jetzt waren sie hart wie Stein. Er strauchelte, vertrat sich den Knöchel. Er fluchte und humpelte weiter, bis er auf eine niedrig bewachsene Lichtung kam. Ein schmaler, glitzernder Bachlauf schlängelte sich durch das kniehohe Gras und die Brennnesseln zu beiden Seiten des Ufers. Aber es war nicht still: Unzählige Krötenkehlen sangen in die Nacht.
Gegenüber entdeckte er die Hütte. Bis auf das Dach war sie aus groben Holzbohlen gezimmert, ihr Fundament war aus Fels und Steinen. Licht fiel durch zwei vergitterte Fenster auf eine Bretterterrasse und den Weg. Felix sprang über die flache Furt, dann trat er vor die Hütte.
»Hallo. Ist da jemand?«, rief er mit unterdrückter Stimme.