Danach
Mit einem Auge auf Kimme und Korn ging Marti von vorn um das Auto herum. Er schaute kurz zur Seite, Blut und Haare klebten auf dem Kuhfänger. Ein Scheinwerfer des Benz war zertrümmert. Sonst war nichts kaputt. Er visierte wieder die Spitze der alten Schrotfinte an und richtete sie aus der Deckung auf den dubiosen Klumpen, der hinten auf der Fahrbahn lag. Dann schritt er langsam darauf zu. Alle paar Meter blieb er stehen und schwenkte zur Absicherung in den Wald. Aber zwischen den Baumstämmen und Büschen blieb alles ruhig. Es herrschte eine friedliche Abendstimmung. Vögel zwitscherten in der Dämmerung, es roch nach trockenem Moos und fauligen Pilzen. Als er auf zehn Meter an das Unfallopfer herangekommen war, senkte Marti erleichtert die Flinte. Das Bündel war ein junger Rehbock. Sein Bauch bewegte sich schnell und flach, ein Bein lag seltsam verdreht. Als das Tier ihn registrierte, hob es seinen gehörnten Kopf und funkelte ihn dunkel an. Blut tropfte von der zur Seite baumelnden Zunge auf sein schönes Fell, wahrscheinlich hatte der arme Kerl sich beim Aufprall selbst in die Zunge gebissen. Der flehende Blick stach Marti direkt ins Herz. Er ging vor dem Tier in die Hocke und stützte sich dabei auf dem Gewehrkolben ab.
»Sorry …«, flüsterte er.
Etwa eine Minute lang verharrten beide. Dann brach das Licht in den Pupillen des Rehbocks. Sein Kopf sank zurück auf den Asphalt, die langen Wimpern zitterten ein letztes Mal. Er war tot. Marti wischte sich eine einzelne Träne von der Wange.
Doch sein Mitgefühl verschwand genauso schnell wie es gekommen war. Die Gier nach frischem Fleisch gewann die Oberhand. Sicher würde er in Heiners Bibliothek Informationen darüber finden, wie man so einem Tier das Fell fachgerecht abzog und es ordnungsgemäß ausnahm. Bilder von lecker duftendem Rehrücken, von knusprigem Rehbraten und saftigem Rehgulasch stiegen in ihm auf. Und wenn er sich geschickt anstellte, würde das Fleisch vielleicht tage-, wenn nicht sogar wochenlang reichen.
Marti stand auf und eilte zum Wagen zurück. Wenn man es genau nahm, war dieser Unfall ein Glücksfall. Er legte die Flinte auf der Motorhaube ab. Aus dem vollgestopften Fußraum der Rückbank zog er ein Paar Arbeitshandschuhe und ein Stück Seil. Damit ging er wieder zurück, verknotete die vier Hufe des Tiers mit dem einen Ende des Stricks und wuchtete sich den schweren, warmen Körper wie einen Pelzkragen auf die Schultern.
Marti war so erschöpft von den Unternehmungen des Tages, dass seine Knie unter dem Gewicht zitterten. Deshalb bemerkte er nicht gleich, dass irgendetwas im Wald vor sich ging. Die Hälfte des Wegs hatte er schon geschafft, als sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichteten. Das kannte er schon. Er blieb stehen und lauschte.
Die Vögel hatten aufgehört zu singen.
Alle Vögel, auf einmal.
Marti humpelte schneller. Während er immer weiter Richtung Wagen hastete, vernahm er ein schnelles Trappeln und Rascheln, das aus dem Wald zu seiner Rechten kam und rasch immer lauter und vielstimmiger wurde. Genau in dem Moment, als er den Geländewagen erreicht hatte und das tote Tier über seinen Kopf hinweg auf die Motorhaube warf, brach es vor und hinter ihm aus dem Unterholz: Rehe und Hasen, sogar eine Gruppe Wildschweine und jede Menge Mäuse kreuzten oberhalb und unterhalb seiner Position im wilden Galopp die Straße. Es waren Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte. Marti musste nicht lange überlegen, vor was oder wem sie auf der Flucht waren.
Aber eigentlich war es doch noch viel zu hell für die kranken Freaks. Blitzschnell schnappte er sich die Schrotflinte und richtete ihren Lauf ins Terrain. Die wilden Tiere ließen sich in ihrer Flucht nicht weiter stören. Zwanzig Sekunden später war der Spuk auch schon vorbei. Es kamen keine Waldbewohner mehr nach und ihr Getrappel wurde auf dem weichen Waldboden immer leiser, bis es schließlich ganz verschwand.
Marti wartete noch ungefähr eine Minute. Er hörte sein Herz pochen und die Insekten zwischen den Gräsern sirren, so still war es auf einmal. Die Vögel schwiegen weiterhin. Aber es kam niemand nach. Kurzentschlossen lehnte er das Gewehr wieder gegen den Kotflügel und verknotete den toten Rehbock so schnell er nur konnte. Er zog das letzte Stück Seil gerade an den kurzen, gebogenen Hörnern und am Kuhfänger fest, als er ein leises Wimmern vernahm. Es kam aus dem Inneren des Wagens. Hänschen.
Höchste Zeit abzuhauen.