Danach

Marti hatte die Orientierung verloren. Er brauchte dringend etwas zu trinken, er dehydrierte. Graue Schlieren tanzten vor seinen Augen. Außerdem wog Hänschen immer schwerer auf seinem Rücken. Die Sporttasche schlug ihm mit jedem Schritt ins Kreuz. Seine Atemwege fühlten sich schuppig und ausgetrocknet an und sein Gehirn verlangte nach Nikotin. Er brauchte eine Pause. Aber er hatte Angst, sich irgendwo hinzusetzen. Wenn er das tat, blieb er vielleicht für immer liegen und erwachte am nächsten Morgen als angeknabbertes Irgendwas. Also blieb er einfach da stehen, wo er gerade war. Mitten im Bach, in dessen flachen Windungen er sich seit einer Stunde das Tal hinauf quälte.

Er setzte das Schweinchen am Ufer ab und legte die Tasche daneben. Hänschen machte keine Anstalten herumzulaufen. Es kuschelte sich einfach an den Stoff der Tasche und machte die Augen zu. Marti nahm einen tiefen Schluck aus der Colaflasche. Das warme Gebräu schmeckte nach süßem Eisen. Er trank die Flasche ganz aus und rülpste. Allmählich ging sein Atem wieder ruhiger und er seufzte, als der Schmerz für kurze Zeit aus seinen Muskeln wich. Langsam dämmerte ihm, dass dieser Tag, der so hoffnungsvoll begonnen hatte, in einer einzigen Katastrophe geendet hatte. Aber er war zu erschöpft, um enttäuscht zu sein. Stattdessen rauchte er, legte den Kopf in den Nacken und sah hoch zu den Sternen.

Er befand sich in einer engen Schlucht. Links und rechts von ihm wuchsen schwarze Tannen fast bis an das Wasser heran. Ihre Spitzen ragten wie ein zackiger Gebirgslauf in den blitzenden und blinkenden Nachthimmel. Die Luft musste heute sehr klar und sauber sein, denn er sah viel mehr Sterne als für gewöhnlich. Das lag wohl an den fehlenden Abgasen, dachte Marti. Keine Fabriken, keine Autos, kein Feinstaub. Der Untergang der Menschheit: ein Fest für die Natur.

Je ruhiger sein Atem ging, umso besser konnte er hören. Das Wasser gluckerte leise, fast melodisch vor sich hin. Fledermäuse glitten wie graue Papierflieger an ihm vorbei. Irgendwo knisterte es im Gebüsch, der Schrei einer Eule kam von weit oben. Angestrengt horchte Marti, ob er irgendetwas Verdächtiges ausmachen konnte, ein Knacken, schleifende Schritte oder ein verräterisches Gurgeln und Schmatzen. Aber alles war normal. Die Jäger hatten seine Spur verloren.

Er wollte gerade die Tasche wieder schultern und das schlafende Hänschen aufnehmen, als er etwas sah. Erst hielt er es für das kurze Aufblitzen einer Lampe. Aber dann tanzten die Lichter aus verschiedenen Richtungen. Sie blinkten und leuchteten. Feengleich schwebten sie lautlos und federleicht zwischen ihm und der Uferböschung umher: Glühwürmchen, ein gutes Dutzend davon. Völlig gebannt folgte Marti ihren verschlungenen Bewegungen. Wann hatte er zum letzten Mal so etwas gesehen? Das musste über zwanzig Jahre her sein. Er war noch ein Kind gewesen damals. Und jetzt? Wie alt war er jetzt? Es fühlte sich an, als sei er in den letzten Tagen um Jahrzehnte gealtert. Der Reigen der Käfer gab ihm für einige Minuten das Gefühl, woanders zu sein. An einem anderen, besseren Ort. Auf einmal, als hätten die Insekten es untereinander abgesprochen, verloschen alle Lichtquellen. Es dauerte etwa zehn Sekunden, dann begann der Zauber von vorn. Vielleicht gibt es Hoffnung, dachte Marti.

Ein Schrei brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er klang wie der Ruf eines gequälten Kindes oder der Klagelaut einer einsamen Katze. Andere, nicht weniger beunruhigende Rufe antworteten. Marti ahnte, dass die Untoten die Suche nach ihm nicht aufgegeben hatten. Anscheinend waren sie ausgeschwärmt und kommunizierten auf eine mysteriöse Art miteinander. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Sofort war er wieder hellwach. Er hängte sich die Flinte griffbereit um und steckte die Glock fest in den Hosenbund. Dann packte er die Tasche und nahm das Schweinchen auf die Schultern.

Immer in Bewegung bleiben.

Nach einem halbstündigen Marsch roch die Luft nach kaltem Rauch. Marti atmete sie tief bis in die Lungen ein. Das Tal weitete sich und auf einmal stand er in einer unwirklichen, von kleinen Granitfelsen und rundgewaschenen Findlingen zerklüfteten Marslandschaft. Hier war kein Baum mehr unversehrt. Verkohlte Stämme staken wie abgebrochene Zahnstocher in die Luft. Um sie herum schimmerte weiße Asche wie staubige Schneeflecken im Mondlicht. Nur eine kleine Ansammlung von niedrig gewachsenen Kiefern deutete an, dass dies keine Studioeinrichtung für einen Science Fiction-Film war, sondern hier einmal ein echter, gesunder Wald gestanden hatte. Es dauerte eine Weile, bis Marti begriff, wohin er sich verlaufen hatte.

Die Hütte. Unwillkürlich entwich ihm ein kurzes, ihm selbst fremd klingendes Lachen. Wie lange hatten Felix und er nach dem verdammten Schuppen gesucht. Und jetzt stolperte er einfach über seine Ruinen. Das Leben war manchmal ein schlechter Witz. Trotzdem schöpfte er frischen Mut. Nicht weit weg, vielleicht fünfhundert Meter von seiner Position entfernt, lag oben an der Straße der Hof, auf dem in jener unseligen Nacht die Party stattgefunden hatte. Dort konnten er und Hänschen bis zum Morgen sicheren Unterschlupf finden.

»Hörst du, Schweini?«, flüsterte Marti. »Gleich haben wir es geschafft.«

Das müde Kerlchen schlug die Augen auf. Es leckte ihm die Finger und schnupperte mit seinem Rüssel in die brandige Nachtluft. Dann begann es leise zu wimmern.

Marti wusste, was das bedeutete. Der Feind war in der Nähe. Schnell verließ er das Flussbett und stolperte eine verkohlte Böschung hinauf. Immer weiter in die Richtung, in der er den Bauernhof vermutete. Nach etwa einhundert Metern sah er bereits den Dachgiebel der großen Scheune. Er zeichnete sich scharf gegen den dunkelblauen, mit Sternen übersäten Nachthimmel ab. Der Anblick jagte ihm einen Schuss Adrenalin durch den Körper. Er beschleunigte seine Schritte noch einmal, bis er fast rannte.

Da begann Hänschen zu fiepen und Marti blieb stehen. Schwer atmend sah er sich um. Sein Blick sprang zwischen den verkohlten Stämmen hin und her. Wie schwarze Waldkobolde standen sie stumm und krumm um ihn herum. Ihre wenigen, verbliebenen Äste warfen unheimliche Schatten auf den Boden und machten ihm Angst. Er zog die Sporttasche nach vorn und öffnete den Reißverschluss. Mit einer Hand wühlte er nach dem Nachtglas. Er setzte es an die Augen und suchte Zentimeter für Zentimeter den Rand des verbrannten Tales ab: jene Linie, wo das Ende der Marslandschaft und der Anfang des Weltalls aufeinandertrafen.

Dann entdeckte er die Untoten. Ihre krakeligen Silhouetten bewegten sich langsam auf ihn zu. Er zählte mehr als ein Dutzend allein nur aus Richtung der Scheune. Die Meute hatte ihn offensichtlich weiträumig umzingelt. Grob verteilt zogen sie die Schlinge nun schweigend zu. Er saß in der Falle! Ohne nachzudenken drehte er sich um und floh, halb rennend, halb stolpernd zum Bach zurück. Die Asche staubte unter seinen Stiefeln und warf eine graue Fahne hinter ihm auf. Unter Aufbietung seiner letzten Energiereserven durchquerte er die Furt und stürzte auf der anderen Seite zu den schwarzen Fundamente der niedergebrannten Hütte. Von dort sah er mit bloßem Auge die ersten Zombies auf sich zukommen. Ohne genau zu wissen, was er tat, riss er das Plastikband der Polizeiabsperrung ab. Mit den Beinen voran rutschte er den in sich zusammengesackten Fußboden hinunter. Er warf Hänschen durch ein aufgebrochenes Loch im Boden und sprang ihm hinterher. Auf allen Vieren krabbelte er durch Asche und Holzreste in eine Ecke des Kellers, Hänschen immer vor sich. An einer halb eingestürzten Wand war Schluss. Marti kauerte sich mit dem Rücken dagegen. Er presste das Schweinchen fest an sich und richtete den Lauf der Flinte in die Richtung, aus der die ersten Killer kommen mussten.

»Shhhhh«, flüsterte er und kraulte Hänschens haarigen Kopf.

Dann sah er das Licht.

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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