Danach
Marti donnerte den Einkaufswagen zwischen die Angreifer. Die Untoten purzelten auseinander. Bevor sie überhaupt begriffen, was geschah, hatte Marti das Schweinchen mit beiden Armen umschlungen und in den Korb geworfen. Dann trat er einem der Kerle - der mit dem Zopf hatte sich als Erster wieder aufgerappelt die Stiefelsohle mit Wucht ins Gesicht. Seine Nase knackte wie morsches Holz. Gleichzeitig packte ihn ein anderer, der im Dunkeln am Boden lag, am Fußgelenk. Marti leuchtete an sich herab und setzte dem armen Teufel die Mündung der Glock direkt auf die Stirn. Dann drückte er ab. Im Schein der Lampe spritzte dickflüssiges Blut und Gehirnmasse auf den Boden, der eiserne Druck um Martis Gummistiefel lockerte sich. Dem Greifer fehlte jetzt der halbe Hinterkopf, aber seine Augäpfel und die Finger bewegten sich noch.
Hänschen quiekte, so laut er konnte. Aber er blieb im Einkaufswagen, zwischen all den Sachen, und ruderte und strampelte, um nicht umzufallen. So schnell wie Marti es schaffte, brachte er seine Fracht wieder in Fahrt. Er schlitterte los, prallte immer wieder gegen die Regale, raste Richtung Licht.
Aber die untoten Angestellten blieben ihm auf den Fersen. Marti hatte keine Zeit, sich umzusehen, aber er glaubte, ihr Trampeln und Keifen zu hören. Endlich hatte er den Kassenraum erreicht. Er schepperte an den Bändern vorbei und rammte den Wagen mit full speed durch die schmale Öffnung am Ausgang. Dabei löste sich die Sperre, die Schiebetüren schlossen sich wieder. Mit einem Arm versuchte Marti sie auseinanderzuhalten, doch die Mechanik war zu stark. Um Zeit zu gewinnen, drehte er sich ein letztes Mal um und verfeuerte das Magazin in Richtung der Verfolger, die von allen Seiten auf ihn zuwankten. Das brachte ihm wertvolle Sekunden.
Als der Abzug nur noch klickte, zwängte er sich im letzten Augenblick selbst durch den Spalt. Draußen fiel er hin und schlug mit Schulter und Hinterkopf hart auf den Asphalt. Die Kreaturen rannten blind und gierig gegen die sich langsam schließenden Scheiben und streckten ihre unappetitlich anzusehenden Hände und Finger durch die Ritze. Aber Marti trat ihre Griffel im Liegen mit den Stiefelabsätzen zurück, immer wieder und so lange, bis die Schiebetür endlich verschlossen war. Schnell rutschte er auf dem Hosenboden vom Eingang weg. Während sich die Untoten wie in einem Aquarium die Gesichter an den Scheiben plattdrückten und ihre Kiefer dabei wie Gummibänder auf- und zuschnappten, ließ Marti das Magazin aus dem Pistolengriff fallen und schob ein volles hinein. Schwer atmend richtete er die Waffe mit ausgestrecktem Arm auf die Freakshow. Aber die Tür hielt stand. Der Schmerz, den das grelle Sonnenlicht offenbar den Untoten bereitete, gewann die Oberhand über ihre Lust nach Fleisch. Sie wanden sich umständlich ab und zogen sich kriechend und torkelnd, einer nach dem anderen, in die Dunkelheit zurück.
Marti sackte nach hinten weg. Als er vollkommen erschöpft und zitternd mit dem Rücken auf dem glühend heißen Asphalt lag, spürte er, wie warmes Blut aus einer Wunde am Hinterkopf sickerte und ihm die Haare verklebte. Er fasste danach, sah das Rot an seinen Fingerkuppen. Er blickte nach oben. Der Himmel war blau.
Er grübelte einen Moment. »Wie, wo, was, weiß …«, summte er dann und rieb sich die Augen. Sein Herzschlag, der rhythmisch und kräftig wie ein Einzylindermotor hinter seinen Rippen hämmerte, wurde langsamer. Hänschen fiel ihm wieder ein, der gerade keinen Mucks mehr machte. Er drehte den Kopf im Liegen nach ihm um und sah das Schweinchen, lebendig und wohlbehalten, eingeklemmt zwischen all den Sachen im Einkaufswagen. Zufrieden knabberte Hänschen an einem Schokoriegel, der mit den Zigaretten zusammen ganz unten im Korb gelandet war.
»Mach das nie wieder«, sagte Marti. »Hörst du? Mach so etwas nie wieder.«
Er sicherte die Pistole und sammelte das leere Magazin ein. Dann stand er ächzend auf. Er fischte sich eine Schachtel Pall Mall aus dem Wagen, riss mit verschwitzen Fingern das Zellophan ab und zündete sich eine Zigarette an. Die ersten, tiefen Züge waren wie ein Kick. Martis Kopf fühlte sich leicht und luftig an. Trotz der Pfeife war ihm, als hätte er nicht nur ein paar Tage, sondern ein ganzes Jahr lang nicht mehr geraucht. Als er am Filter angekommen war, steckte er sich gleich noch eine an. Es tat einfach zu gut.
Nebenbei tätschelte er Hänschen, als wäre er sein Hund, und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht. Schließlich wandte er sich seinem nächsten Ziel zu, dem großen Edeka-Markt hinter der Aral Tankstelle. Er suchte nach irgendwelchen Unstimmigkeiten, nach potenziellen Warnzeichen, die eine ernsthafte Gefahr heraufbeschwörten. Er beschloss, bei der anstehenden Nahrungsmittelbeschaffung doppelt vorsichtig zu sein. Es war ein riesiges Glück, dass die Kranken das Tageslicht wie Kellerasseln mieden. Aber das bedeutete eben auch, dass es in der Dunkelheit nur so von ihnen wimmelte.
Doch im Moment war alles okay. Er war allein. Die Sonne strahlte kräftig. Über den großen, leeren Parkplatzflächen schwamm die Hitze in der Luft.
Marti klemmte sich die halb gerauchte Kippe in den Mundwinkel und begann, das eingesammelte Material durch die zerborstene Heckscheibe in den Benz zu werfen. Er war zu beschäftigt damit, um einen Augenblick innezuhalten und sich über sich selbst oder die ganze Situation zu wundern. Wäre jetzt, in diesem Augenblick, ein Freund oder Fremder bei ihm gewesen, er hätte sich sicher so seine Gedanken gemacht. Denn Marti, der von anderen oft für einen Schnösel gehalten wurde und der im Grunde auch alles dafür tat, dass man ihn für einen Schnösel hielt, verfügte über eine besondere Gabe. Er selbst war sich seines Talents durchaus bewusst. Er war sich nur nie sicher, ob es ihm wirklich von Nutzen war. Denn jedes Mal, wenn es aufblitzte, fiel seine Wirkung auf andere einigermaßen verstörend, zumindest aber beunruhigend aus.
Martis Selbstzweifel wurden zusätzlich durch einen Satz genährt, den er vor vielen Jahren an seinem ersten Arbeitstag zu hören bekommen und seither nicht mehr vergessen hatte. Unter Stress - so hatte sein damaliger Ressortleiter zu ihm gesagt und dabei den Zeigefinger oberlehrerhaft in die Luft gehalten zeige sich bei allen Menschen das wahre Gesicht.
Und während Marti nach ein paar Monaten Anstellung tatsächlich und mit guter Trefferquote vorhersagen konnte, wer von seinen Kollegen cholerisch, weinerlich, bösartig, witzig oder wie gelähmt auf Stress-Situationen reagierte, die der Beruf mit sich brachte, blieb er selbst außergewöhnlich cool. Ja, er managte die kleinen und großen Dramen des Arbeitslebens wie ein Uhrwerk, stets überlegt und entschlossen. Das fiel ihm leicht und brachte ihm auch Respekt und Anerkennung ein. Langfristig beförderte es jedoch seinen zweifelhaften Ruf, ein besonders kaltschnäuziger Zeitgenosse zu sein. Einer, der über Leichen ging.
Und auch wenn Marti es sich nicht anmerken ließ: dieses Vorurteil schmerzte ihn und trieb ihn um. Von seinen unruhigen Träumen, seinen Grübeleien und Ängsten ahnten die anderen nichts. Dazu kam, dass es zynischerweise ein sterbender Mann gewesen war, der sein wahres Gesicht zum ersten Mal zutage gefördert hatte. An einem schneeverwehten, düsteren Nachmittag in den Schweizer Alpen, während eines gemeinsamen Skiurlaubs mit den Eltern.
Der Mann war gestürzt und hatte sich eine Slalomstange so unglücklich durch den Brustkorb gebohrt, dass sie an seinem Rücken wieder ausgetreten war und wie eine Lanze ins Schneegestöber ragte. Marti, zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal zehn Jahre alt, war zufällig als Erster am Unfallort vorbeigekommen. Sofort hatte er, ohne zu zögern oder seinen vorausfahrenden Eltern Nachricht zu geben, seinen langsamen Schneepflug unterbrochen und sich neben den Fremden gesetzt. Dann hatte er dem Verunglückten den Handschuh ausgezogen und ihm seine warme Kinderhand in die Faust gelegt. So waren sie beide verharrt, während das ungläubige Staunen des Mannes langsam aber unaufhaltsam aus seinen Augen wich und das sickernde Blut die hartgewalzte Loipe eisrot färbte.
In der Aufregung, die die nachkommenden Skifahrer und Helfer verbreiteten, wurde der kleine Marti für den Sohn des Sterbenden gehalten und an Ort und Stelle mit einer göttlich schimmernden Goldfolie umwickelt. In diesen Momenten des Durcheinanders spürte er zum ersten Mal eine zuvor nie erfahrene, unendliche Ruhe in sich. Er war so konzentriert und still, wie die Luft im Auge eines Hurrikans. Später, als sein Vater ihn kurz vor der dramatischen Landung des zu spät angeforderten Rettungshubschraubers entdeckte, und den Irrtum im Luftwirbel gebückt und gestikulierend aufklären konnte, wurde Martis Verhalten von den Umstehenden als schlimmer, kindlicher Schock interpretiert.
Doch er war gar nicht geschockt, sondern ganz ruhig gewesen. Er hatte einfach nur das getan, was er hatte tun können und was er für gut und richtig befunden hatte.
Und das tat er auch jetzt.