Danach
Marti konnte gerade noch die Seitenscheiben hochfahren und den Motor starten, als auch schon die ersten Untoten aus dem Unterholz brachen. Sie überquerten die Straße vor ihm. Es waren sehr viele und es wurden immer mehr. Im Gegensatz zu den Exemplaren, die letzte Nacht dem Haus seiner Großeltern einen Besuch abgestattet hatten, liefen diese hier sehr schnell und in tief gebückter Haltung. Ihr Anblick erinnerte Marti an eine Schautafel in seinem alten Biologiebuch. Wie die ersten Affenmenschen bewegten sie sich mit leicht eingeknickten Knien und stark nach vorne gerichteten Oberkörpern. Die Arme hingen fast bis zum Boden oder waren nach vorne gerichtet, wie Greifer. Ihre Köpfe hatten sie in die Nacken gelegt. Es sah aus, als witterten sie ihre Beute. Jäger, schoss es Marti durch den Kopf.
Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Wie in Wachs gegossen blieb er sitzen und zählte: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Dann war es so weit: Nummer 33, ein besonders großes Exemplar mit schwarzverfilztem Haar und eng zusammengewachsenen Augenbrauen blieb wie angewurzelt stehen. Eine Sekunde lang verharrte er auf dem Mittelstreifen. Im letzten Abendlicht konnte Marti deutlich erkennen, dass er eine bayerische Polizeiuniform trug. Sie bestand aus der typischen braunen Hose, schwarzen Stiefeln, einem fleckigen beigen Hemd und einer martialischen Lederjacke. Sogar die Dienstwaffe baumelte noch am Gürtel. Das machte ihn nicht gerade sympathischer. Der Zombie zog gierig Luft durch seine großen Nasenlöcher ein und drehte dann den Kopf ganz langsam in Martis Richtung.
Idiot, dachte Marti. Das blöde Reh. Warum war er nur so gierig gewesen?
Der ehemalige Freund und Helfer richtete sich auf, und seinem vor sich hin faulenden Körper entrang sich ein hochfrequenter, langgezogener Schrei. Der Ton war so spitz und markerschütternd, dass Marti sich beide Ohren zuhalten musste. Sofort blieben auch alle anderen Irren stehen. Schlimmer noch: Sie richteten sich zum Auto aus, egal ob jung oder alt, Männlein oder Weiblein. Alle hatten nur noch Augen für Marti und seine frische, blutige Fracht. Der Polizist hörte auf zu schreien. Er fletschte die Zähne. Dann setzte er gut einhundert Kilo Kampfgewicht in Bewegung. Das war das Signal zum Angriff. Und der Weckruf für Marti.
»Festhalten!«, rief er und drückte das Gaspedal auf den Boden.
Kickstart.
Die Reifen des Geländewagens drehten stotternd durch. Dann bekamen sie endlich Grip und schleuderten den Koloss mit seinen 400 PS bergauf. Die Tachonadel zitterte bereits bei 50 km/h, als Marti mit dem Polizisten kollidierte. Es tat einen dumpfen Schlag, wie ein Katapult pflügte der Benz laut trommelnd durch die Untoten. Sie spritzten nach links und nach rechts weg oder rutschten auf die Motorhaube, wo sie sofort ihre Zähne und Klauen in den frisch getöteten Bock schlugen. Es waren so viele, dass Marti trotz Vollgas immer langsamer wurde. Gleichzeitig knallten die Angreifer mit den Köpfen hart auf die Frontscheibe. Mit zerschmetterten Schädeln und Gliedern blieben sie auf der Motorhaube liegen.
Das Glas hielt, aber der Regensensor löste den Scheibenwischer aus und verschmierte ihr schwarzes Blut zu undurchsichtigen Schlieren. Schon nach wenigen Sekunden sah Marti nicht mehr, wo er hinfuhr. In der nächsten Kurve rammte er den Wagen bergaufwärts in eine meterhohe Böschung. Beide Airbags wurden ausgelöst. Die Zombies, die sich am Kuhfänger und auf der Motorhaube oder auf dem Dach festgehalten hatten, flogen wie Puppen mit verrenkten Gliedern durch die Luft. Nur der kräftige Polizist hatte sich so fest in den Rehbock verkrallt, dass er nicht abgeschüttelt wurde.
Marti war vom Aufprall benommen, doch er schaffte es, den Rückwärtsgang einzulegen. Schon knallten die ersten Nachzügler von hinten und von der Seite auf den Wagen. Sie pressten ihre Fratzen am Beifahrerfenster platt und schlugen mit den Händen laut auf das Blech. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn und Hänschen lebendig begruben.
Aber noch war es nicht soweit. Mit Sicht über den rechten Außenspiegel stieß Marti zurück auf die Fahrbahn. Der Rückwärtsgang heulte laut auf und die Breitreifen rumpelten über die verstreut liegenden Körper, als wären es Kinderspielsachen. In blanker Panik lenkte Marti das Auto immer weiter nach unten, die Strecke zurück, die er gekommen war. Die Zombies, die noch laufen konnten, folgten ihm. Inzwischen mussten es Hunderte sein. Und immer noch mehr brachen aus dem Gehölz. Er war in eine riesige, ausgehungerte Horde geraten.
Du musst es wie die Tiere machen, dachte er mit einem Mal. Es war sinnlos, Widerstand zu leisten. Du musst fliehen, dachte er, du musst von dieser verdammten Straße runter. Bei der nächsten Gelegenheit wendete er den Wagen. Hektisch drückte er auf die Sprühanlage, doch dadurch wurde Schweinerei auf der Windschutzscheibe nur noch schlimmer. Ein Wischer war halb abgerissen.
Während die Meute von links erneut auf ihn zustürmte, zog Marti kurzentschlossen die Glock aus dem Hosenbund. Er feuerte ein paar Mal auf dieselbe Stelle in die Frontscheibe. Das Sicherheitsglas barst in kleine Stücke und Marti schlug mit dem Kolben ein kindskopfgroßes Loch hinein. Sofort knallten schon wieder die ersten Untoten gegen die Karosserie. Durch das kleine Fenster sah er, dass ihm jetzt auch jede Menge Freaks von vorn auf der Fahrbahn entgegenkamen. Sie schnitten ihm den Weg ab. Nichtsdestotrotz klemmte er die Waffe fest unter seinen Oberschenkel und raste ihnen entgegen. Aber kurz vor dem Aufprall bremste er stark ab und tauchte scharf links in einem Waldweg ab.
Mit Tempo ging es ins Grüne. Marti und das quiekende Hänschen flogen im Wageninneren wie Tennisbälle umher. Der von der Hitze hartgetrocknete Fuhrweg wurde immer schmaler und holperiger. Auf einmal ging es sehr steil bergab. Das Gebüsch rückte von beiden Seiten dichter heran. Marti kontrollierte den Wagen so gut wie es eben ging. Äste und Zweige schlugen gegen die Scheiben. Auf keinen Fall durfte er jetzt langsamer werden, aus der Spur kommen oder gegen einen Baum oder Felsen prallen. Er beugte sich vor, um besser aus dem Guckloch sehen zu können, als eine blutbesudelte Hand mit krummgebogenen nikotingelben Fingernägeln von außen hineingriff und sich am Lenkrad festkrallte.
»Scheißbulle!«, brüllte Marti.