Davor
Sie lauschten dem Atmen ihrer Körper nach. Tim strich sich Sofies Haare aus dem Gesicht. Er öffnete die Augen. Direkt vor ihnen, auf dem Teppichboden, lag etwas, das er nicht identifizieren konnte. Das Zucker-Archiv war in einem großen, fensterlosen Raum im Keller unter dem Hauptgebäude untergebracht. Eben noch, als sie sich geküsst hatten, heimlich und erregt, im Schutz der bis unter die Decke reichenden Regale, hatte Sofie ihm die Brille von der Nase gerissen. Ohne seine Gläser sah Tim nach einem Meter kaum mehr als ein Maulwurf.
»Da liegt was.«
»Was?«
»Da liegt etwas. Vor uns. Ich kann es nicht erkennen.«
Sofie drehte ihren Kopf, so dass ihre linke Wange den kratzigen Boden berührte. »Warte. Das ist … ein Grashalm.«
»Ein was?«
»Ein Halm. Eine Ähre, glaube ich.«
»Wie kommt die denn hierher?«
»Woher soll ich das wissen? Frag deine Putzkolonne.«
»Sehr witzig, Baby.«
»Geh bitte runter von mir. Du bist mir zu schwer. Außerdem kann uns jederzeit jemand entdecken …«
»Eben klang das aber noch …«
»Eben war eben. Jetzt ist vorbei.«
Tim kippte vorsichtig zur Seite. Er spürte, wie sein schnell schrumpfender Schwanz langsam aus ihr glitt.
»Pass ja mit dem Gummi auf!«
»Keine Angst. Hab ihn.«
Sofie suchte ihre Sachen zusammen. Bevor Tim seine Hose richtig anhatte, sah sie schon wieder so aus, als wäre gar nichts geschehen: einfach perfekt.
»Lass mich mal«, sagte sie und lächelte ihn an.
Sie knöpfte Tim das Hemd zu und band ihm die Krawatte, während er versuchte sie zu küssen.
»Aus! Ich muss mich konzentrieren.«
Sie drückte seinen Kopf an der Stirn nach hinten. Dadurch fiel sein Blick auf einen Ordner, der ganz oben im Regal stand. Er war offensichtlich verrutscht und drohte nach unten zu fallen.
»Schau mal, was wir angerichtet haben …« Tim zeigte nach oben.
Sofie folgte seiner Bewegung mit den Augen. »Wenn du mich auch so hart stößt, mein kleiner Stier … Fertig!«
Sie legte Tim beide Hände auf die Brust und sah ihn von unten herauf an. Dabei war sie fast genauso groß wie er. Ich wette, den Blick hat sie vor dem Spiegel geübt, dachte Tim. Aber er sagte: »Ich wette, das Weizendings ist da rausgefallen«
»Kann schon sein.« Sofie bückte sich und hob die Ähre auf. »Die nehme ich mit. Als Erinnerung an mein Praktikum bei der Zucker AG.« Sie lachte rau und zog ihren engen Rock zurecht. »Nur gut, dass er bis über die Knie reicht.«
»Du machst mich verrückt, Baby. Weißt du das?« Tim küsste sie auf den Hals.
»Bitte hör auf mit diesem Babygerede. Ich hasse so was. Die anderen wundern sich sicher schon, wo wir bleiben. Es ist fünf nach. Und um Punkt zwölf sitzt die ganze Abteilung in der Kantine. Wenn wir fehlen, zerreißen sich alle das Maul.«
»Sollen sie doch«, sagte Tim und gab ihr einen Klaps auf den Po.
»Das sagst du jetzt.«
»Okay. Geh schon mal vor. Es ist besser wenn wir nicht zusammen rauskommen. Und ich muss den Ordner da oben sichern. Sonst erschlägt er noch irgendwen.«
»Meinst du die olle Großmann? Das wäre mir nur recht. Die schaut mich immer so an, als wäre ich eine Schlampe.«
»Vielleicht bist du das ja?«
»Zuviel Testosteron freigesetzt, oder was?« Sofie piekste ihm die Ähre spielerisch ins Gesicht.
»Lass das. Wo ist meine Brille?«
»Hier ist das hässliche Ding. Sonst noch etwas? Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Doktor Zucker? Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?« Sofie klimperte übertrieben mit den Augen und machte einen Knicks.
»Grrrrr …« Tim ahmte irgendein Raubtier nach. Er küsste sie auf ihre Stupsnase und fragte sich zum hundertsten Mal, ob sie echt oder operiert war. Aber er wagte es nicht zu fragen.
»Dann bis gleich, Chef«, plapperte Sofie einfach weiter. »Wir sehen uns dann beim Essen. Und machen Sie bitte noch Ihren Hosenschlitz zu.«
Tim setzte die Brille auf und griff sich zwischen die Beine. Sein Reißverschluss war geschlossen. Sofie lachte wieder.
»Und was mach ich mit dem blöden Kondom?«
»Dein Problem.« Sie wedelte zum Abschied noch einmal mit dem Halm, steckte ihn ein und verschwand hinter den Regalen.
Tim zog sich fertig an. Er ging in die Hocke und schnürte seine Lederschuhe auf, die er vorhin nur abgestreift hatte. Er schlüpfte hinein und band sie wieder zu. Danach stand er auf und ging die Regalreihe bis zum Ende des Gangs nach rechts. Dort war eine bewegliche Steigleiter angebracht. Er schob sie zurück zu der Stelle, wo der Ordner hing.
Schnell schaute er sich um, hob das Kondom vom Boden auf, kletterte nach oben und warf den halb gefüllten Pariser einfach hinter irgendwelche Akten. Bis man ihn dort fand, konnten leicht hundert Jahre vergehen. Belustigt malte Tim sich aus, wie irgendein verstaubter Archivar das Teil in ferner Zukunft entdecken und sich fürchterlich ekeln würde. Oben angekommen, versuchte er den Ordner in die Reihe zurückzudrücken. Aber er war schon zu weit verrutscht. Kurzentschlossen zog Tim ihn einfach ganz heraus und wollte mit der anderen Hand die Lücke freimachen. Doch das Teil war so prall mit Dokumenten gefüllt, das es einfach aufklappte. Tim griff danach, dabei musste er die Leiter loslassen und kam aus dem Gleichgewicht. Vor Schreck hielt er sich mit beiden Händen an einem Regalboden fest. Der Ordner flog durch die Luft und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Teppichboden. Einzelne Blätter segelten hinterher und verteilten sich im Gang.
»Verdammt noch mal!«
Tim rutschte wie ein Schuljunge die Leiter hinunter. Als er die Dokumente einsammelte, fiel sein Blick auf einen vergilbten Briefkopf. Er war mit einem Hakenkreuz verziert.
›Betreff: Unternehmen Zuckerweizen‹, entzifferte Tim.
Zuckerweizen? Davon hatte er noch nie gehört. Er raffte alle Blätter zusammen. Dann lehnte er sich mit dem Rücken ans Regal, schlug den Ordner auf und begann zu lesen.