Danach

Marti schichtete die letzte Palette H-Milch in den Benz. Dann streckt er seine Glieder lang und sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb sechs. Er hatte über zwei Stunden Lebensmittel aus dem nach fauligem Fleisch, Fisch und Käse stinkenden Edeka-Center ins Auto geschleppt, jetzt war er vollkommen am Ende. Er kannte sich nicht besonders gut in Ernährungsfragen aus, also hatte er einfach alles mitgenommen, was ihm nahrhaft und haltbar erschien. Mehl, Zucker, Salz, Schokolade, Eier, getrocknete Früchte, Wasser, alkoholische Getränke jeder Art, Softdrinks, Vitaminbrausetabletten, Hundefutter für Hänschen, Kokosnüsse, Cornflakes, Haferflocken, Honig, Nutella, jede Menge eingeschweißter Riesenschinken und Monstersalamis. Außerdem noch Vollkornbrot, Zwieback, Kekse, ganze runde Käseleiber, fast das gesamte Haribo-Regal und literweise Speiseöle und Essigsorten. Jetzt war der Wagen so voll, dass keine Schachtel Streichhölzer mehr unters Dach passte. Marti ließ das Schweinchen in den Beifahrerfußraum hopsen und schlug die Tür hinter ihm zu. Er fummelte den verknitterten Einkaufszettel aus der Hosentasche und überflog ihn ein letztes Mal. Jetzt fehlte ihm nur noch Benzin. Aber wie sollte er ohne Strom Treibstoff zapfen?

Angesichts der langsam untergehenden Sonne und der Tatsache, dass der Tank noch halb voll war, beschloss er, des Problem auf einen anderen Tag zu verschieben. Er war einfach zu müde und auch zu zufrieden mit sich, der Welt und seiner Leistung, um noch einmal neue Energien zu mobilisieren. Und er wollte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.

»Feierabend«, sagte er laut.

Er riss das Preisschild von einem billigen Camouflage-Basecap mit der Aufschrift Airforce ab, setzte es auf und klemmte sich hinters Steuer.

Er nahm den gleichen Weg zurück bis zur Brücke. Die Stadt umfuhr er und folgte dem Fluss ein Stück nach Norden. Auf der Strecke sah er viele umherstreifende, verwahrloste Tiere, aber keine Menschen. Die Sonne war im Sinken begriffen und als Marti die Brücke überquerte, berührte sie fast schon die Baumkronen der umliegenden Wälder. Ihr Licht war um diese Uhrzeit besonders intensiv. Es fiel fast horizontal in den Wagen und ließ sein Gesicht im Rückspiegel leuchten. Man hätte meinen können, Marti käme gerade gut gebräunt aus dem Urlaub. Er hatte die Scheibe nach unten gelassen und seinen Arm lässig aus dem Fenster gehängt. Dabei pfiff er eine kleine, schräge Melodie. Er fuhr etwas langsamer, es ging schon wieder die freie Strecke in den Forst hinauf. Hier wurde es hügelig und schattig. Die Scheinwerfer schalteten sich automatisch an.

Marti nahm einen großen Schluck warme Cola aus der Flasche und steckte sich nebenbei eine Zigarette an. Was jetzt noch fehlte, war gute Musik. Dummerweise kannte er den Sicherheitscode von Heiners Autoradio nicht. Es war eine fünfstellige Zahl, nur so viel war sicher. Vor der Abfahrt hatte er bereits die Standardeinstellung mit fünf Nullen probiert. Aber Fehlanzeige. Jetzt versuchte er es noch einmal. Er nahm das Steuer mit der linken Hand und tippte spaßeshalber die Nummer 00007 ein. Zwischendrin sah er immer wieder auf die Fahrbahn. Auch das funktionierte nicht. Letzter Versuch, stand im Display. Marti überlegte. Er drückte das Gas noch ein wenig tiefer durch und ließ den schwer beladenen Geländewagen mit Lust die Kurven bergauf schlingern.

Typischerweise gaben die Leute Geburtstagsdaten, Hochzeitstage oder leicht zu merkende Zahlenreihen als Code in solche Geräte ein. Aber Heiner war seit langem Single. Er hatte seinen Geburtstag nie groß erwähnt oder gefeiert. Marti wusste nur über ihn, dass Heiner sich selbst als Buddhist bezeichnete (was Marti aus den verschiedensten Gründen objektiv anzweifelte), dass er sehr tierlieb war, und dass er anscheinend Unmengen von Geld besaß. Gab es im Buddhismus irgendwelche wichtigen Zahlen? Davon hatte Marti noch nie gehört. Und Geld war einfach nur Geld.

Plötzlich stieß er einen langen Pfiff aus. Heimat! Heiner war immer sehr heimatverbunden gewesen. Er war ja praktisch den ganzen Sommer lang in kurzen, speckigen Lederhosen herumgerannt, er besaß ein eigenes Jagdrevier und war sein Leben über nur innerhalb des Landkreises umgezogen. Fünf Ziffern. Die Postleihzahl: 93170. Sofort begann Marti sie einzutippen, was gar nicht so einfach war, weil sein Finger immer wieder von den Wähltasten rutschte, wenn er heruntergefallenen Zweigen und Ästen oder einem am Straßenrand aufgegebenen Auto auswich. Als er die 7 gerade eingetippt hatte, tat es einen lauten Schlag.

Marti schaute erschrocken nach vorn und trat gleichzeitig auf die Bremse. Der Benz geriet nur kurz ins Trudeln. Dank Elektronik und Allradantrieb blieb er gut in der Spur. Die Reifen hinterließen zwei kurze, stotternde Farbbalken auf dem rissigen Teer. Diverse Packungen und Gegenstände lösten sich und flogen nach vorn gegen die Windschutzscheibe. Hänschen protestierte, weil ihm die Flinte ins Kreuz rutschte. Der Wagen stoppte.

Marti blieb mit beiden Händen am Lenkrad sitzen, der Motor lief ruhig weiter. Instinktiv blickte er nach hinten. Aber er sah nur auf eine Wand aus Lebensmitteln. Marti linste wieder nach vorn, in den noch intakten Außenspiegel. Aber er konnte nur einen dunklen Haufen erkennen. Etwas lag da auf der Fahrbahn hinter ihm, etwa dreißig Meter entfernt. Es schien sich zu bewegen. Martis erster Impuls war, einfach weiterzubrettern. Aber was, wenn er gerade den einzigen gesunden Menschen weit und breit angefahren hatte? Dann war es seine Schuld, wenn der hier im Wald hilflos verreckte.

Der Zigarettenstummel, der immer noch zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger steckte, verbrannte ihm die Haut.

»So ein Mist«, sagte er und warf die Kippe aus dem Fenster. Dann machte er den Motor aus und griff nach der Flinte.

Zombifiziert, Band 5: Letzte Sekunden
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