Davor
Über Felix' Kopf fiel die Falltür ins Schloss. Er stürzte die Leiter mehr hinab, als dass er nach unten kletterte. Etwa drei Meter tiefer landete er hart auf seinem eh schon verknacksten Fuß. Er schrie auf, fiel hin und hielt sich erstmal eine Weile den Knöchel. Über seinem Kopf hing eine alte Lampe, deren trübes Licht den Raum spärlich beleuchtete. In ihrem Schein erkannte er, dass er sich in einem Untergeschoss befand, das ungefähr die gleichen Ausmaße wie die brennende Hütte über ihm besaß. Nach oben hin gab es keine Trenndecke, sondern nur Stahlbalken und Dielenbretter. Der Rauch quoll wie Watte durch die Ritzen und wurde durch den Kamineffekt gleich wieder nach oben gesogen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Felix hier unten ersticken oder von einem herunterstürzenden Brett erschlagen werden würde. Was für eine Wahl.
Er rappelte sich hoch. Um ihn herum lagerten eine Menge schwarzgestrichener Transportkisten. Sie waren fingerdick verstaubt und sahen irgendwie militärisch aus. Auf den Seitenteilen konnte Felix die mit einem Brenneisen eingedrückten Doppel-Z Runen und eine wie mit einer Schablone weiß gepinselte Buchstabenreihe entziffern.
HVA Rgst. ZW2.
Das sagte ihm gar nichts.
Die Deckel der Behälter waren mit Metallverschlüssen verschraubt. Die Spalten hatte man gründlich und wasserdicht mit zäher Teerfarbe ausgestrichen. Felix humpelte durch den Raum und überprüfte ein paar der Kisten. Schließlich fand er eine, die offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit mit Gewalt geöffnet worden war. Er klappte sie auf: Sie war bis zum Rand mit Getreide gefüllt. Felix nahm eine Handvoll und betrachtete die Körner. Es waren ganz normale, trockene Samen, entweder Weizen oder Gerste, so genau kannte er sich damit nicht aus. Er wühlte mit der Hand immer tiefer. Aber da war nichts anderes in der Kiste, und es roch auch nicht. Na toll, dachte er. Und für diesen Scheiß gehst du jetzt drauf. Er ließ einige der Samen in die Außentasche seines Jacketts rieseln. Die Luft wurde immer schlechter, er musste husten. Über ihm prasselte und knackte es laut, erste Funken und kleine Feuernester fielen von der Decke und verbreiteten einen stechenden Geruch.
Seine Augen begannen zu tränen, er konnte immer schlechter sehen. Er hielt sich einen Hemdzipfel vor den Mund und tastete mit der anderen Hand die Wände ab, in der Hoffnung auf ein Wunder. Da spürte er das Stromkabel der Kellerlampe, das auf Kopfhöhe an der Wand verlief. Es verschwand waagrecht hinter drei schlampig gestapelten Kisten. Felix packte die oberste an den einklappbaren Metallgriffen und wuchtete sie zur Seite. Dahinter lag ein niedriger, gemauerten Gang. Weiter entfernt, am Ende des Gangs, leuchtete wieder ein funzeliges Licht.
Felix stieg über die Kisten und zwängte sich in die Öffnung. Dann ging er in gebückter Haltung und so schnell er mit seinem kaputten Fuß konnte den Tunnel entlang. Der Gang beschrieb eine leichte Rechtskurve nach unten. Auf dem betonierten Boden waren zwei schmale Schienenstränge eingelassen, genau wie in einem alten Goldgräberbergwerk, das Felix vor Jahren in Nord-Kalifornien besichtigt hatte.
Bei diesem Besuch hatte er auch erfahren müssen, dass er unter einer leichten Form von Tiefenkoller litt. Je länger und je weiter er unter die Erde ging, umso schlimmer wurden die Symptome: irrationale Angst, Herzrasen, Atemnot und Schwindel bis zur Ohnmacht. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Mit etwas Glück gelangte er weit genug in die Erde hinein und bekam dort ausreichend Sauerstoff zum Atmen. Die Sogwirkung des Feuers hinter ihm wurde immer stärker. Ein leichter, modriger Windzug kam ihm entgegen und kühlte sein erhitztes Gesicht. Ziemlich genau alle zwanzig Meter war eine Lampe an der Decke angebracht, ein paar der darin verschraubten Birnen waren defekt oder zitterten ihrem Ende entgegen.
Felix wollte nicht sterben. Es war ein so einfacher, klarer Gedanke. Aber er hatte ihn zum ersten Mal in seinem Leben.
»Ich will nicht sterben«, sagte er laut, als hätte er eine geheime Zauberformel entdeckt, die ihn wieder ins Freie hexen konnte. Aber das war natürlich Blödsinn.
Unerwartet, nach einer letzten, scharfen Biegung, war der Tunnel zu Ende. Felix stand in einem rechteckigen Raum, der von zwei verschmutzen Wandleuchten erhellt wurde. Auf dem Boden beschrieben die Schienen eine mit einer Weiche geschlossenen Schleife. Direkt gegenüber befand sich eine angerostete Metalltür. Sie war in massiven Guss- und Stahlbeton eingelassen und hatte keine Klinke, sondern nur einen Griff und ein kleines, bulliges Guckfenster, dessen Panzerglas im Lauf der Jahre angelaufen war.
HVA Rgst. Quarantäne Abt. 3 stand in alter deutscher Schrift auf der grau gestrichenen Außenseite.
Darunter in Großbuchstaben: ZUTRITT VERBOTEN. ANSTECKUNGSGEFAHR.
Felix rüttelte daran. Aber das Ungetüm war fest und luftdicht verschlossen. Die Angst vor dem langsamen Erstickungstod kroch in ihm hoch wie eine Würgeschlange. So fest und so laut wie er nur konnte, trommelte er mit beiden Fäusten gegen den feuchten Stahl. Es fiel ihm nichts Besseres mehr ein.
Irgendwer musste ihn doch hören.