Danach
Aus heiterem Himmel und ohne jede Vorwarnung zitterte Martis Hand so stark, dass er den klobigen Plastikzündschlüssel nicht in die dafür vorgesehene Öffnung bekam. Er umschloss sein rechtes Handgelenk mit der Linken und spannte die Oberarmmuskeln so fest an, wie er nur konnte. Aber das half nicht. Stattdessen zog sich seine Lunge zusammen und sein Herz begann heftig zu schlagen. Die Kontraktionen pumpten ihm das Blut bis zum Hals hinauf. Zu seinem Entsetzen spürte Marti, wie seine Atmung immer schneller und unregelmäßiger wurde. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als würde er überhaupt keine Luft mehr bekommen. Er schluckte und versuchte, sich nicht auf sein Schlucken zu konzentrieren. Wie ein wütendes Kleinkind drückte er den blöden Schlüssel schließlich mit aller Gewalt in den Schlitz. Die Tacholämpchen und die Lüftung sprangen sofort an. Sein Brustkorb hob und senkte sich, als habe er einen Hundertmeterlauf absolviert. Eine plötzliche irrationale Angst packte ihn und sein Magen zuckte wie eine Auster, auf die man Zitronensaft träufelte. Ein unscharfes Bild schoss ihm durch den Kopf: sein eigener schlaffer Körper, hinter dem Steuer, zusammengefaltet. Nasenblut auf seinem Hemd. Sekundentod. Ohne jede Vorwarnung, endgültig.
So war das also.
Mit letzter Geistesgegenwart löste er den Sicherheitsgurt und tastete nach seiner Waffe, dann verlor er das Bewusstsein.
Als Marti wieder zu sich kam, lag er schräg über der Mittelkonsole. Die Handbremse bohrte sich schmerzhaft in seine Rippen und es war unerträglich heiß im Wagen. Hänschen kauerte zusammengerollt im Fußraum und atmete hoch und flach, die kleine Zunge lugte spitz aus seinem feuchten Rüssel. Marti fuhr in die Senkrechte. Benommen sah er sich um. Draußen auf dem Parkplatz war alles beim Alten. Er blickte auf die Uhr in der Mittelkonsole. Er war nur wenige Minuten weg gewesen. Trotzdem fühlte sich sein Körper so zerschlagen und müde an, als hätte er tagelang ohnmächtig im Auto gelegen.
»Was zum Teufel?«, stöhnte er und wischte sich mit dem Handrücken das bereits geronnene Blut von den Lippen.
Er hielt die Finger ausgestreckt über das Lenkrad. Sie zitterten nicht mehr. Alles war wieder normal. Er packte das brennend heiße Steuer fest mit beiden Händen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Ihm schwirrte der Kopf bei dem Gedanken, dass irgendetwas mit ihm nicht mehr stimmen könnte. War er krank? Hatte er sich angesteckt? Instinktiv tastete er nach der Bissverletzung, die ihm Heiner zugefügt hatte. Sie war ordentlich verschorft und trocken. Aber seine Zunge fühlte sich wund und pelzig an. Er hatte schrecklichen Durst und sein Schädel schien fast zu platzen. Vielleicht war er einfach nur dehydriert und erschöpft. Vielleicht musste er nur ein wenig Logik in seine Überlegungen bekommen, dann würde es wieder gehen. Denn eines war ihm klar: Die Entwicklungen, die die Dinge im Laufe dieses Tages genommen hatten, waren faktisch immer noch im grünen Bereich. Er musste jetzt nur weitermachen und die Nerven behalten, dann würde alles gut werden. Entschlossen drückte er den Startknopf.
Langsam, wie ein alter Streifenbulle auf Patrouille, rollte er um die Tankstelle herum, Richtung Edeka-Markt. Dort angekommen, stoppte er sanft vor dem Eingang und zog die Handbremse hoch. Er band das Schweinchen am Beifahrersitz fest. Dann drehte er die Klimaanlage voll auf und ließ den Motor weiter laufen, damit der Kleine keinen Hitzschlag bekam. Bevor er ausstieg, zog er noch Heiners alte Schrotflinte aus der Sporttasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Die Glock war gut und schön, aber für diese Aufgabe nicht die beste Wahl. Er musste sich bei den Freaks Zeit und Respekt verschaffen und das ging nur mit Feuerkraft. Was er brauchte, war ein Zombie-Stopper. Wenn einzelne, gezielte Schüsse in den Kopf nichts brachten, dann musste er den Irren eben die ganze Birne wegballern. Er klappte den Lauf der Flinte nach vorn und steckte zwei rote Patronen hinein. Mit einem Klacken ließ er das Doppelrohr wieder einrasten und spannte den Hahn. Dann stopfte er sich eine Handvoll Patronen in die Hosentaschen und stieg aus.
Dieses Mal wollte er das Gebäude nicht unvorbereitet durch den Vordereingang, sondern erst nach einer genauen Prüfung der Lage durch eine Hintertür betreten. Mit der Flinte im Anschlag ging er um die Halle herum. Vor dem Gebäude parkten keine Autos. Aber auf der Rückseite schmorte ein großer 7er BMW in der Sonne. Marti prüfte die Fahrertür, der Wagen war abgesperrt, das Lämpchen der Alarmanlage blinkte ruhig und regelmäßig. Der schwarze Lack war mit einer feinen Schicht aus Staub und Blütenpollen überzogen. Sie konnte nicht älter als ein paar Tage sein.
Da er im Baumarkt ausschließlich von Kranken in Arbeitsmontur angefallen worden war und auf dem gesamten Parkplatzgelände fast keine Autos standen, musste die Seuche am frühen Morgen oder nach Feierabend ausgebrochen sein. Höchstwahrscheinlich gehörte die teure Limousine dem Edeka-Marktleiter, der als einer der Letzten geblieben oder als Erster gekommen war. So etwas war ja nicht unüblich.
Marti stieg die kleine Treppe zu den Laderampen hinauf. Oben angekommen, drehte er sich noch einmal um. Hinter dem rechteckigen Klotz lag verwildertes Bauland mit vertrocknetem Unkraut und niedrigen Brombeerbüschen. Von dort drang trockenes Zirpen und das laute Summen umherschwirrender Bienen und Wespen an sein Ohr. Aus Richtung Regenstauf wehte ein leichter Brandgeruch herüber. Für einen kurzen Moment hatte Marti das irritierende Gefühl, dass das alles schon immer so gewesen war. Seine Einsamkeit, der Überlebenskampf. Die Herrschaft der Insekten, denen jetzt die Zukunft gehörte. Der Mensch war ein Auslaufmodell. Aber das durfte, das konnte nicht sein. Es musste Überlebende wie ihn geben. Garantiert waren jede Menge ausgetüftelter Katastrophenpläne in Kraft getreten. Und Militärs und Wissenschaftler saßen jetzt, genau in diesem Augenblick, in ihren Laboren und analysierten fieberhaft diese tückische Krankheit und ihre Ursachen. Vielleicht gab es sogar schon einen Impfstoff, oder besser noch: ein Gegenmittel. Er wusste nur noch nichts davon. Alleine in seiner Situation konnte er jetzt nur die Ruhe bewahren und sich einen sicheren Ort zum Überleben schaffen. Dann musste er nur noch warten, bis ihn ein Rettungsteam entdeckte und aus der Unglückszone holte. Dieser Gedanke gefiel ihm. Vielleicht gelang es ihm in der Zwischenzeit sogar, Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Vielleicht konnte er, weil er ja irgendwie immun gegen die Seuche zu sein schien, mithelfen, andere Gesunde zu finden und in Sicherheit zu bringen. Sobald er sich gut ausgerüstet und einen ordentlichen Vorrat zugelegt hatte, konnte er tagsüber mit dem Wagen die umliegenden Dörfer abfahren, auf sich aufmerksam machen und Nachrichten hinterlassen.
Vielleicht war er aber auch viel zu wertvoll. Vielleicht würde man ihn sofort ausfliegen und seinen Körper umfangreichen Untersuchungen unterziehen. Er, Martinek, ein Glücksfall für die weltweite Forschung – der geheime Schlüssel zu einem rettenden Serum. Die Idee amüsierte ihn.
Die Gitter vor den drei LKW-Ladeboxen waren heruntergelassen und verriegelt. Marti schlich weiter zu einer kleinen Alutür, die er für den Eingang zum Verwaltungsbüro hielt. Behutsam drückte er die schwergängige Plastikklinke nach unten. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie einen kleinen Spalt und wartete. Mit dem Gewehrlauf stieß er die Tür ein Stück weiter auf und trat einen Schritt zurück. Er sah in einen schmucklosen Gang mit weißgestrichenen Wänden, der durch ein Oberlicht gut ausgeleuchtet wurde. Links gingen Zimmer ab. Am Ende war eine zerbeulte Schwingtür und rechts, Richtung Lager, hingen schmutzige Plastikstreifen von der Decke.
Eines war klar: Einfach Hineinlaufen wäre so ziemlich das Dümmste, was er jetzt machen konnte.