25
Als Madison die Bank verließ und Pierce sah, der lässig gegen die Seite seines illegal geparkten Wagens lehnte, blieb sie abrupt stehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah aus, als würde er sie am liebsten erwürgen.
»Erklär’s mir«, sagte er nur. Seine Stimme klang rau.
Sie umklammerte ihre Handtasche und blieb vor ihm stehen. »Ich musste unbedingt da raus, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und dann ist mir eingefallen, dass ich bei dem ganzen Durcheinander vergessen habe, meine monatliche Hypothekenrate zu bezahlen.«
Er sah in den Himmel, als würde er um göttlichen Beistand beten. »Na klar, du bist zur Bank gefahren, um deine Hypothekenrate zu bezahlen. Erwartest du ernsthaft von mir, dass ich dir das glaube?«
»Natürlich. Das ist die Wahrheit.«
Er streckte die Hand aus. »Gib mir deine Tasche.«
»Wie bitte?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du nur hergekommen bist, um die Hypothekenrate zu zahlen, hast du nichts zu verbergen.«
»Wenn du sie unbedingt haben willst, bitte.« Sie knallte ihm die Tasche hin. »Aber sie passt farblich nicht besonders gut zu deinem Outfit.«
Er verdrehte die Augen und ließ die Tasche auf seine Motorhaube fallen. Er musterte Madison überrascht, als er in der Tasche tatsächlich die Quittung für die Hypothekenzahlung fand. Doch als sie die Hand ausstreckte, um die Tasche wieder entgegenzunehmen, ignorierte er sie und beendete seine Suche in aller Ruhe.
Als er fertig war, schob er alle Utensilien zurück in ihre Handtasche und hielt sie ihr hin. »Mein Fehler. Ich dachte, Damon hätte Geld von dir gefordert und du hättest einen Scheck für ihn besorgt. »Wollte er denn Geld von dir?«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ja. Er will eine Million Dollar, aber ich werde sie ihm nicht geben. Ich gebe dem Mann, der meinen Vater getötet hat, kein Geld. Nicht einen Cent bekommt er von mir.«
Sein verärgerter Gesichtsausdruck wich einer Miene, aus der Zustimmung und Erleichterung sprachen. Er nickte kurz. »Das ist gut zu wissen. Mit Leuten wie ihm kann man nicht verhandeln. Egal, welche Vereinbarung ihr trefft, er würde sich nicht daran halten. Er ist gefährlich. Das Einzige, was bei ihm hilft, ist, ihn zu überführen und einzusperren. Da ich gerade davon spreche – Logan hat angerufen. Er ist in Montana und hat Neuigkeiten zu Damons Vergangenheit.«
Als Madison im Auto saß, blieb Pierce vornübergebeugt in der Autotür stehen. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und streichelte ihr dann sanft über die Wange. »Der Gedanke, dass du allein losgezogen bist, um Damon zu jagen, hat mich zu Tode erschreckt. Was hat er bei diesem Gespräch noch zu dir gesagt? Womit hat er dir solche Angst gemacht?«
Bei der Erinnerung an Damons Drohungen und an die ruhige Gewissheit in seiner Stimme klammerte Madison sich ängstlich an den Autositz. »Er sagte … er würde … meine Familie … und dich … verletzen, wenn ich ihn nicht bezahle.«
Sein Blick wurde weich. »Das würde ich niemals zulassen. Deine Familie ist in Sicherheit. Ein privater Sicherheitsdienst passt auf sie auf.«
»Auch auf Logan? Und was ist mit dir? Wer beschützt dich?«
»Logan und ich können selbst auf uns aufpassen.«
Tränen traten ihr in die Augen. Sie wischte sie weg und schüttelte den Kopf. »Kein Mensch kann vierundzwanzig Stunden am Tag seine Augen überall haben. Was ist, wenn er ein … Gewehr oder etwas in der Art benutzt?«
Sacht nahm er ihr Gesicht in beide Hände. »Mach dir keine Sorgen. Das alles ist bald überstanden. Ich habe das Gefühl, Logan hat gute Nachrichten für uns. Wenn er etwas gefunden hat, das uns hilft, Damon hinter Schloss und Riegel zu bringen, sind wir alle in Sicherheit.«
Sie nickte, da er auf ihre Zustimmung zu warten schien. Dennoch fürchtete sie, dass er sich irrte. Pierce kannte Damon nicht so gut wie sie. Und er hatte nicht den bösartigen Ausdruck in Damons Augen gesehen, als er ihr damit gedroht hatte, jeden zu töten, den sie liebte.
Nachdem Pierce ihr einen zarten Kuss auf die Lippen gedrückt hatte, schloss er die Autotür und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Madison hoffte verzweifelt, dass er recht hatte und dass Logan tatsächlich etwas entdeckt hatte, womit sie Damon hinter Gitter bringen konnten. Denn wenn er das nicht hatte, dann würde sie ihren Plan B umsetzen müssen – und der bestand aus dem Barscheck über eine Million Dollar, den sie in ihrem BH versteckt hatte.
»Wir sind alle hier, Logan – Madison, Lieutenant Hamilton und ich«, sagte Pierce. »Casey und Tessa mussten zurück ins Büro. Ich bringe sie später auf den neuesten Stand.« Er drehte den Computermonitor herum, damit der Konferenztisch in Gänze im Bildausschnitt zu sehen war. Dann richtete er die eingebaute Webcam so aus, dass alle Anwesenden zu sehen waren. »Kannst du uns drei gut hören und sehen?«
»Ja.« Logan sah zu Madison. »Bist du in Ordnung, Quälgeist?«
Sie drückte Pierce’ Hand unter dem Tisch. »Pierce passt gut auf mich auf.«
»Das ist gut. Ich möchte ihm nicht wieder Manieren beibringen müssen, wenn ich zurückkomme.« Das schelmische Grinsen in seinem Gesicht wich einem ernsten Gesichtsausdruck. »Du hättest mir das mit Dad erzählen müssen.«
Sie nickte und zwinkerte heftig, als müsste sie die Tränen zurückhalten. »Ich weiß. Es tut mir so leid.«
»Was haben Sie für uns?«, fragte Hamilton ungeduldig.
»Mehr, als ich mir erhofft hatte. Allerdings waren ein paar Tricksereien nötig, um an die Informationen zu kommen. Bigfork ist eine kleine Gemeinde, die zusammenhält, und keiner will etwas Schlechtes über den früheren Wohltäter sagen. Ich habe ihnen erzählt, dass Damon bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist und dass ich herausfinden will, ob es Familienmitglieder oder Freunde gibt, die über Damon McKinleys Tod informiert werden müssen. Da wurden sie plötzlich sehr freundlich.«
»Na klar«, sagte Pierce. »Sie hoffen auf einen kleinen Anteil vom Erbe.«
»Ich habe dir und Lieutenant Hamilton alles als Mailanhang geschickt. Die Ausdrucke kommen morgen, das meiste sind Bilder.«
Logan blätterte in dem Papierstapel, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Damon wurde in Bigfork geboren und hatte nur wenige Freunde, doch er war gegenüber seiner Heimatgemeinde sehr großzügig. Man hat eine Highschool und sogar diese Bibliothek hier nach ihm benannt …«, er machte eine Geste, die das Gebäude mit einschloss, in dem er sich befand, »da er der Gemeinde eine großzügige Schenkung hat zukommen lassen. Aber er war sehr oft krank. In den letzten Jahren, die er hier verbracht hat, hat sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert. In diesen zwei Jahren wurde er rund um die Uhr betreut. Und dann hat er ganz plötzlich seine Sachen gepackt und ist weggezogen. Er hat das Haus verkauft und alles zu Geld gemacht, was er in Bigfork besaß. Zu der Zeit zog er auch nach New York.«
Madison runzelte die Stirn. »Damon hatte nie Probleme mit seiner Gesundheit. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals krank gesehen zu haben.«
Logan verzog den Mund. »Das ist mir auch aufgefallen. Der Mann, der mir dort beschrieben wurde, klang gar nicht nach dem Damon, den ich kennengelernt hatte.«
Er hielt ein Foto vor die Kamera. »Sag mir, Quälgeist – erkennst du diesen Mann wieder?«
Madison studierte das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes, der in einem Garten auf einer Bank saß. Er hatte grau meliertes, dunkles Haar, und seine Augen waren etwas eingesunken, als wäre er krank. Sie schüttelte den Kopf. »Den habe ich noch nie gesehen. Sollte ich ihn kennen?«
»Das sollte man meinen. Du hast ihn geheiratet.«
»Wie bitte?«
»Das hier ist Damon McKinley. Der echte Damon McKinley«, sagte er, nahm ein anderes Foto in die Hand und hielt es hoch. »Und das hier ist der Krankenpfleger, der sich um Mr McKinley gekümmert hat.«
Madison gab einen erstickten Laut von sich und fasste sich an die Kehle. »Das ist Damon«, flüsterte sie.
Logan ließ das Bild sinken. »Nein, das hier ist Simon Rice, der Mann, von dem ich glaube, dass er Damon McKinleys Identität gestohlen hat, bevor er dich heiratete.«
»Simon?«, wiederholten Pierce und Hamilton gleichzeitig.
»Ich dachte mir schon, dass der Name eure Aufmerksamkeit erregt«, sagte Logan. »Womöglich handelt sich bei Damon ja um den ›Simon sagt‹-Mörder.«
Madison hielt die Hand vor den Mund, als würde es sie Mühe kosten, sich nicht zu übergeben.
Pierce legte ihr den Arm um die Schultern. »Wir haben immer angenommen, dass der ›Simon sagt‹-Mörder auch wirklich Simon heißt, deshalb wurde Damon nie ernsthaft verdächtigt …«
»Aber wieso hinterlässt er all diese Nachrichten?«, fragte Madison, deren Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. »Und warum bringt er all diese Menschen um?«
»Um uns abzulenken«, meinte Hamilton. »Um meine Männer auf Trab zu halten, damit sie sich nicht um den Stalker kümmern.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Pierce. »Ich habe an genügend Serienmörderfällen mitgearbeitet, um zu wissen, was solche Menschen antreibt. Wenn Damon tatsächlich der ›Simon sagt‹-Mörder ist, dann steht er unter dem Zwang zu töten. Er ist ein Psychopath. Er tötet wegen des Nervenkitzels. Selbst wenn es zum Teil sein Plan gewesen sein mag, die Polizei abzulenken, tötet er trotzdem deswegen, weil er ein Killer ist. Er kann damit nicht einfach aufhören. Ich gehe jede Wette ein: Wenn wir in New York nach Mordfällen mit einem ähnlichen Muster Ausschau halten, werden wir feststellen, dass er auch in seiner New Yorker Zeit gemordet hat.«
»Während er mit mir verheiratet war«, sagte Madison, deren Stimme brach. Sie war so blass geworden, und Pierce legte den Arm um sie, weil er fürchtete, sie würde ohnmächtig werden. Doch sie atmete tief ein und schien sich wieder zu fangen. »Red weiter«, sagte sie zu Logan. »Erzähl uns den Rest. Was hast du noch herausgefunden?«
»Der echte Damon McKinley wird vermisst«, fuhr Logan fort. »Da es aber keine Leiche gibt, haben wir unglücklicherweise nichts gegen Damon in der Hand, nicht mal Identitätsdiebstahl.«
Hamilton runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Es ist doch eindeutig, dass er die Identität von McKinley angenommen hat.«
Logan hielt ein weiteres Dokument in die Höhe. »Als er nach New York gezogen ist, hat er ganz legal seinen Namen in Damon McKinley ändern lassen. Er hat die Verfahrensweise penibel eingehalten. Seinen Namen ändern zu lassen ist kein Verbrechen.«
Madison umklammerte unter dem Tisch Pierce’ Hand. »Aber was ist mit dem Geld? Zu dem Zeitpunkt, als er angeblich bei dem Autounfall ums Leben kam, hatte er zwar nur noch eine Million übrig. Aber als wir geheiratet haben, hatte er mehrere Millionen auf dem Konto. Er muss das Geld dem echten Damon McKinley gestohlen haben.«
»Da hast du sicher recht«, sagte Logan. »Allerdings haben wir keinen Beweis und auch keine Leiche, um zu beweisen, dass er den echten McKinley umgebracht hat. Der echte McKinley hat offensichtlich sein ganzes Geld auf das Konto von Simon Rice transferiert, ehe er Bigfork verlassen hat. Natürlich gehe ich davon aus, dass er von Rice entweder dazu gezwungen oder betrogen wurde. Dennoch, auch dafür fehlen uns die Beweise. Ich bin der Meinung, dass das FBI in dieser Sache weiter ermitteln sollte, aber im Moment haben wir nichts.«
Pierce beugte sich vor. »Du hast gesagt, Rice war von Beruf Krankenpfleger?«
»Genau.«
»Dann ist die Vermutung nicht weit hergeholt, dass er sich mit Substanzen auskennt, die eine temporäre Lähmung verursachen und mit denen er eine Behinderung vortäuschen könnte, oder? Ich kann mir das gut vorstellen.«
Madison packte seinen Arm. »Auf jeden Fall. Austin hat mir erzählt, dass die Ärzte ihm zurzeit ein Medikament verabreichen, das eine vorübergehende Lähmung auslöst. Falls Damon …«, sie schluckte und räusperte sich, »oder Simon tatsächlich Krankenpfleger ist, dann hätte er gewusst, was zu tun ist.«
Logan runzelte die Stirn. »Worüber redet ihr da?«
»Damon war heute hier auf dem Revier«, sagte Pierce. »Er saß in einem Rollstuhl und gab vor, gelähmt zu sein.«
»Das ist clever«, meinte Logan. »Ich muss zugeben, das hatte ich noch nie.«
Pierce nickte. »Ich auch nicht. Als früherer Krankenpfleger weiß er sicher genau, welche Medikamente er braucht und welche Zeiten er einhalten muss, um einen Herzinfarkt vorzutäuschen. Himmel, wahrscheinlich hat er alle Medikamente aus der Zeit mit Mr McKinley aufbewahrt und besitzt eine richtige kleine Apotheke, auf die er jederzeit zurückgreifen kann.«
Hamilton schüttelte den Kopf. »Oder er hat sie von der Frau, die er getötet und in Mrs McKinleys Garten vergraben hat. Sie war Apothekerin.«
Logan wirkte grimmig. »Da haben Sie bestimmt recht. Er hatte die Gelegenheit und das Wissen, um meinen Vater zu töten. Das Motiv ist mir allerdings ein Rätsel. Ich wüsste nicht, aus welchem Grund er ihn hätte töten sollen. Wenn es ihm wirklich um Madisons Erbe ging – warum hat er dann seinen Tod vorgetäuscht und ist verschwunden, wenn er doch hätte bleiben und in den Genuss der Millionen kommen können?«
Madison schluckte schwer. »Damon hat zu mir gesagt, dass er abgehauen ist, weil ich misstrauisch geworden war, was Vaters Tod anging. Er wusste, dass ich dir von meinem Verdacht erzählen würde, wenn er nicht abtauchte. Wahrscheinlich hat er mich nur deswegen nicht umgebracht, weil er mich geliebt hat.«
»Wann hat er dir das gesagt?«
»Heute auf dem Revier.«
Es klopfte an der Tür.
»Ich hoffe, es ist wichtig«, sagte Hamilton, als ein Polizist die Tür öffnete und das Zimmer betrat.
»Ja, Sir.« Er sah zu den anderen im Zimmer Anwesenden und zögerte.
»Sie können offen sprechen. Was ist los?«
»Es hat einen Mord gegeben, Sir, außerhalb der Stadt, in der Nähe der Interstate 95. Der Tote heißt Joshua MacGuffin.«
Madison keuchte entsetzt auf und starrte den Polizisten schockiert an.
»Gibt es schon Einzelheiten?«, fragte Hamilton.
»Der Gerichtsmediziner ist bereits vor Ort, er vermutet, dass die Todesursache Strangulierung ist. Mr MacGuffin ist wahrscheinlich schon seit mehreren Tagen tot. Ach ja, im Keller des Gebäudes haben wir ein Zimmer gefunden, in der nur eine Matratze auf dem Boden liegt. Die Zimmerdecke ist mit Fotos übersät. Einer der Polizisten am Tatort sagte, er habe Ihnen ein paar Schnappschüsse geschickt, die er mit dem Handy gemacht hat.«
Hamilton griff hastig nach seinem Handy und öffnete seine E-Mails. Er drehte das Display des Telefons so, dass Madison ihn sehen konnte. »Sind das die Fotos, die Sie in dem Zimmer gesehen haben?«
Sie nickte. Der Gedanke, dass der arme Mr MacGuffin hatte sterben müssen, weil er ihr hatte helfen wollen, brach ihr das Herz. »Ja«, flüsterte sie, »das sind die Fotos, die ich gesehen habe.«
Hamilton schob das Handy wieder in sein Jackett. »Vielen Dank, Officer. Ich werde gleich hinfahren.«
Der Beamte nickte und schloss die Tür.
»Mehrere Tage«, wiederholte Pierce. »Ich wette, dass MacGuffin in der Nacht getötet wurde, in der er Madison angerufen hat, weil er dachte, er hätte ihren Mann gesehen. Als er Damon in seinem Restaurant bemerkt hat, muss er irgendwie auffällig reagiert haben, und Damon wusste, dass man ihn erkannt hatte.«
Madison blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. »Mr MacGuffin war so freundlich zu mir, er machte sich Sorgen um mein Wohlergehen.«
»Hamilton«, sagte Logan vom Bildschirm her, »Wie ich höre, haben Sie Madisons Computer beschlagnahmt. Wir müssen ihn uns anschauen und überprüfen, ob uns die Dateien von Damon dabei helfen, ihn zu überführen.«
»Selbstverständlich.«
»Außerdem«, fuhr Logan fort, »muss Damon ärztlich untersucht werden, um zu beweisen, dass er die Lähmung vortäuscht. Damit wäre sein Hauptalibi hinfällig, und wir könnten von da aus weiter ermitteln.«
Nun war es Hamilton, der leicht rot wurde und verlegen hin- und herrutschte. »Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Warum nicht?«, fragten Pierce und Logan gleichzeitig.
»Ich habe McKinley von meinen Männern beschatten lassen, als er mit seinem Transporter wegfuhr. Aber er muss bemerkt haben, dass er verfolgt wurde, und hat meine Männer abgeschüttelt. Ich weiß nicht, wo sich Damon McKinley zurzeit aufhält.«
Madison rieb sich mit den Händen über die Arme und ging ruhelos in Pierce’ Schlafzimmer auf und ab. Sie waren zur Pension zurückgefahren, denn Pierce wollte wegen der laufenden Ermittlungen und der Suche nach Damon lieber in der Nähe des Police Departments bleiben.
Er lag auf dem Bett und beobachtete sie ruhig. Der Scheck in ihrem BH schien eine Tonne zu wiegen und erinnerte sie an die Lüge, die sie ihm aufgetischt hatte.
Was ihr ins Gedächtnis rief, dass sie eine Entscheidung treffen musste.
»Hamilton hat alle Anschuldigungen gegen dich fallen lassen«, sagte er. »Eigentlich müsstest du erleichtert sein.«
»Ich weiß. Das bin ich auch. Aber …«
»Aber du machst dir immer noch Sorgen wegen Damon. Ich werde nicht zulassen, dass er dir wehtut.«
Sie blieb am Fußende des Bettes stehen und stemmte die Arme in die Hüften. »Du bist vielleicht hochgewachsen, dunkelhaarig und gut aussehend, aber du bist nicht Superman. Du blutest, wenn man dich verletzt. Du bist sterblich.«
Er glitt vom Bett, trat zu ihr und legte ihr die Arme um die Schultern. »Ich bin vielleicht kein Superheld, aber Damon ist auch kein Superschurke. Er ist auch nur ein Mensch. Ich werde die nötigen Beweise finden, um ihn für lange Zeit einzusperren. Ich bin gut in meinem Job. Ich werde ihn hinter Gitter bringen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Er ist hinterhältig und raffiniert und er … er ist völlig skrupellos. Du hast gehört, was der Lieutenant nach Logans Anruf gesagt hat: Er hat immer noch nicht genügend Beweise, um ihn vor ein Geschworenengericht zu bringen. Er kann nichts tun.«
»Er kann jetzt noch nichts tun. Aber Casey arbeitet an dem Fall und versucht, Beweise zu finden. Und Hamilton ermittelt ebenfalls weiter. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Sie schüttelte seine Hände ab und begann wieder damit, auf und ab zu gehen. Sie schlang die Arme um ihre Körpermitte und sah ihn an. »Kannst du mir versprechen – kannst du mir schwören, dass du ganz sicher genug Beweismaterial zusammenbekommst, um ihn einzusperren? Kannst du mir versichern, dass er für den Mord an meinem Vater bezahlen wird? Und dass er weder meiner Familie noch dir etwas antun wird?« Beim letzten Satz kippte ihre Stimme.
»Du weißt, dass ich dir das nicht versprechen kann. Aber wenn du mich fragst, ob ich es für möglich halte, genügend Beweismaterial zu sammeln, um Damon wegzusperren, dann lautet meine Antwort Ja. Ja, absolut. Bin ich mir hundertprozentig sicher? Würde ich mein Leben darauf verwetten?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich verspreche, mein Bestes zu tun, und ich beschütze dich.«
»Aber was ist mit meiner Mutter und ihrem Mann? Amanda? Logan? Was ist mit dir? Wie willst du sie alle schützen, wenn Damon frei herumläuft?«
Er musterte sie besorgt. »Ich habe dich noch nie so nervös erlebt. Was geht hier vor?«
Madison kniff die Augen fest zusammen, aber trotzdem rollte ihr eine Träne über die Wange. Sie weinte fast nie, doch in den letzten vierundzwanzig Stunden schien sie sich nicht beherrschen zu können. Sie hatte solche Angst und fürchtete so sehr um ihre Familie und um Pierce.
»Ach, meine Süße. Jetzt wein doch nicht.« Er zog sie an sich und umarmte sie fest.
Sie klammerte sich an ihn und unterdrückte mit aller Kraft die aufsteigenden Tränen, während sie den tröstenden Geruch seines Aftershaves einatmete und die Wärme genoss, die sein Körper ausstrahlte. Sie liebte ihn. Das wusste sie plötzlich mit überraschender Klarheit. Nach all den Monaten, den Zweifeln und den Befürchtungen, ihren Gefühlen nicht trauen zu können … waren die Zweifel auf einmal verschwunden.
Sie liebte ihn nicht nur, sie wusste auch ohne jeden Zweifel, dass sie ihn immer lieben würde. Das hier war nicht das kurzlebige Strohfeuer, das in ihr entflammt war, als sie Damon kennengelernt hatte. Ihre Gefühle für Pierce waren ganz anderer Natur.
Aber die Erkenntnis kam zu spät. Pierce glaubte vielleicht, ihre Familie und sich selbst vor Damon schützen zu können. Aber Madison durfte das Risiko nicht eingehen, dass Damon jemandem wehtat, den sie liebte. Sie musste dafür sorgen, dass er nie wieder jemandem schaden konnte, der ihr etwas bedeutete.
Heute Abend würde sie ihm einen Handel vorschlagen. Eine Million Dollar für sein Geständnis, ein Geständnis, das sie auf Band aufnehmen würde. Sie konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Dieses Mal musste sie dafür sorgen, dass ihre Liebsten in Sicherheit waren.
Sie schaute Pierce an und ließ zum ersten Mal zu, dass er all die Liebe, die sie für ihn empfand, in ihren Augen sah. Sie streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange.
Er runzelte verwirrt die Stirn. »Mads? Was …«
»Liebe mich«, flüsterte sie. »Bitte.«
Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er wollte vor ihr zurückweichen, doch sie hielt ihn an den Armen fest.
»Liebe mich, Pierce.«
Er blieb stehen, und sein Blick wanderte zu ihrem Mund. »Nein, nicht noch einmal. Ich bin nicht der Typ für eine Sexfreundschaft. Ich will alles, Mads. Alles oder nichts.« Minutenlang betrachtete er sie, als müsste er eine wichtige Entscheidung treffen. Dann griff er in die Hosentasche seiner Jeans und zog einen Ring heraus. Er hielt ihn ihr hin.
Madison starrte den tropfenförmigen Diamanten an und schwieg. Sie brachte kein Wort heraus. Wieder einmal brach ihr das Herz.
»Der hier gehört dir, wenn du ihn willst«, sagte er. »Wenn du mich willst. Ich liebe dich. Ich liebe dich seit dem ersten sarkastischen Kommentar, den ich aus deinem Mund gehört habe. Ich habe diesen Ring vor einiger Zeit gekauft, für die Frau, die ich liebe. Ich wollte dir einen Antrag machen. Aber du hast mich verlassen.«
Verzweiflung schnürte Madison die Kehle zu. Sie konnte seinen Antrag nicht annehmen, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. Nicht, wenn sie gleich Damon … oder Simon … zur Rede zu stellen würde und es gut möglich war, dass sie nicht zurückkehrte. Sie wusste, dass ihre Chancen nicht gut standen und dass sie die Nacht vielleicht nicht überleben würde. Sie konnte Pierce nicht einweihen, damit er sie begleitete, denn Damon hatte ihr bereits gesagt, was passieren würde, wenn sie nicht allein kam.
Er würde ihre Familie töten. Er würde Pierce töten.
Sie konnte nicht einwilligen, Pierce zu heiraten, und ihn dann verlassen, nicht auf diese Weise. Und was noch schwerer wog: Sie wusste, wenn sie seinen Antrag annahm, dann würde er sie nicht gehen lassen. Er würde erwarten, dass sie glücklich war und mit ihm feierte. Sie würde keine Gelegenheit haben, sich zu einem nächtlichen Treffen mit Damon aus der Pension zu schleichen.
Sie konnte nicht ja sagen. Sie musste ihm wieder wehtun. Und sie wusste, dass es dieses Mal kein Zurück mehr gab. Eine solche Abfuhr würde er ihr nicht zweimal verzeihen und ihr dann eine dritte Chance gewähren.
Tränen strömten ihr über das Gesicht, als sie begriff, dass Damon gewonnen hatte.
Er hatte ihr Pierce bereits weggenommen.
Er machte noch einen Schritt auf sie zu und betrachtete sie aufmerksam, während er auf ihre Antwort wartete.
»Ich kann dich nicht heiraten.«
Sein ganzer Körper versteifte sich. Eine volle Minute lang stand er wie versteinert da und starrte sie wortlos an. Dann zogen sich seine Augenbrauen finster zusammen, und er schob den Ring zurück in die Hosentasche. Mit einer plötzlichen Bewegung drückte er sie gegen die Wand und versperrte ihr den Weg. Sie stand zwischen seinen gespreizten Beinen, und er stützte sich mit den Händen rechts und links von ihrem Kopf gegen die Wand.
»Was willst du von mir?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein gequältes Wispern.
»Sag mir wenigstens einmal die Wahrheit«, flüsterte Pierce rau. »Sag mir, was in diesem sarkastischen, frustrierend eigensinnigen Köpfchen …« Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn gegen ihre. Er zitterte und atmete tief und abgehackt ein. »Sag mir, was in diesem wunderhübschen, klugen Köpfchen vor sich geht.« Er küsste sie sanft auf die Lippen. »Nicht irgendeine Lüge, dass wir keine gemeinsame Zukunft hätten. Ich habe damals schon gewusst, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Lüg mich nicht noch einmal an.«
Sie atmete heftig ein. »Von dieser Lüge weißt du doch erst, seit Austin mich ausgetrickst hat.«
»Glaubst du das wirklich? Ich kenne dich viel besser, als du ahnst. Und ich weiß, wann du lügst.«
Sie war alarmiert. »Das ist lächerlich.«
»Ach ja? Alle Menschen haben so etwas wie ein verräterisches Zeichen, mit dem sie sich bei einer Lüge verraten. Und bei dir weiß ich genau, wann du lügst. Probier es aus, wir werden ja sehen. Ich sage dir dann, ob du die Wahrheit sagst oder nicht.«
»Hör auf.« Frustriert ballte sie die Hände zu Fäusten. »Lass mich gehen. Ich möchte nicht, dass du mir so nah bist.« Sie strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Seine Miene wurde weicher. »Lüge.« Er streckte die Hand aus und strich ihr sanft über die Wange.
Sie zitterte, wütend darüber, dass er recht hatte. Als er so nah vor ihr stand und sie seine Wärme spürte, seinen verführerischen Duft einatmete, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich an ihn zu schmiegen.
»Was ist mit uns passiert, Mads?« Beim Klang seiner tiefen Stimme zog sich ihr Unterleib sehnsüchtig zusammen. »Wir haben stundenlang geredet. Wir haben so lange gelacht, bis du heiser warst. Erinnerst du dich an die langen Nächte am Strand, als wir zugeschaut haben, wie die Wellen ans Ufer schlugen?« Sein Blick glitt zu ihren Lippen. »Wie wir uns geliebt haben?«
Zitternd presste sie sich an ihn und sehnte die Vergangenheit mit einer Intensität zurück, von der er niemals etwas ahnen würde.
»Du warst glücklich«, sagte er. »Wir waren glücklich. Was hat sich geändert?«
Sie schüttelte den Kopf und bohrte sich die Fingernägel in ihre Handflächen, um nicht die Hände nach ihm auszustrecken. »Zwei Monate. Wir kannten uns zwei Monate und waren nur einen Monat lang zusammen. Es hat einfach nicht funktioniert. Das ist alles.«
»Wir hatten viel mehr als eine Romanze. Wir waren ein gutes Team.« Sein Finger beschrieb einen feurigen Pfad über ihren Nacken. »In jeder Beziehung.«
Als er diese letzten drei Worte sagte, klang seine Stimme belegt, und sie konnte nicht verhindern, dass eine Welle der Leidenschaft ihren Körper erbeben ließ. Er spürte es, und sein Blick wurde hungrig. Er berührte ihre Lippen mit den seinen. Einmal, zweimal und ein drittes Mal.
Und plötzlich lag sie in seinen Armen und konnte ihm gar nicht nah genug sein. Er zuckte zusammen, und ihr fielen seine angeknacksten Rippen ein, doch als sie sich zurückzuziehen wollte, schlang er die Arme um sie und zog sie noch fester an sich.
Voller Hingabe küsste er sie, seine Zunge glitt in ihren Mund, und rasch wurde aus ihrem Verlangen ein verzehrendes Feuer, das ihr den Atem nahm. Seine Umarmung fühlte sich so gut an, so … richtig. Es war wie Heimkommen. Aber als seine Lippen zu ihrem Nacken hinunterwanderten und sie die Augen öffnete, sagte ihr Verstand ihr, dass sie ihm Einhalt gebieten musste. Sonst würde er glauben, sie wären wieder ein Paar mit einer gemeinsamen Zukunft. Und sie wusste ja nicht einmal, ob sie die Nacht überleben würde.
Nur wenn sie log und ihn überzeugte, dass sie ihn nicht liebte, konnte sie sicher sein, dass er sie lange genug allein ließ, um hinausschlüpfen und sich mit Damon zu treffen.
»Lass das.« Sie stieß ihn von sich weg und mied dabei seine verletzten Rippen.
Pierce lockerte seine Umarmung, ohne sie loszulassen. Seine Augen waren dunkel vor unterdrückter Leidenschaft.
»Warum nicht?«, fragte er.
Ihr war, als müsste sie sterben. Was sie gleich tun würde, tat jetzt schon furchtbar weh.
»Die Wahrheit?« Sie verschlang die Hände ineinander, um sie nicht nach ihm auszustrecken. »Ich habe dir schon damals, vor all diesen Monaten, die Wahrheit gesagt. Wir hatten Spaß miteinander, viel Spaß, besonders im Bett. Ich habe bekommen, was ich wollte, und es war Zeit für einen Neubeginn. Ich wollte mich nicht an einen Mann binden. Dass ich noch keinen anderen habe, bedeutet nicht, dass ich gelogen habe.«
Pierce fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Sein Blick suchte den ihren. Er sah auf ihre Hände, als erwarte er, dass sie etwas damit tat. In seinem Gesicht lag Schmerz. »Dann war das zwischen uns nur eine Bettgeschichte?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Das ist etwas harsch ausgedrückt, aber ja, es trifft den Kern der Sache. Im Bett haben wir gut miteinander harmoniert, aber das war’s auch schon.«
Er starrte sie lange mit regungsloser Miene an. Dann ließ er sie los, drehte sich um und trat an das Fenster, das zur Straße hinausging.
Madison hatte einen Kloß im Hals. Sie lief in ihr Schlafzimmer und schloss die Verbindungstür.
Bewaffnet mit den zwei Pistolen, die sie sich aus ihrem Haus geholt hatte, ehe sie zur Bank gefahren war, trat sie fünf Minuten später in den Flur.
Das Haus in der East Gaston Street war dunkel und Madison war sich nicht sicher, wo Damon auf sie warten würde. Beobachtete er sie bereits? Hatte er gesehen, wie sie sich um die Häuserecke in die Straße geschlichen hatte? Sie trug die unauffälligste Kleidung, die sie besaß – dunkle Jeans und eine dunkelblaue Bluse zum Zuknöpfen. Braune Lederhalbschuhe waren zwar nicht ganz nach ihrem Geschmack, aber ihre weißen Turnschuhe hätten in dem dürftigen Licht der Straßenlaterne zu sehr reflektiert.
Sie versteckte sich hinter einigen hochgewachsenen Büschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die Fenster an der Vorderseite des Hauses. Nach einer halben Stunde wurde ihre Geduld belohnt. Ein Schatten, der nur wenig dunkler war als seine Umgebung, stand am Panoramafenster in ihrem Wohnzimmer. Die hauchdünnen Gardinen wurden ein paar Zentimeter zur Seite geschoben, als die Person, die dort stand, nach draußen spähte.
Sie verharrte so regungslos wie möglich, wagte kaum Luft zu holen, um sich nicht zu verraten, und wartete. Schließlich wurden die Vorhänge zugezogen, und sie atmete zitternd aus. Sie nahm all ihren Mut zusammen und wappnete sich für das Treffen, das ihr bevorstand.
Pierce wusste nicht genau, wie lange er versteinert dagestanden und über Madison nachgedacht hatte. Am liebsten hätte er sich für seinen erbärmlichen Auftritt einen Tritt verpasst. Er hatte ihr seinen Verlobungsring, seinen Namen und sein Herz auf einem Silbertablett präsentiert, und sie hatte ihm eine Abfuhr erteilt.
Mal wieder.
Die Leuchtziffern der Nachttischuhr zeigten ihm, wie spät es war. Normalerweise hätte er um diese Zeit bereits geschlafen, allerdings bezweifelte er stark, dass er in dieser Nacht ein Auge zubekommen würde. Er lauschte auf Geräusche aus dem Nebenzimmer, die ihm verrieten, ob Madison bereits zu Bett gegangen war, aber dort herrschte völlige Stille.
Stille? Madison war nicht der stille Typ. Egal, was sie tat, sie war immer mit vollem Herzen dabei. Auf Zehenspitzen herumzuschleichen entsprach nicht ihrem Temperament. Und wenn sie schlief, dann schnarchte sie. Eigentlich hätte er sie hören müssen, stattdessen hörte er … nichts.
Es war, als wäre sie gar nicht da.
Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Er lief durch den Raum und riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Er brauchte nur eine Sekunde, um festzustellen, dass es leer war.
Madison war verschwunden.
Er schnappte sich seine Neun-Millimeter-Pistole und schob sie in sein Schulterholster, das er noch nicht abgelegt hatte. Dann zog er Schuhe an und rannte die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer plärrte der Fernseher, doch der Pensionswirt saß nicht wie üblich in seinem Lieblingsfernsehsessel. Pierce warf noch einen Blick in die Küche und rief leise nach Madison. Sie war nicht da.
Wo konnte sie sonst sein? Er eilte aus der Pension und rannte den Block hinunter zu der Stelle, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Er stieg ein und versuchte, Madison auf ihrem Handy zu erreichen. Nach zwei vergeblichen Anrufen wählte er eine andere Nummer.
»Wenn du mich um diese Zeit anrufst, solltest du mindestens einen Mord in petto haben«, knurrte eine schläfrige Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
»Würdest du für mich ein Handy orten?«
»Ich freue mich auch, von dir zu hören.«
»Tess …«
»Ja, ja, schon gut. Erklär’s mir einfach später. Gib mir eine Sekunde, um wach zu werden.« Einen Augenblick später sagte sie: »Wie lautet die Nummer?«
Er ratterte Madisons Handynummer herunter, startete den Motor und wartete ungeduldig, während er darauf lauschte, wie Tessa auf ihrer Computertastatur tippte.
»Tess …«
»Sekunde noch. Schon geschafft, Mr Ungeduld. Das Signal rührt sich nicht von der Stelle. Es sieht so aus, als befände es sich in Abercorn, in der Nähe der Kreuzung Abercorn/East Taylor.«
»Calhoun Square. Dank dir, Tessa. Du hast was gut bei mir.«
Madison wusste, dass sie ein Feigling war. Pierce verdiente es, die Wahrheit von ihr zu hören. Er hatte das Recht zu erfahren, dass sie ihn liebte. Aber lieber verletzte sie ihn durch eine Lüge, als dass sie Damon davonkommen ließ und dadurch Pierce’ Leben aufs Spiel setzte.
Geduckt schlich sie zur Hintertür in der Hoffnung, Damon zu überraschen.
»Ich war nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest.«
Bevor Madison reagieren konnte, hatte Damon sie auch schon gepackt und gegen seine Brust gepresst. Sein heißer Atem kitzelte sie im Nacken, und sie schauderte vor Abscheu.
»Lass mich los. Du musst mich nicht festhalten, ich bin freiwillig hergekommen.«
»Das stimmt wohl, das bist du. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich dich durch die Sträucher vor dem Haus kriechen sah. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde, dich herzulocken. Aber das heißt nicht, dass ich dir traue. Gehen wir ins Haus.«
Sie versteifte sich, und er stieß sie lachend durch die Haustür und in den Windfang.
Als er sie losließ, um die Tür zu schließen, griff sie in die Hosentasche, um den Colt .380 herauszuziehen, den sie dort versteckt hatte.
»Ts, ts, ts«, machte er und schnalzte dabei mit der Zunge, während er ihr den Revolver aus der Hand nahm. »Den gibst du lieber mir.« Er tastete sie ab und sie zuckte angewidert zurück, als er ihre Brüste begrapschte.
»Was ist das hier?«, fragte er, seine Hände verharrten auf ihrem Bauch.
Er hatte das Aufnahmegerät ertastet, das sie mitgebracht hatte. Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien, doch er war zu stark. Er schob seine Hand in ihre Hosentasche und zog das Aufnahmegerät heraus.
Er betrachtete es spöttisch. »Was wolltest du damit erreichen? Ein Geständnis aus mir herauspressen und es auf Band aufnehmen? Damit ich in den Knast komme?«
»Der Gedanke ist mir gekommen.«
Er grinste und hielt sich das Gerät vor den Mund, als handele es sich um ein Mikrofon. »Hiermit gestehe ich, Damon McKinley, Madisons Vater getötet zu haben.« Er schob das Gerät in seine Hosentasche. »Es ist egal, was auf dem Band ist. Niemand wird es jemals zu hören bekommen. Außerdem bin ich hier nicht der Einzige, der sich schuldig gemacht hat. Schließlich wolltest du mich umbringen. Du hast auf mich geschossen, schon vergessen?«
»Ich wünschte, ich hätte dich in jener Nacht getötet.«
»Natürlich wünschst du dir das. Zum Glück hast du schlecht gezielt und mich nur am Arm getroffen.«
Er schubste sie den Flur hinunter in Richtung Arbeitszimmer. Sie blieb stehen, doch er versetzte ihr einen groben Stoß, der sie in die Knie gehen ließ. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, biss sie die Zähne zusammen und ging weiter ins Wohnzimmer.
»Wie schaffst du es immer wieder, dir Zutritt zu meinem Haus zu verschaffen?«, fragte sie. »Wie bist du heute Nacht hier hereingekommen, ohne den Alarm auszulösen?«
Er griff in die Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus. Am Schlüsselring hing ein elektronischer Sicherheitsschlüssel, der genauso aussah wie der, der ihr kaputtgegangen war.
»Es zahlt sich eben aus, wenn man Freunde hat, die bei einem Sicherheitsdienst arbeiten. Besonders, wenn es sich um die Firma handelt, die die Schlösser an deinem Haus ausgetauscht hat.« Er steckte den Schlüsselbund wieder ein.
Sie sah sich im Zimmer um. Um ihn in Sicherheit zu wiegen, versuchte sie, nervöser zu wirken, als sie war. Innerlich kochte sie vor Wut und wünschte sich nichts mehr, als endlich ihre andere Pistole aus dem Fußgelenkholster zu ziehen. Aber solange Damon wachsam blieb, war das Risiko zu groß, dass er sie erschoss, ehe ihr das gelang.
»Könntest du bitte aufhören, auf mich zu zielen? Du wirst noch versehentlich auf mich schießen.«
»So wie du auf mich geschossen hast?«, höhnte er und richtete die Waffe auf sie. Aus dieser Entfernung konnte er sie unmöglich verfehlen. »Was ist los? Kein Betteln? Du bittest mich nicht um Vergebung und erzählst mir, dass du mich gar nicht treffen wolltest?«
»Natürlich wollte ich dich treffen. Du wolltest abhauen, und ich wollte dich aufhalten. Ich wollte, dass du für den Tod meines Vaters bezahlst.«
»Sag mir doch bitte, geliebtes Eheweib – was hast du gedacht, als meine Leiche gefunden wurde? Und keine Kugel? War dir klar, dass ich noch lebe, oder hast du angenommen, dass die Kugel in dem Feuer verloren gegangen ist?«
»Ich … ich war mir nicht sicher.«
Er trat näher an sie heran und beugte sich zu ihr hinunter. »Weiß dein Freund, dass du versucht hast, deinen Ehemann umzubringen?«
»Er weiß, dass ich auf dich geschossen habe. Wenn ich dich hätte töten wollen, dann wärst du jetzt tot. Ich bin eine gute Schützin. Warum hast du mich geheiratet, wenn für dich alles nur eine große Lüge war?«
»Wenn ich dir sage, dass ich mich in dich verliebt hatte, würdest du mir wahrscheinlich nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf, als er ihre ungläubige Miene sah. »Hab ich’s mir doch gedacht.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Menschen wirklich geliebt habe, aber ich habe mir etwas aus dir gemacht. Zumindest so viel, dass ich dich nicht umgebracht habe wie jede andere Frau, die in meinem Leben eine Rolle gespielt hat. Ich wollte, dass du glücklich bist, und wenn dein Vater einfach zum vorgesehenen Zeitpunkt gestorben wäre, dann wäre uns das alles erspart geblieben.«
Madison schauderte, als sie ihn so beiläufig vom Töten sprechen hörte. Wie viele Menschen hatte er wohl in all den Jahren umgebracht? Sie war froh, dass sie es geschafft hatte, so lange zu überleben, nachdem sie diesen Mann immerhin geheiratet hatte. Magensäure stieg ihr in die Kehle, und sie schluckte sie hinunter. Dann erst begriff sie, was er soeben gesagt hatte. »Wie meinst du das – ›wenn dein Vater einfach zum vorgesehenen Zeitpunkt gestorben wäre‹?«
»Es ist schon erstaunlich, was Menschen wissen, ohne es sich einzugestehen. Als wir uns kennengelernt haben und du von deiner Familie erzählt hast, da wusste ich sofort, dass es etwas zu holen gab, auch wenn dir das nicht klar war. Es war nicht schwer, deinen Vater dazu zu bringen, mit seinem Händchen für Investitionen zu prahlen, so von Mann zu Mann. Er war so stolz darauf, dass er imstande war, für seine Familie zu sorgen und darauf, dass seine Hinterbliebenen nach seinem Tod finanziell gut dastehen würden. Wir sprechen hier von mehreren Millionen Dollar. Er hatte ein gutes, ein erfülltes Leben. Wenn er einfach bei meinem ersten Versuch gestorben wäre, dann wären wir beide wahrscheinlich immer noch ein Paar.«
Sie war so schockiert, dass sie ihn nur fassungslos anstarrte.
»Arme kleine Madison. Du hast wirklich keine Ahnung, wer ich bin, selbst nachdem du deinem neuen Freund bei den Ermittlungen geholfen hast. Was hat er dir erzählt? Hat er herausgefunden, wer ich wirklich bin?«
»Was meinst du, ein Identitätsdieb, ein Hochstapler und ein abscheulicher Serienmörder mit dem Namen Simon?«
Er lachte. »Na ja, das bin ich wohl alles, und auch wenn ich ›abscheulich‹ etwas hart finde: Alles, was du sagst, stimmt – und noch mehr. Deine Familie war für mich nur Mittel zum Zweck. Und wenn ich dich irgendwann sattgehabt hätte, hätte ich ausgesorgt gehabt – als reicher Witwer, der den Verlust seiner geliebten Ehefrau betrauert. Von dem Geld hätte ich jahrelang bequem leben können, bis es mir ausgegangen wäre oder mir ein Fehler unterlaufen wäre, wie etwa ein Mord in der Nähe meines Wohnorts, der mich gezwungen hätte, meine Identität zu wechseln.« Er legte den Kopf schräg. »Na ja, genug von den alten Zeiten. Wo ist der Scheck?«
»Ich habe ihn nicht bei mir«, log sie. Sobald sie ihm das Geld gab, war sie tot. Sie hatte den Scheck nur mitgebracht, um dafür sein Geständnis zu bekommen. Doch ohne das Aufnahmegerät und ihre Pistole war der Scheck in ihrem BH nur eine Belastung.
Irgendwie musste sie Zeit schinden, ihn ablenken, damit sie die andere Pistole ziehen konnte.
»Ohne das Geld wärst du nicht hergekommen. Wo ist es?«, fragte er.
»Im Safe.«
»Safe? In welchem Safe?«
»Dort drüben.« Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand.
Er schob sie vorwärts. »Dann los.«
Sie nahm ein Gemälde von der Wand, und ein in die Wand eingelassener Safe wurde sichtbar.
Damon drückte ihr den Pistolenlauf in den Rücken. »Mach ihn auf.«