11
Madison war immer noch stinksauer, weil Hamilton sie nicht nur als geistesgestört beschimpft, sondern ihr auch noch Gefängnishaft angedroht hatte. »Ich habe es dir doch gesagt – wenn ich ihn an dem Tag des Schusswechsels die Polizei gerufen hätte, hätten sie mich festgenommen.«
Sofort bedauerte sie, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. Pierce machte ein grimmiges Gesicht, und er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, während das Auto über den Feldweg zu seinem Haus holperte. Seit der Lieutenant seine Schimpfkanonade gegen sie losgelassen hatte, hatte er kein Wort mehr zu ihr gesagt.
Hegte er ihr gegenüber dieselben Zweifel wie Hamilton? Bedauerte er bereits, ihr seine Hilfe angeboten zu haben?
»Sobald wir zu Hause sind, möchte ich, dass du mir alles erzählst«, sagte er barsch. Seine Stimme klang angespannt. »Ich möchte alles über den Drohbrief hören, über den Telefonanruf und auch sonst alles, was du zu erwähnen vergessen hast.«
Ihr Magen zog sich unbehaglich zusammen.
Als das Haus in Sichtweite kam, musste er das Steuer herumreißen, um einem anderen Wagen auszuweichen, der vor dem Blockhaus parkte. Er schaltete den Motor ab, doch statt auszusteigen, musterte er durch die Frontscheibe den Mann, der auf der Vorderveranda stand. »Was macht er hier?«
Der Mann hatte die Arme verschränkt, und Madison musste die Augen zusammenkneifen, um sein Gesicht im Schatten des überhängenden Dachs sehen zu können. »Ist das nicht Braedon?«
»Leider.« Pierce lehnte sich zurück, er schien es mit dem Aussteigen nicht besonders eilig zu haben. »Wenn wir lange genug hier sitzen bleiben, geht er vielleicht wieder.«
»Was hast du gegen deinen Bruder?«
Er sah überrascht aus. »Warum glaubst du, dass ich etwas gegen ihn habe?«
»Oh, ich weiß nicht – vielleicht weil du immer ein mürrisches Gesicht machst, wenn du ihn siehst, und immer etwas auszusetzen hast.«
Er rollte mit den Augen. »Es ist nicht mein Bruder, der mir Sorgen macht, sondern die Zahl seiner sexuellen Eroberungen.«
»Was soll das jetzt bedeuten?«
»Vergiss es.«
Sie seufzte leise und öffnete die Beifahrertür. »Wie auch immer, ich habe nicht vor, hier die Nacht zu verbringen. Zufälligerweise kann ich deinen Bruder ziemlich gut leiden. Er wirkt sehr sympathisch. Und er ist viel fröhlicher als du.«
Pierce öffnete widerwillig die Autotür. »Dann fragen wir ihn eben, was er will.«
Als Madison und Pierce nahe genug waren, um Braedons Gesicht sehen zu können, sah Madison, dass dessen Augenbrauen düster zusammengezogen waren. Er würdigte sie keines Blickes, sondern funkelte seinen Bruder wütend an.
»Warum hast du uns nicht erzählt, dass man dich angeschossen hat?«
Pierce stöhnte. »Woher weißt du davon?«
»Hamilton hat vollkommen aufgebracht bei Alex angerufen und gesagt, dass du und …« Er warf Madison einen Blick zu, so als würde er sie jetzt erst bemerken. Seine Wangen verfärbten sich rot. »Tut mir leid, Mrs McKinley. Ich sollte unsere Familienprobleme nicht vor Ihnen zur Sprache bringen.«
Sie winkte ab. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wenn Sie sich über etwas aufregen, das Hamilton gesagt hat, dann ist das meine Schuld. Ihr Bruder hat versucht, mir bei einem … kleinen Problem zu helfen. Dass er angeschossen wurde, ist ebenfalls meine Schuld.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich schützend vor Pierce. »Wenn Sie jemanden anschreien möchten, dann machen Sie das bei mir.«
Verblüfft quietschte sie auf, als Pierce seine Hände um ihre Taille legte und sie aus dem Weg schob.
»Du musst dich nicht vor Braedon rechtfertigen. Das hier geht ihn nichts an, genauso wenig wie Alex.«
»Es geht mich nichts an, dass mein kleiner Bruder fast erschossen worden wäre und sich nicht die Mühe macht, seiner Familie davon zu erzählen?«
»Wer ist Alex?«, wollte Madison wissen.
»Angeknackste Rippen und ein paar Stiche sind kein Grund, gleich die ganze Familie zu informieren. Es ist nicht notwendig, dass einer meiner Brüder auf mich aufpasst.«
»Wer ist Alex?«, fragte Madison erneut. »Moment mal. Einer deiner Brüder? Wie viele hast du denn genau?« Ihr Blick jagte zwischen den beiden Männern hin und her, aber sie schienen vergessen zu haben, dass sie überhaupt da war.
»Es liegt nahe, dass du nach Savannah zurückgekehrt bist, um wieder in der Nähe deiner Familie zu leben«, sagte Braedon. »Eine Familie sein bedeutet, dass man die anderen informiert, wenn etwas Schlimmes geschieht. Du hast viel zu lange an diesen Serienmörderfällen gearbeitet. Du weißt gar nicht mehr, was ›normal‹ ist.«
Pierce sah demonstrativ zu Madison hinüber. »Ich möchte Madison zuerst sicher ins Haus bringen. Wir können das hier unter vier Augen besprechen.«
»Wir können das hier zu Hause diskutieren. Es ist Freitagabend, oder hast du das vergessen?«
Madison runzelte die Stirn. »Zu Hause? Wo ist das? Was ist so besonders am Freitagabend?«
»Ich schaffe es diese Woche nicht.« Pierce ging an Braedon vorbei, um die Haustür aufzuschließen.
»Es ist auch Austins Zuhause.«
Pierce drehte sich langsam um.
Madison beobachtete eine volle Minute lang, wie die beiden Brüder versuchten, sich gegenseitig niederzustarren. »Ähm, Jungs, was geht hier vor sich? Wer ist Austin?«
Braedon seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Alex ist … war … mit Pierce’ Mom verheiratet. Austin ist unser jüngster Bruder. Wir bekommen ihn zurzeit nicht allzu oft zu Gesicht. Er war … krank. Was der Grund dafür ist, dass ich nicht zulassen werde, dass Pierce den Familienabend ruiniert.« Er ging hinüber zum Treppenabsatz. »In zwei Stunden gibt es Abendessen. Wenn ich zurückkommen muss, um dich zu holen, bringe ich die ganze Familie mit.«
Das Zuhause, von dem Braedon gesprochen hatte, entpuppte sich als weitläufiges Haus im Rancher-Stil und lag etwa dreißig Minuten südlich von Savannah. Rund um das Anwesen erstreckten sich mehrere Hektar Land, und das Grundstück selbst war umgeben von einem weiß lackierten Zaun. Rechts vom Haus gab es einen großen Fischteich, der sich bis zur Baumlinie erstreckte. Wie das Haus von Madison besaß es keine Garage, sondern eine große, runde Kieseinfahrt.
Pierce parkte seinen Wagen neben dem weißen Pick-up mit dem auffälligen B&B-Schriftzug, den Braedon gefahren hatte. Zwei weitere Pick-ups, beides amerikanische Marken, parkten in einer Reihe neben Braedons Transporter. Ein kompakter Geländewagen – ein schwarzer Cadillac Escalade – stand am Ende der Reihe.
Direkt vor dem Haus, vor einer Rampe, die zur Haustür führte, stand ein Fahrzeug, das nicht zu den anderen zu passen schien.
Es handelte sich um einen umgebauten blauen Kleinbus mit einem Rollstuhlaufzug, der hinten angebracht war.
Sie warf Pierce einen Blick zu. Seit sie aus dem Wagen gestiegen waren, hatte er sich nicht vom Fleck gerührt. Stattdessen stand er missmutig neben ihr und musterte den Kleinbus.
»Ist das hier das Haus deines Vaters?«, fragte sie.
»Eigentlich ist er mein Stiefvater, aber er ist nur zehn Jahre älter als ich, acht Jahre älter als Braedon. Wir nennen ihn einfach nur Alex.«
»Und – magst du ihn nun oder nicht?«
Er zwang sich, seinen Blick von dem Transporter loszureißen. »Warum fragst du mich das?«
Sie warf die Hände in die Luft. »Warum wohl? Du scheinst dich ja prima mit deiner Familie zu verstehen. Und du wirkst so, als würdest du dich unglaublich auf diesen Besuch freuen. Wie komme ich da nur auf die Idee, dass du gegen einen von ihnen etwas haben könntest?«
Seine Mundwinkel zuckten, doch es wurde kein Lächeln daraus. Stattdessen griff er nach ihrer Hand und ging weg vom Teich auf die Bäume zu, die links vom Haus standen.
Sie musste neben ihm herjoggen, um mit seinen langen Beinen Schritt halten zu können. »Wohin gehen wir?«
»In den Wald.«
»Schon klar, das sehe ich selbst. Warum gehen wir in den Wald?«
»Weil ich dir ein paar Dinge erklären muss, ehe du meine Familie kennenlernst.«
»In Ordnung. Warum hast du das nicht auf der Fahrt hierher erledigt?«
Er antwortete nicht. Stattdessen marschierte er mit solchen Riesenschritten weiter, dass sie gezwungen war, hinter ihm herzulaufen. Er ließ sie erst los, als sie endlich die Bäume erreicht hatten und damit außer Sichtweite des Hauses waren.
Sofort ließ sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und holte ein paarmal tief Luft, um ihr stark klopfendes Herz zu beruhigen.
Er musterte sie stirnrunzelnd. »Warum atmest du so schwer?«
»Möglicherweise … weil ich gerade … einen halben Kilometer gerannt bin?« Sie atmete noch ein paarmal tief durch. »Meine Beine … sind nicht … annähernd so lang wie deine … falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
Er wurde rot. »Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.« Er setzte sich neben sie auf den umgestürzten Baumstamm. »Als ich den Transporter sah, da kamen ein paar … schmerzhafte Erinnerungen wieder hoch.«
Als er nichts weiter sagte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und wickelte ihre Jacke fester um sich. Die Sonne war dabei unterzugehen, und ihre Wärme drang nicht bis in die tiefen Schatten der Kiefern und Eichen vor.
Er rückte näher an sie heran, legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich.
Dankbar schmiegte sie sich an ihn, ihr wurde bereits wärmer. »Danke.«
»Gern geschehen.« Seine Stimme klang seltsam belegt.
»Also, du wolltest mit mir reden.« Sie versuchte verzweifelt, nicht darüber nachzudenken, wie gut und richtig es sich anfühlte, von ihm gehalten zu werden.
Er atmete hörbar aus. »Dieses Haus ist eine Art Familienstützpunkt, hier versammeln wir uns alle einmal die Woche und in den Ferien.«
»Wem gehört das Haus?«
»Es gehörte meiner Mutter, es wird seit Generationen weitervererbt. Jetzt gehört es Alex.«
»Dann ist deine Mutter, sie ist … tot?« Der Gedanke daran, dass er so wie sie ihren Vater seine Mutter verloren haben könnte, tat ihr weh. Sie drückte seine Hand.
Er drehte die Hand herum, und ihre Finger verschränkten sich. »In gewisser Weise stimmt das. Sie hat uns verlassen, als ich gerade die Highschool beendete. Sie sagte, sie langweile sich, und brannte mit einem Jüngeren durch. Die Scheidungspapiere ließ sie Alex durch einen Anwalt zustellen. Sie wollte nichts außer ihrer Freiheit. Sie hatte auch kein Interesse an dem Sorgerecht für ihre Kinder. Im Gegenteil, sie war mehr als froh darüber, die Verantwortung auf Alex abwälzen zu können, sogar die für Austin und Matt, die zu der Zeit noch sehr klein waren. Die beiden sind als einzige Alex’ biologische Kinder, dennoch hat er uns alle aufgezogen, als wären wir sein Fleisch und Blut.«
Madison blieb das Herz stehen. Oh Gott. Seine Mutter hatte ihre Kinder verlassen – hatte Pierce verlassen – und eine ähnliche Ausrede für ihr Verhalten gehabt wie Madison, als sie sich von ihm getrennt hatte: nämlich, dass sie gelangweilt wäre und einen neuen Anfang wollte. Plötzlich fühlte sie sich wie der letzte Abschaum. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
Pierce drückte sie fester an sich. »Ist schon in Ordnung. Diese Erfahrung hat uns alle näher zusammenrücken lassen. Als meine Mutter uns verließ, wurde Alex zu dem Bindemittel, das dafür sorgte, dass wir zusammenhielten, und daran hat sich seitdem nichts geändert.«
Sie öffnete den Mund, um ihn zu korrigieren, um ihm zu sagen, dass sie sich für ihr eigenes Verhalten hatte entschuldigen wollen und nicht das seiner Mutter. Doch dann entschied sie, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Hier ging es nicht um sie. Es ging um ihn und um das, weswegen er sie in dieses Wäldchen geführt hatte. »Sprich weiter«, ermutigte sie ihn. »Was wolltest du mir noch sagen?«
Er rieb mit der Hand über ihre Jackenärmel, um sie zu wärmen. Unwillkürlich wünschte sie, er würde stattdessen ihre nackte Haut streicheln.
»Wir Geschwister haben nicht alle dieselbe Mutter und denselben Vater. Das macht es ein bisschen … kompliziert. Dennoch sind wir Brüder, egal, wessen Blut durch unsere Adern fließt.« Er musterte sie aufmerksam, als warte er darauf, dass sie ihm zustimmte.
Sie nickte und fragte sich, warum er glaubte, ihr eine Erklärung über seine Familienverhältnisse schuldig zu sein. War das der Grund, warum er sie hierhergeführt hatte? Um ihr den Familienstammbaum zu erläutern?
»Alex lebt meistens allein hier draußen. Und wenn Austin nicht irgendwo in Behandlung ist, lebt er auch hier.«
»Behandlung?«
»Austin leidet unter einer neurologischen Störung, die Ähnlichkeit mit Muskeldystrophie hat, aber nicht genau dasselbe ist. Diese Erkrankung ist ziemlich … unberechenbar, eine von diesen seltenen Krankheiten, die so selten auftreten, dass man kaum etwas über sie weiß.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Jedes Mal, wenn Alex von einem neuen Medikament oder einer neuen Studie hört, meldet er Austin dort an. In nicht allzu ferner Zukunft, wahrscheinlich eher früher als später, wird Austin sich weigern, an weiteren Studien teilzunehmen. Alex verhält sich wie eine Glucke.«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich wollte gar nicht so lange auf diesem Thema herumreiten. Aber ich möchte auch nicht, dass du total überrascht bist, wenn du sie kennenlernst. Ich wollte dich vorbereiten.«
»Es tut mir so leid. Man merkt, dass er dir sehr viel bedeutet, dass deine ganze Familie dir viel bedeutet. Ich hätte mir das Herumsticheln verkneifen sollen.«
Er verzog schmerzlich das Gesicht, als er den Arm zurückzog, den er ihr um die Schultern gelegt hatte.
Sie erhob sich vom Baumstamm. »Sind es die Rippen? Habe ich dir wehgetan?« Sie streckte die Hand aus, um seine Jacke beiseitezuschieben, damit sie sehen konnte, ob er wieder blutete.
Er griff nach ihrer Hand und stand ebenfalls auf. »Meinen Rippen geht es gut.«
»Aber warum …«
»Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht, meine Familie und ich stehen uns sehr nah.«
Sie ahnte bereits, dass es ihr nicht gefallen würde, was er ihr zu sagen hatte. »Bei mir ist es genauso. Oder zumindest stehen mein Bruder und ich uns nah. Mit meiner Mutter ist es eine andere Geschichte«, scherzte sie in dem Versuch, ihm ein Lächeln zu entlocken. Doch er sah sie nicht einmal an.
Kein gutes Zeichen.
Sie schlang sich die Arme um den Körper, sie spürte die Kälte jetzt viel deutlicher, da sie nicht mehr an seinen warmen Körper geschmiegt dasaß. »Sprich weiter«, drängte sie ihn, »sonst verwandle ich mich hier draußen noch in ein Eis am Stiel.«
»Hör auf zu scherzen«, sagte er. »Ich muss dir was sagen.«
Sie machte keine Scherze. Ihr war wirklich kalt. Doch nach seinen düster zusammengezogenen Augenbrauen zu urteilen, interessierte er sich gerade nicht dafür. Geduldig beobachtete sie ihn.
»Braedon war deshalb so aufgebracht über die Schießerei, weil wir keine Geheimnisse voreinander haben«, sagte er, und sein Körper versteifte sich, als würde er mit Empörung rechnen.
War ihr irgendetwas Wichtiges entgangen? »Keine Geheimnisse. Okay, ich hab’s verstanden. Was willst du mir damit sagen?«
Er seufzte schwer. »Vielleicht erinnerst du dich daran, wie wir damals meine Familie besuchen wollten, damals, als wir noch zusammen waren? Wir wollten zusammen nach Savannah fahren, aber dann kam mir etwas auf der Arbeit dazwischen, und wir mussten das Treffen absagen.«
Es war das Wochenende gewesen, bevor sie ihn verlassen hatte. Sie erinnerte sich lebhaft daran, denn damals war ihr auch klar geworden, wie ernst es ihm war. Sie wusste, dass er nicht der Typ war, der einfach so jemanden dazu einlud, seine Familie kennenzulernen – in der Hinsicht waren sie sich ähnlich.
»Ich erinnere mich daran«, sagte sie ruhig.
»Das war das Wochenende, bevor …«
»Ich weiß.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Stelle, wo die Bäume sich lichteten. Je länger die Unterhaltung sich hinzog, desto unbehaglicher war ihr zumute. Und das lag nicht nur an der Kälte.
»Ein paar Wochen später bin ich allein nach Savannah gefahren.«
Als sie begriff, was das bedeutete, tat ihr Magen vor Schreck einen Sprung. »Soll das heißen, sie wissen von uns? Wissen … wie es zwischen uns geendet hat?«
Er nickte. »Keine Geheimnisse.« Sein Gesichtsausdruck wurde wachsam, als fürchte er eine Explosion.
Dieses eine Mal wünschte sie, ihr berüchtigtes Temperament würde ihr zu Hilfe kommen. Aber ihr war gar nicht danach, in die Luft zu gehen. Lieber hätte sie sich irgendwo verkrochen und ganz klein gemacht. »Deine Familie muss mich hassen«, flüsterte sie.
Er drückte sanft ihre Hand. »Sie hassen dich nicht. Das werde ich nicht zulassen.« Seine Augenbrauen zogen sich zu einer strengen Linie zusammen. »Andererseits wäre es vielleicht ganz gut, wenn sie das täten. Dann würden sie dich wenigstens in Ruhe lassen.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie, von seinem Tonfall alarmiert.
»Du bist einfach viel zu schön. Sobald sie sich davon überzeugt haben, dass zwischen uns nichts mehr läuft, werden sie dich als Freiwild betrachten. Nun ja, zumindest Braedon und Devlin werden das tun. Du bist genau ihr Typ, und sie sind unverbesserliche Schürzenjäger. Ich hätte dir das eher sagen sollen, bevor wir hier rausgefahren sind. Du musst ihnen nicht gegenübertreten. Ich kann dich auch einfach nach Hause fahren und Casey oder einen anderen Agenten bitten, dich ein paar Stunden im Auge zu behalten, während ich das Familientreffen hinter mich bringe.«
Sie war immer noch so sehr damit beschäftigt, seine Bemerkung zu verdauen, dass zwischen ihnen nichts mehr lief, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich auf seine übrigen Worte zu konzentrieren. Irgendetwas von einem Familientreffen, das er hinter sich bringen musste? Das nahm sie ihm nicht ab. Er wollte gern hingehen, seine Brüder treffen, Austin sehen. Und jetzt waren sie ohnehin schon hier. Sie wollte nicht, dass er das Abendessen verpasste oder seinen Besuch wegen ihr verschob.
Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass zwischen ihnen ohnehin nichts mehr lief.
Sie blinzelte die unterdrückten Tränen weg. Nachdem sie ihn so schlecht behandelt hatte, verdiente sie es, sich elend zu fühlen. Den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, das Grundstück zu verlassen, ohne seiner Familie unter die Augen treten zu müssen – das war ein sehr verführerischer Gedanke. Aber es war nicht fair gegenüber Pierce. Er wünschte sich, dass sie ihn zu seiner Familie begleitete, und deshalb würde sie ihn nicht im Stich lassen. Nicht jetzt, da er sie brauchte. Sie würde dieses Opfer als ihre wohlverdiente Strafe betrachten.
»Dann los«, sagte sie. »Lass uns ins Haus gehen. Ich bin gespannt darauf, deine Familie kennenzulernen. Wenn sie auch nur das Geringste mit Braedon und Matt gemeinsam haben, dann ist es mir eine Ehre, sie kennenzulernen. Und falls sie gemein zu mir sind, zahle ich es ihnen mit gleicher Münze zurück. Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Seine Anspannung ließ ein wenig nach, und in seine Augen trat Erleichterung.
»In Ordnung. Tapferes Mädchen. Gehen wir.«
Dieses Mal schlug er ein langsameres Tempo an und passte seine Schritte ihren an, während sie hinüber zum Haus gingen. Als sie vor der Haustür standen, beugte er sich zu ihr hinunter. »Keine Angst, meine Schöne«, flüsterte er. »Bringen wir es hinter uns. Ich habe das Gefühl, heute Abend werde ich ein paar Köpfe zurechtrücken müssen, um meinen Brüdern Manieren beizubringen.«
Das Kompliment ließ sie überrascht blinzeln und sie blickte zu ihm auf und fragte sich, ob er überhaupt bemerkt hatte, wie sanft seine Stimme bei diesen Worten geklungen hatte. Machte er sich vielleicht doch noch etwas aus ihr, obwohl er gesagt hatte, dass zwischen ihnen nichts mehr lief?
Er öffnete die Tür, und widerstrebend wandte sie den Blick von ihm, um sich auf den bevorstehenden Spießrutenlauf zu konzentrieren. Das leise Raunen einer Unterhaltung verstummte, als sich die fünf Augenpaare der restlichen, auf mehreren Sofas im Wohnzimmer verteilten Familienmitglieder auf sie richteten. Instinktiv drängte sie sich Schutz suchend an Pierce. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an seine Seite.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er leise und nur an sie gerichtet. »Sie werden entzückt von dir sein.« Er nahm ihre Hand und zog sie in das riesige Zimmer, das Ähnlichkeit mit einer Jagdhütte hatte. An der gegenüberliegenden Wand gab es einen großen Kamin, in dem ein lebhaftes Feuer prasselte. An den Wänden, die in einem dunklen Braunton gestrichen waren, hingen Landschaftsgemälde. Eine Wand voller Familienfotos bildete die Ausnahme.
Er zog sie zu einem der drei großen, braunen Ledersofas, die in der Mitte des Raums standen. Auf der ersten Couch hatten es sich drei Männer bequem gemacht, auf dem Sofa gegenüber saß ein vierter, und zwischen den beiden Sofas sah sie einen jungen Mann in einem Rollstuhl zwischen.
»Madison, darf ich vorstellen? Das hier ist Alex, einer der besten Rechtsanwälte, die jemals in Georgia praktiziert haben.« Er deutete mit der Hand auf den Mann, der ihnen am nächsten saß.
Alex hatte kohlschwarzes, leicht grau meliertes Haar und leuchtend blaue Augen, die trotz seines Lächelns auffallend traurig wirkten. »Ich bin mir sicher, dass Madison sich für meinen Status als Rechtsanwalt im Teilzeitruhestand nicht besonders interessiert«, meinte er. »Im Übrigen kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemals einen Rechtsanwalt nötig haben wird.« Er schüttelte ihr fest die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen, Madison.«
»Mich freut es ebenfalls.« Bei seiner Bemerkung, dass sie bestimmt keinen Anwalt nötig hatte, wurde ihr leicht übel. Der Gedanke an ihre letzte Nacht mit Damon, ihren Streit und das, was sie danach getan hatte, stieg in ihr hoch. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht ihre Hand wegzuziehen und die Flucht zu ergreifen.
»Braedon kennst du ja schon«, fuhr Pierce fort. Zum Glück schien er nichts von ihrem Unbehagen zu bemerken. »Und natürlich seinen ständigen Begleiter Matt.«
Sie nickte und schüttelte den beiden die Hand, als sie aufstanden.
Pierce drehte sich zu dem einzelnen Mann, der auf der Couch gegenüber saß. »Und das hier ist Devlin, vor dem muss man sich in Acht nehmen. Bleib besser weg von ihm.« Pierce warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu.
Devlin grinste und nahm Madisons Hände in die seinen, als er aufstand, wobei er sie um einiges überragte. Er war der größte unter den Brüdern, sogar größer als Pierce, und Madison musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die dunklen Augen sehen zu können.
»Warum setzen Sie sich nicht zu mir, Prachtweib?« Er zog sie in Richtung Couch.
Pierce zog Devlins Hände von Madison weg und schob ihn zurück zu seinem Sofa.
Madison schnappte schockiert nach Luft, aber Devlin lachte nur.
Das leise Summen des Rollstuhls bewirkte, dass sich alle Augenpaare auf den letzten Bewohner des Hauses richteten, als er auf einen Knopf drückte und den Rollstuhl vor Madison zum Stehen brachte. Als sie zu ihm hinunter sah und ihm die Hand entgegenstreckte, blieb ihr vor Überraschung der Mund offen stehen, und sie warf Matt einen kurzen Blick zu.
Matt seufzte, als müsste er die gesamte Last der Menschheit auf seinen Schultern tragen. »Zwillinge«, sagte er und bestätigte mit seinen Worten, was ihr soeben klar geworden war. »Ich bin der Ältere, der, der die Verantwortung trägt. Austin ist das Baby der Familie.«
»Fünf Minuten machen aus mir kein Baby. Nur zum Familiendeppen.«
»Austin, pass auf, was du sagst.« Alex’ tiefe Stimme füllte das Zimmer, auch wenn er sehr leise gesprochen hatte.
Austin verdrehte die Augen. »Ich bin einundzwanzig, und er behandelt mich immer noch wie einen Zweijährigen.«
»Glaub mir, ich kenne dieses Gefühl«, sagte Madison. »Mein Bruder nennt mich ›Quälgeist‹ und glaubt immer noch, ich bräuchte einen Babysitter.« Demonstrativ sah sie zu Pierce hinüber.
Auf Austins jungenhaftem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, als er ihre Hand schüttelte. »Es tut mir leid, falls ich Sie mit meiner Ausdrucksweise gekränkt haben sollte.« Trotz seiner Worte sah er kein bisschen zerknirscht aus. Er ließ ihre Hand nur zögernd los und drückte sie herzlich, bevor er sie freigab.
Braedon klatschte in die Hände und rieb sie sich dann. »Es wurde auch Zeit, dass ihr beiden endlich kommt. Ich bin am Verhungern.« Devlin und Matt erhoben sich ebenfalls, und alle drei gingen durch die gläserne Schiebetür nach draußen auf die hintere Veranda.
»Pierce, warum kümmerst du dich nicht um das Eis für die Drinks?«, sagte Alex. »Austin, du kannst ihm helfen. Ich werde die junge Dame nach draußen begleiten.«
Pierce wirkte nicht besonders glücklich über Alex’ Vorschlag, doch er nickte kurz und ging, dicht gefolgt von Austin, in den vorderen Teil des Hauses.
»Madison?« Alex bot ihr seinen Arm an. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
Trotz der unguten Vorahnung, die sie durchzuckte, nahm Madison seinen Arm und ging mit ihm zusammen durch die Glastüren auf eine weitläufige Veranda, die sich über den hinteren Teil des Hauses erstreckte. Die Brüder standen rechts von ihnen, holten Steaks aus einer Kühltasche und legten sie auf zwei bereits rauchende Grills. Devlin bemerkte sie und schenkte ihr ein breites Lächeln, ehe Matt ihm den Ellenbogen in die Seite stieß und damit seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Machen Sie sich nichts daraus.« Alex führte sie zum Geländer, sodass sie mehrere Meter entfernt von den anderen standen.
»Das stört mich kein bisschen.« Sie setzte sich neben ihn. »Ich finde sie sehr nett.«
Er nickte. »Es sind gute Jungs.«
»Jungs?« Sie sah hinüber zum Grill, wo sich die drei Brüder über die beste Platzierung des Grillfleisches stritten. »Braedon ist wie alt, achtunddreißig, vierzig?«
»Neununddreißig. Matt ist einundzwanzig, logischerweise genauso alt wie Austin. Devlin ist frühreife dreißig. Aber es ist nicht das Alter, das definiert, wie reif jemand ist. Es ist das Verhalten. Glauben Sie mir, sie alle verhalten sich wie testosterongesteuerte Collegejungs. Na ja, alle außer Matt vermutlich. Er ist immer sehr ernst.« Sein Lächeln wurde schwächer. »Und Pierce. Er hat ebenfalls ein ernsthaftes Naturell, inzwischen sogar noch mehr als zuvor. Vor ein paar Monaten ist etwas passiert, das ihn verändert hat.« Seine eisblauen Augen musterten sie durchdringend.
Das war es also, worüber er mit ihr sprechen wollte. Er betrachtete sie offenbar als Bedrohung.
Sie schluckte und ballte die Fäuste, sodass sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen bohrten. Dann wandte sie den Blick ab und sah über die Felder mit winterbraunem Gras und Eichenbaumwäldchen, die vereinzelt das Land sprenkelten. »Es ist schön hier. Pierce hat mir gesagt, dass das Haus Ihnen gehört.«
Sie hörte ihn seufzen und sah aus dem Augenwinkel, dass er ebenfalls über die Felder schaute.
»Das ist der Familienstützpunkt. Das Haus gehört uns allen. Ich lebe hier seit … oh, mittlerweile sind es wohl mehr oder weniger fünfundzwanzig Jahre. Ein Großteil der Zeit ist schnell vergangen, aber es gab auch Zeiten, da hat es sich nicht so angefühlt. Pierce sagte, Sie sind aus New York?«
»Eigentlich stamme ich aus dem Pfannenstiel von Florida. Doch als meine Familie nach New York zog, habe ich mich in die Stadt verliebt.«
»Und dennoch sind Sie nach Savannah gezogen. Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
Sie sah sich um und fragte sich, warum Pierce so lange brauchte. »Mein Bruder glaubte, dass mir die Stadt gefallen würde. Er war der Grund, warum ich mir hier ein Haus gekauft habe.«
»Was ist das für ein Haus?«
»Ein altes Haus im Kolonialstil, an der East Gaston Street.«
»Das ist eine schöne Wohngegend. Welcher Platz ist dort in der Nähe?«
Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie dieser Mann im Gericht einem Zeugen die Daumenschrauben anlegte. Er war gut darin, Leute auszufragen. »Der nächstgelegene Platz ist Calhoun. Ich wohne weniger als einen Häuserblock vom Forsyth Park entfernt, zwischen Drayton und Abercorn.«
»Dann leben Sie nicht weit entfernt von der schönen Brunnenanlage am Ende des Parks. Ich bin sehr gern dort herumgestreift, wenn ich mir mal eine Auszeit von der Arbeit am Gericht nehmen konnte. Daher kenne ich übrigens auch Lieutenant Hamilton – aus dem Gericht. Wir treffen uns dort oft als Gegner, aber außerhalb des Gerichts sind wir immer gute Freunde gewesen.«
Sie umklammerte das Geländer und wartete auf die nächste Frage.
»Ich weiß von der Schießerei. Wir alle wissen davon. Ich kenne auch noch ein paar weitere Einzelheiten, von denen die anderen nichts ahnen.«
Sie erstarrte und wandte sich zu ihm um. »Welche Einzelheiten?«
»Alles.«
Sie sah zurück zum Haus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hamilton hat Ihnen gesagt, dass er mich für ein hysterisches Weibsbild hält, das Drohbriefe erfindet und glaubt, dass es sich bei ihrem Stalker um ihren toten Ehemann handelt. Lassen Sie mich raten. Sie glauben, dass er recht hat.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das war auch nicht notwendig.«
»Ich glaube, dass Sie von einem Geist aus Ihrer Vergangenheit heimsucht werden. Ob es sich bei diesem Geist um Ihren toten Mann handelt oder um etwas, dass Sie selbst auf dem Gewissen haben, wird sich noch herausstellen.«
Der drohende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Warum sagen Sie mir nicht einfach direkt, was Sie von mir wollen? Soll das eine Warnung sein, Sir?«
»Das kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob Sie Pierce noch einmal wehtun.«