21

Als er Madison bei seinen Brüdern abgesetzt hatte, hatte Pierce sich wieder beruhigt und fühlte sich tatsächlich ein bisschen wie der Arsch, als den Madison ihn beschimpft hatte. Sie hatte sich wieder und wieder dafür entschuldigt, dass sie ihn mit Damon verglichen hatte und beteuert, dass es nicht so gemeint gewesen war.

Doch er hatte sie nicht beachtet, er hatte ihr wehtun wollen, genauso, wie sie ihm wehgetan hatte. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, in Ruhe darüber nachzudenken, wurde ihm klar, dass sie höchstwahrscheinlich die Wahrheit gesagt hatte – sie hatte wirklich Angst vor ihren eigenen Gefühlen, nicht vor ihm, und sie hatte auch nicht gesagt, dass sie glaubte, dass er sich als zweiter Damon entpuppen würde.

Dennoch hatte er sie mit Missachtung gestraft. Er hatte sie einfach verletzen wollen, Gleiches mit Gleichem vergelten. Er hatte gewusst, dass Schweigen das war, was sie am wenigsten ertragen konnte. Wie es vorherzusehen war, hatte sie immer mehr geredet, je hartnäckiger er sie ignorierte.

Und sie war immer wütender geworden.

Als er den kleinen Hitzkopf abgeliefert hatte, war Braedon angesichts ihrer Beschimpfungen rot geworden.

Dass sein Bruder überhaupt imstande war, rot zu werden, hätte Pierce nicht für möglich gehalten.

Auf dem Weg zu der Pension bog er in eine Straße im historischen Altstadtkern ein. Madisons abschließender Kommentar klang ihm noch in den Ohren. Sie hatte ihm hinterhergeschrien, er solle ihr ihre Make-up-Utensilien aus der Pension mitbringen. Gott allein wusste, warum er ihr diesen Gefallen tat. Sicher nicht, weil er ihre Gesellschaft so angenehm fand. Nicht, wenn sie wie ein Fischweib herumbrüllte.

Als er an der Ampel hielt, klingelte sein Telefon. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass es Casey war, und eine düstere Vorahnung beschlich ihn.

»Bitte sag mir, dass du dieses Mal gute Neuigkeiten hast«, sagte Pierce, als er den Anruf entgegennahm.

»Tut mir echt leid. Wie ich bereits sagte, was Hamilton angeht, hast du in ein Wespennest gestochen. Er ist total aufgebracht. Er hat einen Richter dazu gebracht, ihm einen umfassenden Durchsuchungsbefehl auszustellen. Seine Männer stellen gerade Madisons Haus auf den Kopf. Dieses Mal beschränken sie sich nicht auf Computer und Drucker.«

»Tu mir einen Gefallen. Ruf Alex für mich an. Ich glaube, Madison braucht jetzt dringend einen Anwalt.«

»Schon geschehen. Er ist mit Austin zum Arzt gefahren und wird erst in ein paar Stunden zurück sein.«

»Ich danke dir.« Pierce klappte das Telefon zu und trat das Gaspedal durch, um schnell zurück zur East Gaston Street zu fahren.

Auf Madisons Grundstück parkten mehrere Streifenwagen und Fahrzeuge der Gerichtsmedizin.

Pierce riss die Autotür auf und ging durch die offene Vordertür ins Haus. In der Eingangshalle stellte sich ihm ein Polizist mit einem Klemmbrett in den Weg.

»Ihren Dienstausweis, bitte«, sagte er.

»Ich bin Pierce Buchanan vom FBI«, sagte Pierce und zeigte ihm seine Dienstmarke.

»Tut mir leid, Sir. Der Tatort ist abgesperrt. Nur die Leute vom Savannah-Chatham Metro Department haben derzeit Zutritt zum Haus.«

»Ist schon in Ordnung, Officer.« Lieutenant Hamilton trat zu ihnen. »Aber wenn Sie sich noch mal so eine Nummer wie auf dem Revier erlauben, lasse ich Sie in Handschellen abführen.«

Pierce nickte und streckte ihm die Hand hin. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Wenn es um Mrs McKinley geht, vergesse ich allzu schnell meine Manieren.«

Hamilton schüttelte seine Hand und nickte steif. »Ich nehme an, dass Sie den Durchsuchungsbefehl sehen wollen? Ist Mrs McKinley bei Ihnen?«

»Nein.«

»Wo ist sie?«

»Der Durchsuchungsbefehl?« Pierce streckte auffordernd die Hand aus.

Hamilton zog ihn aus der Jackentasche und gab ihn Pierce.

Pierce las ihn stirnrunzelnd durch. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?«

Hamilton bedeutete ihm, ihm ins Arbeitszimmer zu folgen, und führte ihn zum Fenster, damit sie den Männern von der Spurensicherung nicht im Weg standen, die gerade alles auf den Kopf stellten. »Es gibt ein paar neue Entwicklungen. Erinnern sie sich an den Drucker, den wir sichergestellt haben?«

»Natürlich.«

»Offenbar handelt es sich um dasselbe Gerät, mit dem die vermeintlichen Drohbriefe ausgedruckt wurden. Die Briefe des angeblichen Stalkers.«

Pierce’ Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. »Dieselbe Marke?«

»Dasselbe Gerät. Die Kriminaltechniker haben mir erklärt, dass es so etwas wie Metadaten gibt, mit deren Hilfe das Gerät identifiziert werden kann, mit dem ein Brief ausgedruckt wurde. Mrs McKinleys Drucker ist ein Volltreffer. Und das ist noch nicht alles.«

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass sie keinen Grund hatte, diese Nachrichten zu erfinden. Der Entführer muss Zugang zu ihrem Haus gehabt haben und die Botschaften ausgedruckt haben.«

»Warum sollte sich jemand Zugang zum Haus verschaffen, nur um etwas auszudrucken? Das Risiko, geschnappt zu werden, ist viel zu groß.«

»Ich weiß auch noch nicht, was das zu bedeuten hat. Was haben Sie noch gefunden?«

»Den Kriminaltechnikern ist es gelungen, ein paar interessante Dateien wiederherzustellen, die sich auf Mrs McKinleys Festplatte befanden. Dateien, von denen sie geglaubt haben muss, dass sie gelöscht sind. Daher der Durchsuchungsbefehl. Offenbar hat Mrs McKinley im Internet nach Informationen über eine giftige Substanz mit dem Namen Maxiodaron recherchiert. Sie hat außerdem recherchiert, wie und ob dieser Wirkstoff einen Herzinfarkt hervorrufen kann. Außerdem hatte sie mehrere Dateien abgespeichert, die sich mit diesem Thema befassen. Wir haben ihre Vergangenheit überprüft und, siehe da, ihr Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Derselbe Vater, der ihr mehrere Millionen Dollar hinterlassen hat. Ich habe außerdem die Erlaubnis erhalten, ihren Vater zu exhumieren, damit überprüft werden kann, ob er wirklich an einem Herzinfarkt gestorben ist. Seine Leiche ist bereits auf dem Weg in das Büro des Chefpathologen der New Yorker Gerichtsmedizin.«

Das Büro des New Yorker Chefpathologen! Pierce’ Unbehagen nahm zu. Das hier war schlimmer als alles, was er befürchtet hatte. »Ich kenne Mrs McKinley, und ich kenne Ihre Familie. Sie ist keine Mörderin. Und dass ihr Vater herzkrank war, ist kein Geheimnis.«

»Hören Sie, ich bin immer offen für überzeugende Argumente. Präsentieren Sie mir eine vernünftige Theorie, etwas, dem ich nachgehen kann. Wie lassen sich diese Dateien erklären? Und der Drucker? Die Leichen im Garten?«

Die berühmten Puzzleteilchen, von denen Logan immer sprach, fielen plötzlich an ihren Platz. »Ich weiß, dass es sich verrückt anhört, aber ich glaube, dass Damon versucht, seine frühere Frau zu belasten. Aus irgendeinem Grund will er sie ins Gefängnis bringen.«

»Warum sollte er das wollen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Na ja, ich fürchte, solange Sie das nicht wissen, muss ich mich an die mir vorliegenden Beweise halten. Zurzeit deutet alles darauf hin, dass die Frau, die sie unbedingt beschützen wollen, eine schwarze Witwe ist.«

»Wie? Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?«

»Sie recherchiert im Internet, wie man einen Herzinfarkt vortäuscht – und dann stirbt ihr Vater an einem Herzinfarkt und hinterlässt ihr Millionen. Ihr Ehemann kommt bei einem Autounfall ums Leben und sie erbt eine Million Dollar. Man muss nur eins und eins zusammenzählen.«

»Und wie passt der Stalker ins Bild? Wenn es sich bei dem Stalker nicht um Damon handelt, um wen dann?«

»Die einzigen Beweise dafür, dass sie von einem Stalker belästigt wurde, sind mit Mrs McKinleys Drucker ausgedruckt worden. Bei der Schießerei handelte es sich – zumindest in meinen Augen – um einen Akt der Selbstverteidigung, der nichts mit dem hier zu tun hat. Ich habe keine Beweise, die eine andere Theorie nahelegen.«

»Und die Entführung hat nie stattgefunden? Ist das wirklich Ihre Meinung?«

»Ich habe inzwischen die Laborergebnisse von Mrs McKinleys Bluttest erhalten. Dreimal dürfen Sie raten, ob wir in ihrem Blut Spuren von Chloroform gefunden haben.«

Pierce musterte ihn aus verengten Augen. »Es gibt andere Substanzen, die ebenfalls zur Bewusstlosigkeit führen können. Schnell wirkende Substanzen, die bei einem späteren Test im Blutkreislauf nicht mehr nachweisbar sind.«

»Da haben Sie recht«, stimmte ihm Hamilton zu. »Aber wir alle kennen die Fotos aus dem Motel. Mrs McKinley hatte eine Affäre, höchstwahrscheinlich mit einem verheirateten Mann, der verhindern wollte, dass jemand von der Liaison erfährt. Also musste sie sich nach ihrer Rückkehr eine Lügengeschichte ausdenken, um der Polizei die Identität ihres Liebhabers nicht preisgeben zu müssen.«

Pierce schloss die Augen und atmete tief durch, ehe er sie wieder öffnete. »Für all das könnte es eine einfache Erklärung eben. Deshalb muss Mrs McKinley noch lange kein Verbrechen begangen haben.«

Hamilton zuckte mit den Achseln. »So ist das eben mit Indizienbeweisen. Für sich genommen findet sich für jedes Indiz eine logische Erklärung. Aber wenn man sie alle zusammennimmt, dann ergeben sie ein bestimmtes Bild, das nur eine logische Schlussfolgerung zulässt: Mrs McKinley hat die Polizei die ganze Zeit belogen und könnte durchaus sowohl ihren Vater als auch ihren Ehemann ermordet haben. Und sobald ich den Bericht zu dem Leichenfund in ihrem Garten habe, kommen noch zwei Morde zur Anklage hinzu.«

»Anklage? Sie wollen sie also wirklich festnehmen?«

»Noch nicht, ich brauche erst noch ein paar handfeste Beweise, um meine Theorie zu untermauern. Ich bin ein vernünftiger Mann, Special Agent Buchanan.«

Da Pierce wusste, dass Madison niemanden umgebracht hatte, entspannte er sich wieder, wenn auch nur ein bisschen.

Ein Mann von der Spurensicherung betrat das Zimmer und hielt eine durchsichtige Plastiktüte hoch. »Lieutenant.«

Hamilton winkte ihn zu sich, und noch ehe der Polizist Hamilton die Tüte gezeigt hatte, wusste Pierce, dass sie jetzt wirklich in Schwierigkeiten steckten.

Hamilton las den Aufkleber des Pillendöschens, das in der Plastiktüte steckte. »Maxiodaron, dieselbe Substanz, über die sich Mrs McKinley im Internet informiert hat. Die Substanz, mit deren Hilfe man einen Herzinfarkt vortäuschen kann.« Er gab dem Techniker die Tüte zurück.

»Wo ist Mrs McKinley?«

Madison drückte die Handflächen auf die Glasplatte, während der Scanner ihre Fingerabdrücke einlas. »Hey, immerhin bekomme ich auf diese Weise keine tintenverschmierten Finger.«

Die Polizistin, die ihre Fingerabdrücke nahm, verzog nicht einmal das Gesicht.

Madison holte tief Luft und versuchte, ruhig zu werden, obwohl sie vollkommen aufgewühlt war. Innerlich zitterte sie so sehr, dass ihre Zähne eigentlich hätten aufeinanderschlagen müssen.

Abgesehen von dem Tag, an dem ihr Vater gestorben war, war das hier der schlimmste Tag ihres Lebens. Und so wie sich die Dinge entwickelten, fürchtete sie, dass die kommenden Tage diesen noch übertreffen würden.

»Stellen Sie sich bitte hierhin. Drehen Sie das Gesicht zur Kamera. Nicht lächeln.«

Lächeln wäre Madison auch gar nicht in den Sinn gekommen – nicht, wenn man sie festnahm und ihr einen Mord zur Last legte.

Die Beamtin betätigte den Auslöser der Kamera. »Drehen Sie sich bitte nach rechts.« Klick. »Und jetzt nach links.« Klick.

»Folgen Sie mir bitte.«

Madison schluckte schwer und folgte der Polizeibeamtin durch einen schmalen Gang. Die Frau blieb vor einer Tür mit einem dicken Glaseinsatz stehen und zog ihre Karte durch den Kartenleser. Mit einem Summen öffnete sich die Tür.

»Bitte treten Sie ein.«

Madisons Herz schlug so schnell, dass ihr schwindelig wurde. Sie trat in die winzige Zelle und schrak zusammen, als sich die Tür summend hinter ihr schloss. Allein gelassen in der ein Meter achtzig mal zwei Meter vierzig großen Zelle setzte sie sich vorsichtig mit angezogenen Beinen auf die schmale, an der Wand befestigten Pritsche.

Noch immer hatte sie nicht mit Pierce gesprochen und wusste auch nicht, ob er von ihrer Festnahme erfahren hatte. Eine Stunde, nachdem er sie in der Obhut seiner Brüder zurückgelassen hatte, waren zwei Streifenwagen mit Blaulicht in der Einfahrt aufgetaucht. Sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, jemanden anzurufen.

Sie saß in der Falle. Die Wände schienen auf sie zuzukommen, und Panik erfasste sie. Eingeschlossen zu sein, ohne Fenster, ohne jede Fluchtmöglichkeit, erinnerte sie an ihre Entführung.

Sie schloss die Augen und versuchte, die Welt um sich herum auszublenden. Vor ihrem inneren Auge beschwor sie das Bild von Pierce: gutaussehend und lächelnd in dem grauen, italienischem Anzug, den sie am liebsten an ihm mochte – so hatte er bei ihrem ersten Date ausgesehen. Bevor sie ihn so sehr verletzt hatte, dass er ihre Gegenwart nicht mehr länger ertragen konnte und sie bei Alex und seinen Brüdern zurückgelassen hatte.

Das Geräusch des Türsummers ließ Madison zusammenzucken. Sie sah zu, wie die Tür sich öffnete.

Pierce.

Sie sprang auf und warf sich in seine Arme. Er fing sie auf und drückte sie an seine Brust.

»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Sie drückte sich fest an ihn, als ihr die angeknacksten Rippen wieder einfielen und sie sich widerwillig zurückzog. »Tut mir leid. Habe ich dir wehgetan?«

Er verstärkte seine Umarmung, zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Alles in Ordnung.« Er drehte sie herum, sodass sie neben ihm stand. Erst in diesem Moment registrierte sie, dass er nicht allein gekommen war.

Alex Buchanan.

Sein Gesichtsausdruck war wesentlich ernster und grimmiger als an jenem Tag auf der Hinterveranda, als sie ihn das erste Mal getroffen hatte und er ihr gedroht hatte.

»Warum hast du ihn mitgebracht?«, fragte sie.

»Pierce«, sagte Alex und deutete auf Madison, »gib Mrs McKinley einen Dollar.«

Pierce holte einen Dollar aus seiner Brieftasche und reichte ihn Madison.

Mit einem verwirrten Blinzeln betrachtete sie den Geldschein in ihrer Hand. »Was soll ich damit?«

Alex streckte die Hand aus. »Geben Sie ihn mir.«

Sie runzelte zwar fragend die Augenbrauen, gab ihm jedoch den Geldschein.

Er schob ihn in seine Hosentasche. »Glückwunsch. Sie haben soeben einen Anwalt engagiert.«

»Sie? Warum sollten Sie mir helfen? Sie mögen mich ja nicht einmal.«

»Madison …«, begann Pierce.

Aber Alex hob abwehrend die Hand. »Das ist eine berechtigte Frage.« Er ließ die Hand sinken. »Auch wenn ich Ihnen nicht traue, Pierce tut es. Er hält sie für unschuldig, und er möchte, dass ich Ihnen helfe. Das reicht mir als Begründung.«

»Glauben Sie denn, dass Sie mir helfen können?«

»Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Darauf, ob Sie mir die Wahrheit sagen.« Er drehte sich um und trat in den Flur.

»Gehen wir.« Pierce schob sie sanft Richtung Tür.

»Dann kann ich jetzt gehen?«

»Wir gehen nur zum Konferenzraum. Ob du hier rauskommst, hängt von deinen Antworten ab und davon, wie viele Beziehungen wir spielen lassen müssen.«

»Wir?«

»Alex, Casey und ich. Alex ist nicht der Einzige in der Stadt, der Einfluss hat. Casey hat ebenfalls Beziehungen, und mir schulden ebenfalls noch ein paar Leute einen Gefallen. Zusammengenommen haben wir genug in petto, um die halbe Richterschaft von Savannah unter Druck setzen zu können.«

»Wir brauchen Madisons Computer.« Pierce stützte sich mit den Unterarmen auf dem Konferenztisch ab. »Leider hat Hamilton ihn als Beweismittel beschlagnahmt. Laut Madison sind auf der Festplatte Dateien gespeichert, die sie vom Computer ihres Mannes kopiert hat. Die müssen wir uns ansehen. Und Casey hat ein paar gefälschte Verträge, die offenbar von Damon geschrieben worden sind. Die kann ich dir besorgen.«

Alex schüttelte den Kopf. »Das alles wird uns nichts nützen, es sei denn, Damon McKinley ist noch am Leben und tatsächlich in all diese Vorkommnisse verwickelt.«

»Er lebt, und ich bin mir sicher, dass er Anteil an diesem Schlamassel hat«, erwiderte Madison.

Alex antwortete nicht, sondern blätterte in dem Aktenordner, der auf dem Konferenztisch lag. »Die Frauenleiche, die in Ihrem Garten vergraben war, ist inzwischen identifiziert worden. Sie hieß Leslie O’Neil und kam aus New York. Kannten Sie sie?«

Pierce beobachtete aufmerksam, wie Madison auf diese Frage reagierte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, den Namen habe ich noch nie gehört.«

Sie schien die Wahrheit zu sagen. »Wie hat die Polizei herausgefunden, wer sie ist?«

»Sie hatte einen Herzschrittmacher, und die Polizei konnte die Seriennummer zuordnen. Miss O’Neil scheint geschieden gewesen zu sein und hatte offenbar den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen. Das ist auch der Grund, warum nie eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden ist.«

»Genau wie beim Gärtner«, bemerkte Pierce. »Hatte sie Geld?«

»Nein, obwohl ihr Kontostand eine Zeit lang recht passabel war. Sie war eine Karrierefrau. Zuerst hat sie im Informatikbereich angefangen, dann wurde sie Apothekerin. Wie ihr Exmann sagte, war sie gerade entlassen worden, als er sie das letzte Mal traf. Er nahm an, sie wäre wegen eines neuen Jobs weggezogen. Daher dachte er sich auch nichts dabei, als er ihr nie wieder über den Weg lief.«

»Was soll das heißen – ihr Kontostand war eine Zeit lang ganz passabel?«, fragte Madison.

»Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wurden in regelmäßigen Abständen hohe Geldbeträge von ihrem Konto abgehoben. Das begann etwa vor eineinhalb Jahren und hörte zum Zeitpunkt ihres Todes auf – ungefähr vor vier Monaten.«

Pierce sah zu Madison. »Das war die Zeit, als du dir das Haus gekauft hast.«

Sie nickte und runzelte verwirrt die Stirn. »Was soll das bedeuten?«

»Nach meiner Vermutung«, sagte Pierce, »hat sich Damon nach seinem Verschwinden an Miss O’Neil herangemacht, um eine Geldquelle zu haben. Es dauerte wahrscheinlich ein paar Monate, bis sie ihm so weit vertraute, um ihm Kontovollmacht zu geben. Und als der Geldfluss versiegte, war er wütend, dass du so viel Geld geerbt hattest, während er praktisch pleite war. Da Miss O’Neil nun keinen Nutzen mehr für ihn hatte, hat er sie beseitigt. Vermutlich hat er dich im Auge behalten, weil er gehofft hat, sich eines Tages sein Geld zurückholen zu können. Als du dir dann das Haus in Savannah gekauft hast, aber nicht dort eingezogen bist, ergriff er die Gelegenheit beim Schopf. Er zog dort ein, wahrscheinlich, um den Anschein zu erwecken, dass er zur Oberschicht Savannahs gehört, und um sich unauffällig unter die Reichen mischen zu können.«

Ihre Augen wurden groß. »Er hat nach einem neuen Opfer Ausschau gehalten? Nach jemandem, den er um sein Geld betrügen konnte?«

Pierce nickte. »Das wäre zumindest logisch.«

»Und als ich hergezogen bin, war er gezwungen, auszuziehen.«

»Richtig, und damit verlor er den Kontakt zur Oberschicht. Du hast seinen Plan durchkreuzt, schnell wieder zu Geld zu kommen. Wahrscheinlich dachte er, du würdest wieder aus Savannah verschwinden, wenn er dir das Leben schwer machte. Damit, dass du die auftauchenden Probleme zu lösen versuchst, hatte er nicht gerechnet. Wenn du weggezogen wärst, hätte er mit seinem ursprünglichen Plan weitermachen können: ein neues, reiches Opfer zu finden, das er hereinlegen konnte, und auf diese Weise seine finanziellen Probleme zu lösen.«

Bei seiner Bemerkung darüber, dass sie die Probleme angegangen war, statt fortzulaufen, zuckte Madison unwillkürlich zusammen. Pierce nahm ihre Hand und drückte sie, um sie zu beruhigen.

Alex blätterte eine Seite weiter. »Das klingt nach einer durchdachten Theorie, die es wert ist, weiterverfolgt zu werden. Was ich nicht verstehe, ist, warum Ihr Ehemann Sie nicht einfach tötete, um an Ihr Geld zu kommen, statt sich solche Mühe mit Ihrer Vertreibung zu machen.«

»Darauf habe ich keine Antwort.«

»Der Leichnam Ihres Vaters ist inzwischen von der Polizei exhumiert worden, und die Laborergebnisse müssten jederzeit eintreffen.«

Sie blinzelte und schlug die Hand vor den Mund. »Sie haben den Körper meines Vaters wieder ausgegraben?«, flüsterte sie entsetzt.

»Du hast ihr nichts gesagt?«, fragte Alex an Pierce gewandt.

»Dazu war noch keine Gelegenheit.« Pierce musterte sie forschend. Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen, und sie war totenbleich.

Er stand auf und ging neben ihr in die Hocke. Sanft strich er ihr eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Alles in Ordnung?«

Sie schloss erschöpft die Augen. »Das ist ein Albtraum.«

»Zusammen stehen wir das durch.« Er drückte noch einmal ihre Hand. »Ich werde nicht zulassen, dass sie dich für ein Verbrechen einsperren, das du nicht begangen hast. Okay?«

Sie nickte, doch er merkte, dass sie ihm nicht glaubte.

Sie zog die Hand weg. »Ich schaffe das schon. Bringen wir es hinter uns. Erzählen Sie mir alles, lassen Sie nichts aus.«

Pierce, der neben ihr saß, lehnte sich zurück und sah zu Alex, der ihnen gegenübersaß.

»Der Chefpathologe in New York ist dabei, sich den Fall Ihres Vaters noch einmal genauer anzuschauen«, sagte Alex. »Ihr Vater ist an Herzinsuffizienz gestorben. Er hat Digoxin eingenommen?«

»Ja.«

»Der Pathologe hat gesagt, dass das Krankenhaus-EKG ihres Vaters ein spezielles Muster aufweist, das als Spitzenumkehrtachykardie bezeichnet wird. Er sagte, dass ein solches Muster normalerweise dann zu sehen ist, wenn zusätzlich zu der eingestellten Medikation – in diesem Fall Digoxin – ein Wirkstoff verabreicht wird, der zusammen mit dem ursprünglichen Medikament eine ungünstige Kombinationswirkung hervorruft.«

Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Warten Sie … heißt das … soll das heißen, dass die Ärzte einen Fehler gemacht haben? Haben sie meinem Vater ein zusätzliches Medikament gegeben, das den Herzinfarkt ausgelöst hat?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich gebe nur wieder, was in dem Bericht steht. Der Pathologe geht noch einmal die Arztberichte durch und führt einige Tests an dem exhumierten Leichnam durch. Sobald er den Bericht fertiggestellt hat, wissen wir mehr.« Er blätterte weiter im Bericht. »So, und jetzt zum nächsten Punkt. Das Metro Police Department hat ein paar vernichtende Beweise gegen Sie, aber solange der Pathologe sagt, Ihr Vater wäre eines natürlichen Todes gestorben, haben Sie nichts zu befürchten. Zumindest nicht, was diese Anschuldigung angeht.«

Pierce studierte eingehend Madisons Reaktion, wobei er besonders ihre Körpersprache beobachtete. Von Erleichterung keine Spur. Eigentlich sah sie noch verängstigter aus als zuvor. Sie wirkte ganz und gar nicht wie eine Frau, der man soeben versichert hatte, der Bericht des Gerichtsmediziners würde sie von einem Mordverdacht befreien.

»Von welchen Indizienbeweisen sprechen Sie?«, flüsterte sie und starrte auf die Tischplatte.

»Es sieht so aus, als ob jemand ihren Computer benutzt hätte, um Recherchen über ein Medikament mit dem Namen Maxiodaron anzustellen, ein Derivat des Wirkstoffs …«, er warf einen kurzen Blick auf den Bericht, »Amiodarone.« Er sah sie an. »Ihr Haus ist heute durchsucht worden. Die Polizei hat ein Pillendöschen mit Maxiodaron gefunden. Der Pathologe ist zu dem Medikament befragt worden, und laut seiner Aussage kann der Wirkstoff zusammen mit Digoxin tatsächlich die Art Muster auf dem EKG ergeben, die er in den Aufzeichnungen gefunden hat. Außerdem kann es einen Herzinfarkt hervorrufen.« Er ließ den Bericht sinken. »Auf dem Döschen sind Ihre Fingerabdrücke sichergestellt worden.«

Pierce wartete darauf, dass Madison wütend wurde, aufsprang und beteuerte, dass es sich um untergeschobenes Beweismaterial handelte, doch sie sagte kein Wort. Stattdessen verkrampfte sie die Hände in ihrem Schoß und wich seinem Blick aus.

Was zur Hölle hatte das zu bedeuten?

»Falls Sie irgendeine Idee haben, wie die Computerrecherchen und ihre Fingerabdrücke auf dem Tablettendöschen zu erklären sind, wäre das hilfreich.« Alex nahm den Stift in die Hand und wartete.

Pierce beobachtete sie, und je länger sie schwieg, desto alarmierter wurde er. »Alex, würdest du uns eine Minute allein lassen?«, sagte er schließlich.

Alex warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn wir heute noch einen Richter erreichen wollen, haben wir nicht viel Zeit …«

»Nur fünf Minuten.«

»Also fünf Minuten. Aber nicht eine mehr.«

Alex stand auf und schloss die Tür hinter sich.

Schließlich hob Madison den Kopf. Pierce hörte nicht auf, sie zu beobachten, und wartete. Ihre Augen waren ausdruckslos und ihr Gesicht geisterhaft blass. »Ich war diejenige, die diese Internetrecherchen durchgeführt hat. Und die Fingerabdrücke auf dem Pillendöschen sind von mir.«