17

Um die Mittagszeit bestellte Braedon bei einem örtlichen Café Lunchpakete. Als alle Sandwiches heruntergeschlungen waren, gingen die Suchtrupps zurück an die Arbeit. Auch im Garten ging es voran, doch obwohl im Rekordtempo an dem Fundament gegraben wurde, fanden sie nichts Interessantes im Erdreich. Es gab absolut keinen Hinweis darauf, warum jemand so fest entschlossen gewesen war, die Renovierungsarbeiten aufzuhalten – falls die Ablenkungsmanöver tatsächlich dieses Ziel gehabt hatten.

Pierce kehrte gerade aus dem Garten von seinen Brüdern zurück, als Hamiltons Wagen in der Einfahrt auftauchte. Statt direkt ins Haus zu gehen, wartete Pierce, bis der Lieutenant ausgestiegen war.

»Haben Sie endlich ein paar Stunden Schlaf bekommen?«, fragte Pierce.

»Ja, und das war auch höchste Zeit«, sagte Hamilton. »Es ist schwer, sich den Respekt seiner Männer zu erhalten, wenn man vor Müdigkeit auf den Couchtisch sabbert.«

Pierce schlug ihm auf den Rücken. »Tessa ist zurück. Sie hat Neuigkeiten.«

»Jede Neuigkeit ist besser als das große Nichts, vor dem wir zurzeit stehen.«

Pierce war sich da nicht so sicher. Tessa hatte sich strikt geweigert, ihm die Informationen am Telefon zu geben, und sie hatte auch nicht so geklungen, als wäre sie besonders froh über das, was sie herausgefunden hatte. Sie hatte eher grimmig gewirkt.

Tessa, die auf der Couch saß, blickte sofort auf, als er hereinkam. »Das wird dir nicht gefallen.«

»Ich habe auch nicht angenommen, dass du gute Neuigkeiten mitbringst.« Pierce nahm auf dem anderen Sofa Platz, während Hamilton sich für einen der Stühle entschied.

Tessa legte eine Akte auf den Couchtisch. »Das hier können wir uns später genauer ansehen. Ich fasse das Wesentliche zusammen. Was das Motel betrifft – die Frau, die auf den Fotos zu sehen ist, handelt definitiv nicht unter Zwang. Ich kann keinerlei Anzeichen für Gewaltausübung erkennen, und ich habe drei Augenzeugen befragt, die beobachtet haben, wie die beiden das Motelzimmer betreten haben. Alle drei hielten die beiden für ein Liebespaar.«

Pierce fuhr sich frustriert mit den Händen über das Gesicht. »Und du glaubst, dass es sich bei der Frau um Madison handelt.«

Tessa nickte. »Die Fakten sprechen für sich. Nichts weist darauf hin, dass es sich nicht um sie handelt.«

»Dazu kommen wir später. Was hast du sonst noch?«

Sie schlug die Akte auf und breitete die Faxe und Computerausdrucke darin fächerartig vor ihnen aus. »Das hier ist das Dossier, das Casey …«, sie verstummte plötzlich und sah hinüber zu Hamilton, als wäre ihr erst in diesem Moment aufgefallen, dass sie sich verplappert hatte.

Er verdrehte die Augen. »Als wenn ich mir nicht schon gedacht hätte, dass Agent Matthews Ihnen beiden hilft. Ich bin mir aber sicher, dass er den ›Simon sagt‹-Fall trotzdem weiter verfolgt. Fahren Sie fort.« Sie nickte ihm dankbar zu. »Casey hat versucht, so viel wie möglich über Damon McKinley herauszufinden. Der Mann ist ein Heiliger. Er hat keine Vorstrafen, es gibt nicht einmal einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Er ist in Montana geboren und aufgewachsen und wurde in seiner Gemeinde allgemein respektiert. Das einzig Negative, das ich zu seiner Person finden konnte, ist, dass er eine Menge gesundheitliche Probleme hatte und niemanden wirklich nah an sich heranließ. Er war ein Einzelgänger, hatte keine Freunde, keine Familie. Niemand kannte ihn wirklich gut, aber er hat großzügig für lokale Wohltätigkeitsorganisationen gespendet und genießt in seiner Heimatgemeinde den Ruf eines Wohltäters.«

»Wie weit bist du zeitlich zurückgegangen?«, fragte Pierce.

»Bis zu seiner Geburt.«

Erneut stieg Unbehagen in Pierce auf. »Das entspricht nicht dem Bild, das Madison von ihm gezeichnet hat.«

»Er war ein Unternehmer, wie Madison gesagt hat. Er hat eine Menge verdient und etwa die Hälfte des erwirtschafteten Geldes gespendet.«

Pierce stand auf und lief hinter der Couch auf und ab. »Warum ist er dann nach New York gezogen, wenn er in seiner Heimatstadt so ein angesehener Heiliger war?«

»Das kann ich nicht beantworten. Meine Theorie ist, dass er sich gelangweilt und neue Herausforderungen gesucht hat; er wollte sich neue Investitionsmöglichkeiten erschließen, um sein Vermögen zu vergrößern. Es tut mir leid, Pierce, aber dieser Mann hört sich überhaupt nicht nach jemandem an, der seinen eigenen Tod vortäuschen und seine frühere Frau belästigen würde.«

Pierce blieb hinter ihr stehen. »Soll das heißen, dass du überhaupt nichts Negatives über ihn ausgraben konntest?«

»Bisher nicht.«

Die Haustür öffnete sich und Matt trat herein. Als er Tessa sah, runzelte er die Stirn und ging zum Sofa hinüber.

Tessa würdigte ihn demonstrativ keines Blickes. Sie sah zu Hamilton, der dem Gespräch fasziniert gelauscht hatte. »Wenigstens auf dem Papier war Damon McKinley ein vorbildlicher Staatsbürger, der keinen Vorteil daraus ziehen konnte, seinen eigenen Tod vorzutäuschen. Madison dagegen hatte viel zu gewinnen. Sie ist erst durch das Erbe ihres Vaters zu Geld gekommen. Ihr Ehemann hatte eine Million Dollar auf der Bank, als er starb, Geld, das Madison geerbt hat.«

Pierce sah von Tessa zu Hamilton. »Ihr beide seid also davon überzeugt, dass Damon ein guter Mensch ist.«

»Ich nicht.« Matt verschränkte die Arme vor der Brust und warf Tessa einen bösen Blick zu.

»Dass er ein guter Mensch war«, korrigierte sie, ohne Matt zu beachten. »Er ist tot.«

»Ich gehe schon davon aus, dass eine Frau ihren eigenen Ehemann erkennt«, sagte Pierce. »Und Madison hat gesagt, dass der Mann im Park ihr Ehemann war. Ich glaube ihr.«

»Am Anfang, als sie vermisst wurde, waren Sie sich da nicht so sicher«, meinte Hamilton.

»Inzwischen schon.«

»Warum? Was hat sich geändert?«

»Sie ist jetzt seit vierundzwanzig Stunden weg, das hat sich verändert. Sie hätte sich längst bei mir gemeldet, wenn ihr nichts zugestoßen wäre. Sie würde mich nicht wissentlich durch die Hölle gehen lassen.« Kaum, dass er die Worte ausgesprochen hatte, presste er die Lippen aufeinander. Angesichts von Tessas mitleidiger Miene wünschte er, er hätte nie um Hilfe gebeten.

»Welchen Grund könnte Damon haben, sie zu belästigen?« Tessas Stimme klang sanft und zögernd, als befürchtete sie, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand.

»Ich weiß es nicht, zumindest noch nicht. Ich möchte nur, dass ihr alle ein paar Dinge im Hinterkopf behaltet: Erstens, Madison ist genauso unschuldig und eine genauso vorbildliche Staatsbürgerin, wie Damon zu sein scheint. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie ein falsches Spiel spielt.« Bei diesen Worten blickte er Hamilton direkt in die Augen.

Hamilton nickte widerwillig. »Einverstanden.«

»Zweitens, lasst uns einmal davon ausgehen, dass Madison recht hat und es wirklich Damon ist, der hinter den Ereignissen steckt, seit sie nach Savannah gekommen ist. Es könnte durchaus sein, dass er ein Motiv verfolgt, das wir einfach noch nicht kennen. Dahinter steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Denkt an all die Widersprüche. Es gibt keine Fotos von Damon. Tessa, woher willst du ohne Fotos wissen, dass der Mann, über den du Nachforschungen angestellt hast, tatsächlich Damon ist?«

»Daran arbeite ich noch«, sagte Tessa.

»Du hast erwähnt, dass er unter gesundheitlichen Problemen litt«, sagte Pierce.

»Damon hatte mehrere medizinische Probleme. Nichts wirklich Ernstes, aber in einem Artikel aus der Zeitung seiner Heimatstadt steht, dass er regelmäßig zum Arzt ging und Medikamente einnehmen musste.«

»Das hat Madison nie erwähnt.«

Tessa sah ihn stirnrunzelnd an. »Wirklich nicht?«

»Nein. Hast du bei seinen New Yorker Ärzten Unterlagen zu seiner Krankheitsgeschichte gefunden?«

»Bisher noch nicht. Ich habe nichts, was einen Durchsuchungsbefehl rechtfertigt, also kann ich womöglich nicht mal nachweisen, wer ihn behandelt hat.«

»Könnte ich eine Kopie von der Akte haben?«, fragte Hamilton.

»Selbstverständlich.«

»Auf diese Weise finden wir Madison nie«, sagte Pierce. »Bist du sicher, dass du allen Hinweisen nachgegangen bist? Jemand muss doch gesehen haben, wie der Wagen vom Parkplatz gefahren ist. Welche Richtung hat er eingeschlagen?«

»Ich habe keine Ahnung. Bei der auffälligen Farbe ist es wirklich merkwürdig, dass ich niemanden finden konnte, der das Auto hat wegfahren sehen.«

»Und trotzdem haben mehrere Augenzeugen beobachtet, wie das Auto auf den Parkplatz fuhr, und sogar die Kamera hat die Ankunft festgehalten – praktischerweise mit guten Aufnahmen vom Autokennzeichen«, schaltete sich Matt ein.

Tessa sah ihn aus halb geschlossenen Augen an, als würde sie seine Anwesenheit nur gezwungenermaßen tolerieren, weil sie es musste. »Zugegeben, man könnte den Eindruck bekommen, jemand hätte es absichtlich so eingefädelt, dass es Augenzeugen für Madisons Ankunft im Motel gab.«

»Richtig«, unterbrach Pierce. »Und beim Verlassen des Motels ist der Wagen über eine unbekannte Route gefahren – vielleicht eine Seitengasse, um Augenzeugen und Kameras zu vermeiden.«

»Ein abgekartetes Spiel«, sagte Matt.

»Kommt mir auch so vor. Madison und ich waren die ganze Zeit zusammen. Sie hatte keine Gelegenheit dazu, ein heimliches Treffen in einem Motel zu vereinbaren. Und sie ist auch gar nicht der Typ für Heimlichkeiten. Wenn sie etwas tun will, dann tut sie es.«

»Da kann ich allerdings nur zustimmen«, sagte Hamilton. »Mrs McKinley ist wahrhaftig nicht der sanfte, zurückhaltende Typ.«

Pierce zog eine Augenbraue hoch. »Dann sind Sie jetzt auf meiner Seite?«

»Ich bin nie nicht auf Ihrer Seite gewesen. Ich bin nur an der Wahrheit interessiert.«

»Wie sieht unser nächster Schritt aus?«, fragte Tessa. »Wir haben keine heiße Spur.«

Alle blickten auf, als die Haustür laut zugeschlagen wurde.

Im Türrahmen stand Logan Richards. Von seinem normalerweise äußerst gepflegten Äußeren war kaum noch etwas zu sehen. Wie Pierce musste er sich dringend rasieren, und sein Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen. Kaum hatte er Pierce gesehen, ging er geradewegs auf ihn zu.

Pierce wollte gerade aufstehen, um ihn zu begrüßen, doch die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als er Logans grimmigen Blick sah.

»Ich hatte dich gebeten, auf meine Schwester aufzupassen.« Logans tiefe Stimme hallte durch das Zimmer. »Und jetzt wird sie vermisst!« Er versetzte Pierce einen Stoß, und dieser musste nach hinten ausweichen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. »Was zur Hölle hast du unternommen, um sie wiederzufinden?«

»Hey, warten Sie einen Moment.« Matt versuchte, sich zwischen sie zu drängen.

Ohne ihn weiter zu beachten, stieß Logan Matt beiseite, sodass dieser auf die Couch fiel.

»Das ist nicht nötig«, sagte Pierce zu Matt, als dieser mit geballten Fäusten aufsprang. »Logan ist zu Recht wütend auf mich. Ich hätte Madison beschützen müssen. Es ist meine Schuld, dass sie vermisst wird.«

»Da hast du verdammt recht«, sagte Logan.

Matt ignorierte Pierce’ Warnung und drängte sich wieder zwischen sie. »Wenn wir uns streiten, finden wir sie auch nicht schneller.«

Pierce erstarrte und blinzelte ungläubig, als er an Logan vorbeischaute. Logan drehte sich um. Wie vom Donner gerührt standen sie da, als sie sahen, wer im Türrahmen stand.

Madison.