Ein unerwartetes Geständnis
Gegen Mitternacht schloß Maria im „Anker“ die Lokaltür ab. Es war ungewöhnlich spät geworden. Die Skatbrüder hatten sich nicht eher vertreiben lassen.
Maria nahm die Stahlkassette aus der Schublade im Tresen, in dem sich die Tageseinnahme befand, und addierte die Rechnungsbelege der Getränke, die sie serviert, jedoch nicht in die Registrierkasse eingedrückt hatte.
Diesen Betrag entnahm sie der Kasse, wie sie es immer getan hatte, nachdem ihr Vater gestorben war, bis zu dem Zeitpunkt, als Gerd Siegmund den Ausschank und die Kasse übernahm, und wie sie es wieder tat, seitdem er im Krankenhaus lag.
Sie bestahl ihre Mutter. Und es bereitete ihr keine Gewissensbisse. Im Gegenteil. Maria freute sich über die heute besonders ergiebige Privateinnahme. Sobald sie genügend Geld beisammen hatte, würde sie den „Anker“ verlassen und irgendwo ein eigenes, selbständiges Leben beginnen.
Maria knipste das Licht aus und trug die Geldkassette zu ihrer Mutter in die Küche. „Ich dachte, sie würden nie gehen“, sagte sie. „Aber trotzdem — wir haben heute ein gutes Geschäft gehabt. Wollen wir noch die Kasse prüfen, oder verschieben wir es auf morgen früh?“
„Wie du willst“, erwiderte ihre Mutter und faltete die Zeitung zusammen, in der sie gelesen hatte. Sie war in der Küche geblieben, weil sie Maria mit den späten Gästen nicht allein lassen mochte. Gerd fehlt, dachte sie seufzend. Wenn eine Frau „Feierabend“ sagt, halten die Männer sich einfach nicht daran.
Maria band ihr weißes Servierschürzchen ab. „Eigentlich bin ich zu müde. Die Massage hat mich verdammt angestrengt. Aber ich muß noch fünf weitere nehmen, sonst zeigen sie keinen Erfolg, sagt die Masseuse. Die Kleine könnte mich wieder vertreten. Sie hat ihre Sache ganz gut gemacht, fandest du nicht?“
Frau Siegmund drehte sich zu Maria um. „Was ist das eigentlich für ein Mädchen? Wir wissen gar nichts über sie, nicht?“
Maria zuckte die Schultern. „Was interessiert sie uns. Hauptsache, sie spurt. Hat dieser Trampel, der sich gestern vorstellte, schon Bescheid gesagt, ob er bei uns anfangen will?“
„Bis jetzt noch nicht.“ Frau Siegmund kam zum Tisch, an dem Maria Platz genommen hatte, und stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. „Sandras Mutter hat gegen zehn hier angerufen. Sie war sehr besorgt und wollte wissen, warum ihre Tochter noch nicht zu Hause ist.“
„Was geht es uns an, wenn das Mädchen sich in der Stadt herumtreibt!“
„Ja, schon. Aber was anderes geht mir im Kopf herum. Sandra hat heute einen merkwürdigen Anruf gekriegt. Ich hab‚s zufällig mitbekommen, weil ich das Telefon klingeln hörte und hier den Hörer abnahm.“
„Die haben doch alle schon ihre Freunde. Was ist merkwürdig daran?“ sagte Maria spöttisch.
„Es war eine Mädchenstimme. Sie erkundigte sich, ob Sandra schon was rausbekommen hätte. Und dann redeten sie von Polizei, und daß jemand beschattet wird und Torsten bald freikäme ..
Maria war zunächst blaß geworden. Bei den letzten Worten ihrer Mutter sprang sie auf. „Was erzählst du da? Das ist ja...!“
„Jetzt findest du es also auch merkwürdig, nicht?“
„Merkwürdig?“ schrie Maria ihre Mutter an. „Das ist ungeheuerlich! Weshalb hast du mir das nicht früher erzählt? Und du hast dich nicht verhört?“
„Bestimmt nicht. Sie sprachen deutlich von Polizei, und daß heute abend jemand dran sei. Weißt du denn, was das bedeutet?“
„Ich fürchte, ja! Aber eigentlich ist das unmöglich! Woher kann Sandra wissen...?“ Maria griff sich an den Kopf. „Und wenn sie Ingo tatsächlich verpfiffen hat...?“
„Ich verstehe nicht...“
„Natürlich verstehst du nicht! Du hast nie etwas verstanden. Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was dein Sohn nachts treibt. Dich interessieren nur deine eigenen Angelegenheiten. Wie‚s dem lieben Gerd geht, das ist dir wichtig. Seit er sich hier eingenistet hat, sind wir dir egal!“
„Maria...!“
Maria unterbrach sie. „Was hast du noch gehört?“
„Gehört nichts. Aber in Sandras Schürze fand ich einen Zettel.“ Frau Siegmund zog ihn aus ihrer Schürzentasche. „Da stehen zwei Namen drauf: Meik Felten und Ricki Normann... Sind das nicht Ingos Freunde?“
Maria entriß ihrer Mutter den Zettel, las die Namen und stürzte ins Lokal. Sie knipste das Licht an und suchte im Telefonbuch nach den Nummern der beiden Jungen. Doch sie wußte nicht, wo sie wohnten oder wie ihre Väter mit Vornamen hießen. Es waren mehrere Normann und Felten aufgeführt.
„Ist ja sowieso zu spät!“ stöhnte sie und schlug das Telefonbuch zu.
„Sag mir endlich, was mit Ingo ist!“ verlangte ihre Mutter, die ihr nachgeeilt war, energisch.
„Er zapft nachts Benzin aus fremden Autos und verkauft es an einen Hehler. Und heute wird er dabei vermutlich von der Polizei hochgenommen. Das ist mit ihm los!“
Frau Siegmund konnte das Ungeheuerliche nicht fassen. Sie hielt sich an der Telefonbox fest. „Ingo...? Unser Ingo...?“
„Ja, unser Ingo!“ erwiderte Maria gehässig. „Weißt du auch, warum er das tut? Weil er vor fünf Monaten mit besoffenem Kopf einen Leihwagen zu Schrott gefahren hat. Der Leihwagenhändler ist ein Schlitzohr. Er hat Ingo versprochen, ihn nicht anzuzeigen. Aber Ingo mußte ihm ein Schuldgeständnis und Wechsel im Wert von zwanzigtausend Mark unterschreiben.“
„Mein Gott! Weshalb hat er sich nicht an mich gewandt?“
„Damit du es Siegmund erzähltest? Der hätte doch sofort verlangt, daß Ingo sich der Polizei stellt, falls er ihn nicht gleich selbst angezeigt hätte!“
Maria trommelte vor Wut mit den Fäusten gegen die Wand. „Wenn Ingo geschnappt wird, dann passiert was! Dann passiert was, das schwöre ich dir!“
„Bist du denn sicher, daß Sandra ihn der Polizei verraten hat? Woher kann sie denn wissen, was Ingo nachts treibt?“
„Vielleicht hat der Trottel es ihr selbst erzählt, um sie zu beeindrucken. Wenn Jungen verknallt sind, spielen sie sich gern auf. Vielleicht hat er vor ihr damit angegeben. Ich habe die beiden ein paarmal dabei erwischt, wie sie miteinander tuschelten.“
Maria lief nervös in der Gaststube auf und ab. „Wenn ich Ingo nur warnen könnte! Aber ich weiß ja nicht einmal, wohin er gefahren ist“, sagte sie erregt. „Es muß außerhalb der Stadt sein, wo sie das Benzin klauen, sonst kämen nicht immer so viele Kilometer auf dem Tacho zusammen. Auf dem Land gehen die Leute früh schlafen, die Straßen sind nachts leer, und es sind auch kaum Polizeistreifen unterwegs. Aber, wo genau ist er? Ich würde mit einem Taxi hinfahren...“
„Daß der Junge uns das auch noch antun muß!“ Frau Siegmund wischte sich über die Augen. „Vielleicht hatte das Gespräch auch eine ganz andere Bedeutung? Wenn die beiden etwas miteinander haben, dann wird Sandra Ingo doch nicht an die Polizei verraten“, wandte sie verzweifelt ein.
„Ich habe Sandra einmal dabei erwischt, wie sie sich an unserem Schreibtisch zu schaffen machte“, sagte Maria. „Wäre sie nicht rot geworden, als ich hereinkam, hätte ich mir nichts dabei gedacht, schließlich muß sie oben saubermachen.“ Sie unterbrach sich. „Still! Schlug da nicht eben eine Autotür zu?“ Maria lief zu einem der Fenster und spähte hinaus. Doch die Straße lag leer und still.
Ihre Mutter ging zum Tresen, um sich einen Magenbitter einzuschenken. „Sie erwähnte Torsten“, erinnerte sie sich. „Könnte es sein, daß sie mit diesen Holtkamps verwandt ist?“
„Und daß sie sich an uns rächen will, weil wir ihn in Untersuchungshaft brachten?“
Maria ging ebenfalls zum Tresen, nahm einen Stamper aus der Vitrine und hielt ihn ihrer Mutter zum Einschenken hin.
Frau Siegmund reagierte nicht auf die auffordernde Geste. Sie hielt die Flasche fest und blickte ihrer Tochter ernst in die Augen. „Es war unrecht von uns. Ich habe geahnt, daß sich das rächen wird. Jetzt werden wir dafür bestraft. Wir hätten den Holtkamps das nicht antun dürfen.“
Maria wurde rot. „Wie meinst du denn das?“ fragte sie auffahrend.
„Ich bin stutzig geworden, nachdem der Oberinspektor das letzte Mal hier war und den Tathergang noch einmal rekonstruierte. Da war manches, was nicht nur den Beamten ungereimt vorkam. Und als dann ihr beide, du und Ingo, euch so seltsam aufführtet...“
„Was du nicht alles bemerkt haben willst!“ unterbrach Maria sie wütend.
Doch ihre Mutter fuhr unbeirrt fort: „Ich habe am nächsten Tag mit Gerd darüber gesprochen. Da gestand er mir, daß er dich und Ingo hinter dem Tresen stehen sah, bevor das Licht ausging.“
„Er hat das gewußt? Und er hat uns nicht verraten?“ stammelte Maria fassungslos.
„Nein, aber er sorgt sich ebenfalls um den jungen Holtkamp. Er war sehr erleichtert, als ich ihm erzählte, daß der Haftrichter ihn mangels Beweisen aus der Haft entlassen will.“
Frau Siegmund fing an zu weinen. „Weshalb hat Ingo das getan? Gerd will euch doch nichts wegnehmen! Ingo hätte ihn totschlagen können. Das hat Gerd nicht verdient. Ihr wart von Anfang an gegen ihn. Dabei hat er sich so um euch bemüht. Aber daß Ingo sich so vergessen konnte!“ Frau Siegmund schluchzte. „Nun muß ich Gerd auch noch gestehen, daß mein Sohn ein Benzindieb ist!“
„Mutter! Ich war das! Ingo hat Gerd nicht angegriffen!“ gestand Maria verzweifelt. „Ich war im Begriff, die Tür zur Gaststube zu öffnen, um Geld fürs Taxi in der Kasse zu wechseln, da stürzte Ingo in den Flur. Wir prallten fast zusammen. Ingo keuchte: ,Der Alte! Halte ihn auf!* Ich dachte, die beiden hätten sich miteinander angelegt und Gerd verfolgte Ingo, um ihn zu verprügeln. Da habe ich die Sicherungen herausgedreht. Aber Gerd bekam mich im Dunkeln zu fassen. Da habe ich eine Flasche ergriffen und sie Gerd auf den Kopf geschlagen. Es... Es tut mir leid, Mutter!“
Neben ihnen hatte sich, unbemerkt von den beiden Frauen, die auf den Hof führende Tür geöffnet.
„Guten Abend“, sagte Oberinspektor Ruhwedel. „Fräulein Baumann, ich muß Sie bitten, Ihre Aussage auf dem Polizeirevier zu Protokoll zu geben.“
„Was wollen Sie hier? Das ist eine Familienangelegenheit! Das geht Sie gar nichts an. Dafür dürfen Sie meine Tochter nicht verhaften!“ stammelte Frau Siegmund in Panik.
„Das ist richtig“, bestätigte Ruhwedel, „es sei denn, Ihr Mann stellt einen Strafantrag.“
Maria blickte ihre Mutter flehend an.
Frau Siegmund schüttelte den Kopf.
„Es handelt sich hier aber außerdem um eine bewußte Irreführung der Polizei, die bedauerlicherweise zur Verhaftung eines Unschuldigen führte. Und damit wird sich der Staatsanwalt leider befassen müssen“, fuhr Ruhwedel ernst fort.
Er wandte sich an Frau Siegmund, die wie erstarrt wirkte. „Bitte, verständigen Sie Ihren Rechtsbeistand. Ich habe leider noch eine andere unangenehme Nachricht für Sie.“ Ruhwedel räusperte sich. Die Frau tat ihm leid.
„Ihr Sohn wurde festgenommen. Eine Polizeistreife hat ihn und zwei andere Männer beim Abzapfen fremden Benzins aus abgestellten Fahrzeugen angetroffen“, sagte Panke, der mit Ruhwedel hereingekommen war.