Gesine hat ein Problem

Gesine schwärmte für Schmuck.

Alles, was glitzerte, zog Gesine magisch an.

Diese Leidenschaft war ihr schon öfter zum Verhängnis geworden. Gesine wußte selbst nicht, wie das kam, daß sie sich schon ein paarmal dazu hatte hinreißen lassen, Schmuck in Kaufhäusern einzustecken. Sie war hinterher selbst ganz entsetzt darüber.

Doch sie konnte einfach nicht widerstehen. Sie fand es unbeschreiblich schön, die glitzernden Broschen, Ketten, Ringe anzusehen, anzufühlen, sich vor dem Spiegel in ihrem Zimmer damit zu schmücken.

Gesine nahm eine Brosche in die Hand. Sie war aus einem rotgoldenen Material in Form einer Rose angefertigt. Zwischen smaragdgrünen und rubinroten Steinen waren winzige Straßsplitter eingefügt, die im Licht der Deckenbeleuchtung wie Tautropfen funkelten, auf die die Morgensonne fiel.

Ein Kunstwerk! Gesine betrachtete es fasziniert.

Eine Verkäuferin, mit einem Samtrock zu einer Anprobekabine unterwegs, blieb neben Gesine stehen. Sie lächelte und fragte: „Kann ich dir helfen?“

Gesines schlechtes Gewissen glaubte Mißtrauen in ihrem Blick zu erkennen. „Nein, nein, ich schaue nur mal“, erwiderte sie und legte die Brosche hin. Sich betont unbefangen gebend und leicht vor sich hinsummend streifte sie einen versilberten Armreif über ihr Handgelenk, das sie prüfend ausstreckte.

Die Verkäuferin ging weiter.

Gesine streifte den Armreif ab, nahm die Brosche wieder auf, verbarg sie in ihrer Hand und trat vom Tisch zurück.

„Gesine“, sagte Frau Faber im selben Moment hinter ihr.

Gesine schrak zusammen. Ihr Herz fing heftig an zu pochen. Die Brosche brannte wie Feuer in ihrer Handfläche.

„Sandra und Joschi gehen jetzt. Wolltest du sie nicht ins Kino begleiten?“ fragte Frau Faber freundlich.

Sie schien nichts bemerkt zu haben!

Doch Gesine schämte sich plötzlich. Am liebsten hätte sie die Brosche zurückgelegt, meinte jedoch, daß sie sich damit als Diebin entlarvte. Denn wenn jemand etwas kaufen wollte, versteckte er es nicht, sondern trug die Ware offen zur Kasse.

Frau Faber führte Gesine zu Sandra und Joschi, die mit Frau Ansbach an der Rolltreppe warteten.

Sandras Miene wirkte abweisend.

Joschi, der unschlüssig war, wie er sich Gesine gegenüber verhalten sollte, starrte übers Treppengeländer ins Erdgeschoß.

„Lauft zu, sonst versäumt ihr den Anfang“, sagte Frau Faber.

Gesine gab sich einen Ruck. „Ich kann nicht mit. Ich muß heim. Meine Oma weiß nicht Bescheid.“

„Ach was, ich klingele bei ihr und sage ihr, wo du bist“, beruhigte sie Frau Faber.

Doch Gesine schüttelte den Kopf. Die Brosche in ihrer Hand bereitete ihr Sorge. Sie wußte nicht, wo sie sie lassen sollte. Es war ein heißer Nachmittag. Gesine hatte ihre Jeans mit einem Sommerkleid vertauscht, das keine Taschen besaß, so daß es keine Möglichkeit für sie gab, die Brosche heimlich verschwinden zu lassen.

„Ich soll noch was zur Reinigung bringen, bevor die Geschäfte schließen. Ist mir gerade eingefallen“, log sie.

Sandras Gesicht zeigte plötzlich eine Spur von Freundlichkeit. „Kannst ja ein andermal mitkommen“, meinte sie großmütig, während sie rasch die Rolltreppe betrat.

„Schade, Gesine“, sagte Frau Faber und hielt Gesine die Hand hin, um sich von ihr zu verabschieden. „Grüß deine Großeltern.“

Gesine wechselte rasch hinter ihrem Rücken die Brosche von der rechten in die linke Hand, schüttelte die dargebotenen Hände und verabschiedete sich in ihrer Verlegenheit wie ein kleines Mädchen mit einem Knicks.

An der nächsten Verkehrsampel warf Gesine die Brosche in den Abfallbehälter am Ampelmast.

Doch noch bevor die Ampel von Rot auf Grün umsprang, bereute Gesine ihre übereilte Entscheidung. Sie beugte sich über den Abfallbehälter und spähte nach der Brosche.

Die Brosche war auf den Boden des Behälters gerutscht. Gesine nahm sie heraus, polierte sie sorgfältig am Rock ihres Kleides und betrachtete sie verzückt.

Toll, wie sie glitzerte! Jemand anders hätte sie finden und sich damit schmücken können. Irre, sie wegzuwerfen! So eine wunderschöne Brosche. Zwölf Mark kostete sie.

Gesine riß das Preisschildchen ab und steckte die Brosche gegen ihre Gewohnheit, sich nur in der Verborgenheit ihres Zimmers mit dem gestohlenen Schmuck zu dekorieren, am Ausschnitt ihres Kleides fest.

In der Landwehrstraße, kurz vor der Eisdiele, begegneten ihr Sandra und Joschi, die hofften, in der Eisdiele einige von ihrer Clique zu treffen.

„Sie ließen uns nicht rein“, sagte Sandra. „Der Western ist abgesetzt. Der neue Film geht erst ab sechzehn.“

„Sonst kommen wir immer in Erwachsenenfilme rein. Aber heute haben sie kontrolliert. Zwei von der Kripo waren da“, erzählte Joschi. „Die suchen irgendwelche Typen. Deshalb haben sie die Ausweise verlangt.“

Gesine sagte nichts.

Ihr Schweigen machte Sandra verlegen. Es tat ihr leid, daß sie so unfreundlich zu Gesine gewesen war. Zu Sandras unschönen Eigenschaften gehörte es, schnell aufzubrausen. Doch unkameradschaftlich war sie nicht. Außerdem hielt Joschi ihre Hand, womit er in aller Öffentlichkeit ihre Zusammengehörigkeit demonstrierte. Das machte sie nachsichtig der vermeintlichen Rivalin gegenüber.

Sie bedauerte Gesine, die am Samstag abend, wo alle mit Freunden zusammen waren, allein die Straße entlang kam. Schließlich wußte sie von ihrer Mutter, daß Gesine sich in ihrer Stadt einsam fühlte. Und sie fand es plötzlich schlimm, daß Gesine so wenig geschätzt wurde — außer von älteren Leuten, die ihr folgsames, zurückhaltendes Benehmen lobten. Doch ältere Leute waren in Sandras Augen kein geeigneter Ersatz für den Spaß, den man in einer Clique fand.

Impulsiv sagte sie: „Kommst du mit? Wir wollen ein Eis essen.“

„Oh, ich…“ Gesine fühlte sich von der Einladung überrumpelt und wußte nicht, was sie sagen sollte.

Sandra faßte sie unter. „Na, komm schon! Die Reinigung ist längst zu.“ Im selben Moment fiel ihr Blick auf Gesines Ausschnitt. „Toll, die Brosche! Wo hast du sie her?“

„Die...? Ach, die habe ich gefunden“, stammelte Gesine.

„Gefunden? Wo denn? Laß mal sehen“, sagte Sandra.

„Im... An der Ampel in der... Ich weiß nicht, wie die Straße heißt.“ Gesine nestelte mit bebenden Händen den Verschluß auf, nahm die Brosche ab und reichte sie Sandra.

„Optimal! Wie steht sie mir, Joschi?“ Sandra hielt die Brosche an ihr T-Shirt. „Aber mußt du sie nicht abgeben?“ fragte sie Gesine.

„Abgeben...?“

„Bei der Polizei, auf dem Fundbüro.“

„Ist nur Modeschmuck“, sagte Joschi, der sich die Brosche ebenfalls ansah und sie in seinen Händen drehte.

„Sie sieht aber echt aus“, meinte Sandra.

„Dafür hat sie zu viele Steine. Was meinst du, was die kostete, wenn das richtige Steine wären. Meine Mutter hat jede Menge von dem Zeug. Das liegt bei uns in jeder Schale herum. Nö, die ist nicht wertvoll“, entschied Joschi sachkundig.

„Aber süß! Weshalb kann ich nicht mal so was finden“, seufzte Sandra. „Lag die einfach so auf der Straße?“

Gesine nickte. „Gegenüber von einer Bushaltestelle.“

„Ich würde mich aber doch erkundigen, was sie wert ist. Vielleicht ist es auch ein Andenken und die Verliererin möchte es gern wiederhaben“, meinte Sandra.

„Gehen wir nun rein oder nicht? Hier draußen wird mir zu heiß“, sagte Joschi.

„Ich sag schnell meiner Oma Bescheid. Ich sollte nämlich schon zum Kaffee zurück sein“, sagte Gesine.

„Beeil dich! Wir müssen ja auch zum Abendbrot heim“, drängte Sandra.

Gesine nahm ihre Brosche und rannte los.

Ihre Großeltern hatten Besuch. Gesine sah sie mit einem befreundeten Ehepaar im Hinterhof sitzen. Ihre Großeltern benutzten den Hinterhof als Ersatz für den der Erdgeschoßwohnung fehlenden Balkon.

„Gesine, bist du da?“ rief Oma Bollerhey, als sie Gesine am Wasserhahn in der Küche hörte.

Gesine setzte die Tasse ab, aus der sie durstig Wasser getrunken hatte, und trat ans offene Küchenfenster.

„Wo warst du so lange? Wir haben uns gesorgt“, sagte ihre Großmutter.

„Mit Fabers im Kaufhaus Röttgers. Sandra hat bei einer Modenschau mitgemacht. Ihre Mutter hat gesagt, daß ich mitkommen soll. Ich habe prima Kuchen gegessen. Hat sie bezahlt“, berichtete Gesine.

„Nächstens sagst du vorher Bescheid.“

„Ja, Oma. Aber heute wußte ich ja nichts davon. Ich habe Fabers zufällig in der Stadt getroffen.“

„Hast du dich bei Frau Faber für den Kuchen bedankt? Und sag mal guten Tag, wir haben Besuch.“

„Ja. Tag, Frau Franke, Tag, Herr Franke“, begrüßte Gesine die Freunde ihrer Großeltern. „Sandra und Joschi warten in der Eisdiele auf mich. Darf ich wieder gehen, Oma?“

„Nicht jetzt. Wir essen bald. Frankes bleiben zum Abendbrot. Du mußt mir helfen.“ Frau Bollerhey wendete sich an ihre Besucher. „Sie bleiben doch noch?“

„Aber ich bitte Sie, das ist doch nicht nötig“, wehrte Herr Franke ab.

„Ja, wirklich, machen Sie unseretwegen keine Umstände“, sagte Frau Franke.

„Ich richte uns nur ein paar belegte Brote. Gesine, hol schon mal ein Glas Gurken herauf.“

Gesine lief in den Keller.

Sie hatte es kommen sehen. Wenn sie schon einmal Gelegenheit hatte, mit Sandra und Joschi zusammen zu sein, kam bestimmt etwas dazwischen. Immer hatte ihre Oma einen Auftrag für sie. Dabei beklagte sie sich darüber, daß Gesine keine Freunde fand.

„Darf ich denn nach dem Abendbrot noch einmal raus?“ bat Gesine, als sie ihrer Oma, die inzwischen in die Küche gekommen war, die Gurken aus dem Vorratskeller brachte.

„Nach dem Essen...? Wo willst du denn da noch hin?“ fragte Frau Bollerhey besorgt.

Sie fand es nicht leicht, ihre Enkeltochter bei sich zu haben. Sie war an Jugendliche nicht mehr gewöhnt, sorgte sich übermäßig und fühlte sich von der Aufgabe, über Gesine zu wachen, täglich mehr überfordert.

Dabei liebte sie Gesine. Sie war ihr einziges Enkelkind, und es hätte Frau Bollerhey große Freude bereitet, Gesine vorübergehend, in den Ferien beispielsweise, um sich zu haben. Doch die Verantwortung, die sie damit übernahm, als sie sich bereit erklärte, bei Gesine Elternpflichten auszuüben, belastete sie. Die Gefahren, denen ein junger Mensch in einer Großstadt ausgesetzt war, machten Frau Bollerhey und ihrem Mann große Sorgen.

„Ich will nur noch mal eben zu Sandra rüber“, sagte Gesine.

„Ihr geht aber nicht aus?“

„Nein, nein“, beruhigte Gesine ihre Oma und verschwieg, daß sie nicht einmal wußte, ob sie Sandra willkommen war.

Gesine hatte Sandra noch nie besucht, ohne von ihr oder ihrer Mutter dazu eingeladen worden zu sein.

Doch heute glaubte sie, einen Grund dazu zu haben. Sie mußte Sandra erklären, weshalb sie nicht in die Eisdiele zurückgekommen war. Sonst glaubte Sandra vielleicht noch, Gesine sei unzuverlässig, und dann forderte sie sie gewiß nie mehr zu einem gemeinsamen Unternehmen auf. Es war ja überhaupt seit langer Zeit das erste Mal, daß Sandra sich so nett zu Gesine zeigte. Vielleicht wurden sie jetzt endlich Freundinnen?

Das wäre zu schön, dachte Gesine.

Und plötzlich kam ihr eine Idee!

Sandra hatte die Brosche so gut gefallen. Gesine beschloß, Sandra die Brosche zu schenken.

Ihr Herz wurde warm bei dem Gedanken an Sandras Überraschung und ihre Freude, wenn Gesine ihr die Brosche brachte.

Daß Sandra die Brosche, wüßte sie um ihre Herkunft, empört zurückweisen und eine Diebin niemals als Freundin akzeptieren würde, überlegte Gesine nicht. Sie berauschte sich nur an der Vorstellung, Sandra mit der Brosche gefällig zu sein.