Der Kreis zieht sich zusammen

Florian Seibold ging in sein Zimmer, um sich umzuziehen.

Er hatte beschlossen, in die Stadt zu fahren. Für diesen Anlaß zog er sein ältestes kariertes Oberhemd, eine ausgebeulte Hose und ein ausgebleichtes Sommerjackett an.

Der Bezirk um den Nordbahnhof galt als die schlechteste und verrufenste Wohngegend der Stadt. Florian Seibold befürchtete, in seiner gewohnten sorgfältigen Kleidung dort aufzufallen.

Die Menschen, die im Nordbahnhofsviertel lebten, waren Hehler, ausgeflippte Rauschgiftsüchtige, Straßenprostituierte und andere gestrandete Existenzen.

Diese Leute reagierten oft mißtrauisch und verschlossen, wenn ein Mann, der sich schon durch seine Kleidung als nicht zu ihrem Kreis gehörig auswies, sie in ein Gespräch zu verwickeln suchte, und es fiel schwer, ihnen eine Auskunft zu entlocken.

Das Jackett spannte, als er die Knöpfe schloß. Florian Seibold kam sich vor wie eine Wurst in der Pelle. Seit er sich aus dem Berufsleben zurückgezogen und seinem Sohn die gutgehende Anwaltspraxis überlassen hatte, war er träge und dick geworden.

Florian Seibold beschloß grimmig, künftig auch dagegen etwas zu tun.

„Sie sind schon aufgestanden?“ wunderte sich Frau Ansbach, als Herr Seibold auf die Terrasse hinauskam. Es wehte ein erfrischender Wind vom Fluß her, und Frau Ansbach hatte es sich mit der Tageszeitung in einem Liegestuhl bequem gemacht und genoß die Mittagsruhe, während sie den Hausherrn in seinem Zimmer schlafend vermutete.

Seibold erwiderte: „Ich hatte mich gar nicht hingelegt.“

„Mir war es im Haus auch zu heiß.“ Frau Ansbach faltete die Zeitung zusammen. „Ich koche Ihnen Kaffee.“

Florian Seibold wehrte ab. „Bleiben Sie hier. Ich fahre mit Susi in die Stadt.“

Die Dackelhündin hörte ihren Namen. Sie legte den Kopf schräg, klopfte mit der Rute auf die Fliesen und blickte ihren Herrn erwartungsvoll an.

„Aber doch nicht in diesem Aufzug!“ protestierte Frau Ansbach.

„Gerade in diesem Aufzug!“ betonte Florian Seibold.

Frau Ansbach lehnte sich seufzend in den Stuhl zurück.

Sie hatte verstanden. Der Hausherr mischte sich wieder einmal in eine polizeiliche Ermittlungsarbeit ein. Er konnte es eben nicht lassen. Er war zu lange Strafverteidiger gewesen, um sich für das bequeme und langweilige Leben eines Privatmannes begeistern zu können.

„Sind Sie pünktlich zum Abendessen zurück?“ fragte sie.

„Ganz bestimmt“, erwiderte Florian Seibold und lächelte verschmitzt. „Ich hoffe auf eine üppige Mahlzeit, wie sie einem abgespannten Berufstätigen nach einem anstrengenden Arbeitstag zusteht. Kommen Sie mir nur ja nicht wieder mit einem dünnen Krankensüppchen!“ fügte er gespielt drohend hinzu.

„Wenn Sie sich unbedingt umbringen wollen!“ erwiderte Frau Ansbach schulterzuckend, denn der Hausherr war von seinem Arzt auf Diät gesetzt.

„Also keine üppige Mahlzeit!“ seufzte Florian Seibold ergeben. Er schnippte mit den Fingern. „Komm, Susi!“

Von einem Taxi ließ er sich zum Hauptbahnhof bringen und bestieg dort einen Vorortzug in nördlicher Richtung.

Im Nordbahnhof verließ er mit Susi den Zug. Dann traten sie ins grelle Licht der Mittagssonne.

Das Viertel wirkte grau und tot. Die Fassaden der häßlichen Steinbauten mit ihren großen nackten Placken von abgebröckeltem Verputz sahen wie von Geschwüren zerfressen aus. Nirgends schien es einen Baum oder auch nur einen Schimmer von frischem Grün zu geben.

„Bitte — zur Gebrauchtwagenfirma Fischer, muß ich da nach rechts oder nach links gehen?“ erkundigte sich Florian Seibold bei einem Fahrgast, der mit ihnen den Bahnhof verließ.

„Nach rechts“, erwiderte der Passant im Weitergehen.

Das erhitzte Pflaster des Bahnhofsvorplatzes glitzerte im heißen Mittagslicht. Es erschien Florian Seibold zu heiß für Susis Pfoten.

Er nahm den Hund auf den Arm und wandte sich nach rechts, wo der Bürgersteig an einem Drahtzaun entlangführte, der die Gleisanlagen von der Straße trennte.

Nach etwa 200 Metern traten die Gleise mehr und mehr zurück. Schließlich waren die Bahnhofsanlagen zu Ende. Der Drahtzaun wurde von einem Bretterzaun abgelöst, hinter dem ausgeschlachtete Autowracks sichtbar wurden, die über den Zaun hinausragten.

Auf einem rostigen, verbeulten Blechschild stand zu lesen: Heinz Fischer — Gebrauchtwagen — Autoverleih.

Florian Seibold sah sich am Ziel.

Doch er hatte den dringenden Wunsch, sich vor der Unterhaltung mit dem Autohändler eine Weile auszuruhen. Er schwitzte, und er war erschöpft.

Etwa 30 Meter weiter sah er auf der anderen Straßenseite eine Frau mit einem Kinderwagen und zwei Kindern, die einen Ball und kleine rote Eimer trugen. Sie kamen aus einem von hohen struppigen Sträuchern umgrenzten Rondell.

Florian Seibold vermutete dort einen Kinderspielplatz mit Bänken.

Er trug Susi an der Firmeneinfahrt vorbei und ging zu dem Rondell, um zu verschnaufen.

Der Platz war leer bis auf einen alten Mann, der auf einer der beiden Bänke saß.

Florian Seibold setzte Susi ab, die laut bellend das Gestrüpp zu durchsuchen begann, trocknete mit seinem Taschentuch seine schweißnasse Stirnglatze und nahm neben dem Mann auf der Bank Platz.

Der Alte schien froh, Gesellschaft erhalten zu haben. Er neigte sich zu Florian Seibold hinüber und fing sogleich ein Gespräch mit ihm an.

„Heiß heute, nicht?“ meinte er. Und als Florian Seibold dies kopfnickend bestätigte, fügte er hinzu: „Es müßte mal wieder richtig regnen.“

Auch dieser Ansicht pflichtete Florian Seibold kopfnickend bei, denn er war vom Gehen mit Susi auf dem Arm ganz außer Atem.

„Sie habe ich aber auch noch nicht in unserer Gegend gesehen. Sind Sie irgendwo zu Besuch?“ forschte der Mann.

Florian Seibold ließ sich mit seiner Antwort Zeit.

Er musterte den Nachbarn, während er umständlich sein Taschentuch zusammenfaltete.

Der alte Mann hatte ein graues, verwittertes Gesicht und gichtverzogene Hände. Seine Hose war ausgebeult und voller Flecken. Trotzdem machte er keinen verwahrlosten Eindruck. Die nachlässige Kleidung deutete eher darauf hin, daß er allein wohnte und niemanden hatte, der auf ihn achtete und ihn betreute. Vermutlich war er Witwer.

„Ich suche nach einem billigen Gebrauchtwagen für meinen Enkel“, erklärte Florian Seibold. Sein Enkel war acht Jahre alt. Aber das wußte der Mann ja nicht.

„Bei Fischer drüben? Haben Sie was gefunden?“ erkundigte sich der Nachbar.

„Ich dachte, ich sei noch ein bißchen früh dran. Die Leute werden Mittagspause haben“, gab Florian Seibold an. Doch im gleichen Augenblick drang lautes Hämmern von dem Firmengelände herüber.

Der Alte lächelte. „Die kümmern sich um keine Mittagspause.“

„Das ist aber sehr störend. Hoffentlich wohnen Sie nicht in der Nachbarschaft?“

„Doch. Gleich hier nebenan, im Haus hinter den Anlagen.“ Anlagen nannte er das verwahrloste Rondell mit seinen staubigen, verkümmerten Sträuchern und einem Sandkasten, der kaum noch Sand, aber jede Menge Hundekot, leere Zigarettenschachteln und Papierfetzen enthielt.

„Tagsüber ist es ja noch auszuhalten mit dem Lärm von drüben“, fuhr der Mann mitteilsam fort. „Der Rummel geht erst am Abend richtig los. Und als alter Mensch hat man doch das Bedürfnis, früh schlafen zu gehen, nicht wahr? Mit den Hühnern ins Bett und beim ersten Hahnenschrei raus, sagte man bei uns früher auf dem Land.“

Florian Seibold nickte höflich zustimmend, obwohl er selbst eine andere Zeiteinteilung bevorzugte. Er blieb meistens bis nach den Spätnachrichten auf, um dann noch ein paar Seiten in einem Buch zu lesen, und morgens frühstückte er ungern vor acht Uhr.

„Meine Tochter wollte ja, daß ich zu ihr in die Neubauwohnung in Rehling ziehe, als meine Frau vor zwei Jahren starb. Aber ich bleib lieber in meinen gewohnten vier Wänden. Ein alter Baum läßt sich nicht mehr verpflanzen, obwohl hier ja jetzt allerlei Gesindel wohnt“, erzählte der Alte.

Florian Seibold nickte und führte dann rasch das Gespräch wieder auf den Gebrauchtwagenhändler zurück.

„Meinen Sie, daß ich da drüben was Billiges kriege? Soviel bleibt einem ja von der Rente nicht, um allzu spendabel zu sein. Aber mein Enkel ist ein braver Junge. Da soll er von seinem Opa auch mal was bekommen. Wie ist denn der Händler?“ erkundigte er sich.

„Bei dem müssen Sie aufpassen, sonst zieht er Ihnen das Fell über die Ohren“, warnte der Alte. Er beugte sich zu Florian Seibold hinüber und flüsterte vertraulich: „Ich meine immer, der macht krumme Geschäfte. Lassen Sie sich von ihm die Wagenpapiere zeigen, bevor Sie den Handel abschließen. Vielleicht haben Sie auch jemand, der sie Ihnen nachprüfen kann. Aber verraten Sie mich nicht.“

„Wo werde ich denn!“ entrüstete sich Florian Seibold. „Ich bin Ihnen dankbar für den Rat. Vielleicht sollte ich mich erst nur mal umsehen, ob er überhaupt was Brauchbares hat.“

„Ja, das ist bestimmt richtig. Er verkauft seine Autos meistens an Jugendliche. Die haben ja keine Ahnung, wenn sie angeschmiert werden. Und dann verspricht er ihnen noch billiges Benzin. Damit hat er die Burschen natürlich gleich im Sack.“

„Billiges Benzin? Woher hat er denn das?“ fragte Florian Seibold und hatte Mühe, seine Aufregung zu verbergen.

„Was weiß ich? Die Jugendlichen fahren am Abend in Kolonnen vor, um zu tanken. Ich kriege auch sonst so allerlei mit. Fischer muß da irgendeine dunkle Quelle aufgetan haben. Zwei- oder dreimal in der Woche kommen drei junge Männer spätabends mit einem Kombi und laden leere Benzinkanister ein. Und mitten in der Nacht, manchmal wird es draußen schon hell, sind sie wieder da und bringen die Kanister voll zurück. Daß sie voll sind, höre ich am Klang. Die benehmen sich, als wären sie allein auf der Welt. Das ärgert mich schwarz, diese Rücksichtslosigkeit. Die anderen Mieter stört das ja nicht. Die fallen abends meistens besoffen ins Bett und hören nichts in ihrem Rausch“, beklagte sich der Mann.

„Der Händler riskiert aber allerhand, wenn das stimmt, was Sie sagen.“

„Hier in der Gegend ist jetzt alles möglich. Da deckt einer den anderen. Nur ich mache mir so meine Gedanken.“ Der alte Mann hob seinen gichtigen Zeigefinger. „Die drei Burschen arbeiten bestimmt in einem Spritlager. Vielleicht machen sie gemeinsame Sache mit einem Lagerarbeiter. Wenn er Dienst hat, läßt er sie rein, und sie füllen dort nachts Benzin für Fischer ab“, vermutete er.

Florian Seibold hatte eine andere Vorstellung von der Herkunft des Benzins. Er hütete sich jedoch, gegenüber dem gesprächigen alten Mann eine Andeutung darüber zu machen. „Und sie fahren einen Kombi, sagen Sie?“ vergewisserte er sich.

„Ja, einen grünen — aber weshalb interessiert Sie das?“ fragte der Alte, plötzlich mißtrauisch geworden.

„Meinem Sohn ist vor Wochen ein Kombi gestohlen worden, aber er war rot“, beeilte sich Florian Seibold anzugeben.

Er stand auf und rief Susi, die den Sandkasten durchstöberte.

„Ich denke, ich sollte mich jetzt mal um das Auto für meinen Enkel kümmern, obwohl ich gar nicht mehr gern mit dem da drüben ein Geschäft machen möchte. — Na, ansehen kann ich mir die Autos ja mal“, bemerkte er leichthin.

„Wenn Sie doch eins kaufen — handeln Sie mit ihm. Fischer geht immer im Preis runter, wenn einer hartnäckig ist“, empfahl ihm der Alte.

Florian Seibold bedankte sich für den Rat, verabschiedete sich und ging.

Eigentlich war sein Besuch in der Firma des Gebrauchtwagenhändlers überflüssig geworden. Der alte Mann hatte ihm mehr offenbart, als Florian Seibold je durch eigene Nachforschungen zu erfahren hoffte.

Doch es drängte ihn, sich den Betrieb näher anzusehen und festzustellen, welchen Eindruck Fischer auf ihn machte.

Auf jeden Fall war Ingos Verhaftung gewiß.

Florian Seibold zweifelte nicht daran, daß es sich bei den Benzinlieferanten um Ingo und seine Freunde handelte. Der Kombi des „Ankers“ war grün. Florian Seibold hatte die Siegmunds oft an seinem Haus vorbeifahren sehen. Und Sandra hatte Benzingeruch erwähnt, der Frau Siegmund Sorgen bereitete. Vermutlich ließ die Dreierbande aus Nachlässigkeit benzingetränkte Lappen oder dergleichen im Kofferraum liegen, denn normalerweise verflogen Benzindünste rasch.

Wenn Baumann und seine Komplizen sich erst einmal in Untersuchungshaft befanden, würde es für Ruhwedel leicht sein, sie wegen der Überfallsache in die Mangel zu nehmen.

Natürlich mußten sie zunächst des Benzindiebstahls überführt werden. Gut wäre es, wenn man sie auf frischer Tat ertappen könnte. Andernfalls würden sie leugnen und die Diebstähle abstreiten.

Den alten Mann durfte die Kripo nicht als Zeugen heranziehen. Das würde er büßen müssen.

Die Menschen, die hier wohnten, und von denen die meisten selbst von Einbrüchen und Diebstählen lebten, reagierten unangenehm, wenn jemand aus ihrem Bezirk sich als Spitzel erwies und einen von ihnen der Polizei auslieferte. Vermutlich profitierten sie selbst von dem gestohlenen Benzin.

Sie würden dem alten Mann nicht zugute halten, daß er keinen Verrat begehen wollte, sondern nur nach Art vieler einsamer alter Menschen mitteilsam und ein bißchen geschwätzig war.

Das Firmengelände des Gebrauchtwagenhändlers bot einen verwahrlosten Anblick.

Autoreifen, rostiges Handwerkszeug und Teile von ausgeschlachteten Autos lagen überall herum. Die Tore der Reparaturhalle standen offen und hingen schief in den teilweise gebrochenen Halterungen.

Zwei Männer in schmutzigen Monteuranzügen beulten einen Kotflügel an einem Unfallwagen aus. Sie blickten nicht auf, als Florian Seibold mit Susi auf dem Arm an ihnen vorbeiging-

Das Büro war in einer Bretterbude untergebracht.

Durch die von Schmutz fast blinden Fensterscheiben sah Florian Seibold ein Mädchen vor einer Schreibmaschine sitzen.

Er klopfte an die Tür und trat ein.

„Der Chef ist draußen“, sagte das Mädchen, bevor Florian Seibold noch grüßen oder seine Wünsche vorbringen konnte. Sie saß breitbeinig auf ihrem Stuhl und hatte ihren Rock weit über ihre Oberschenkel zurückgeschoben. Ihre Stirnhaare waren feucht. Es herrschten mindestens 35 Grad im Raum.

Florian Seibold blickte durchs Fenster. „Ist es einer von den beiden Männern an dem Unfallauto?“ erkundigte er sich.

„Der Dicke“, erwiderte das Mädchen, während sie weiter auf die Tasten hämmerte.

Florian Seibold trat mit Susi wieder in den heißen Wind hinaus, der ihm jedoch jetzt, nach dem kurzen Aufenthalt in dem glühendheißen Büro, wie eine erfrischende Brise erschien.

Er trat zu den Männern am Auto.

„Guten Tag! Ich möchte mich nach einem Gebrauchtwagen für meinen Enkel umsehen“, sagte er, mit erhobener Stimme gegen den Lärm ankämpfend.

Die Männer unterbrachen kurz ihre Beschäftigung.

„Von mir aus, sehen Sie sich um“, erwiderte der Dicke, den das Mädchen als den Chef bezeichnet hatte, und hämmerte weiter, worauf auch sein Mitarbeiter in seiner Tätigkeit fortfuhr.

Kein Wunder, daß bei dem alles zusammenfällt. Mit dem Geschäftsgebaren kann man keine Kunden gewinnen, dachte Florian Seibold grimmig.

Er schritt lustlos durch die Reihen der zum Verkauf abgestellten Autos.

Um Kaufinteresse vorzutäuschen, blickte er mal hier auf einen Tachometerstand, überprüfte dort das Reifenprofil und an einem anderen Auto den Zustand der Stoßdämpfer, indem er sich auf den Kofferraumdeckel stützte und den Wagen auf- und abwippen ließ.

Doch während er dies tat, suchte er mit den Blicken das Gelände ab.

Verdächtiges entdeckte er indessen nicht. Florian Seibold kam zu dem Schluß, daß die Kanister mit dem gestohlenen Benzin — und vielleicht noch anderes Diebesgut — in dem kleinen Sandsteinanbau mit den vergitterten Fenstern unter Verschluß gehalten wurden.

Er kehrte zu den Männern zurück.

Diesmal blickte Fischer auf, als Florian Seibolds Schatten auf das Auto fiel.

Er befahl seinem Mitarbeiter mit einer kurzen Kopfbewegung zu verschwinden.

Der Mann ging in die Reparaturhalle.

Der Händler wandte sich an Florian Seibold. „Haben Sie was gefunden?“

Florian Seibold hob die Schultern. „Ich weiß noch nicht so recht... Es sind alles ziemlich schwere Wagen. Ich hatte eigentlich an einen Kleinwagen gedacht.“

„Gebrauchte Kleinwagen stehen hoch im Listenpreis. Da lohnt es sich, einen Neuwagen zu kaufen, daran verlieren Sie nicht so viel“, gab der Händler zu bedenken.

„Ja, ja, gewiß!“ Florian Seibold kratzte sich am Hinterkopf. „Nur, soviel Geld habe ich nicht. Ich wollte dem Jungen eine Freude machen. Er ist Lehrling und hat gerade seinen Führerschein gemacht.“

„Aber die Jugendlichen schwärmen gerade für die dicken Autos“, sagte Fischer lächelnd. „Sie werden ganz groß bei Ihrem Enkel ankommen. Die wollen doch alle gern ein bißchen protzen.“

„Ja, ja, ich weiß... Nur, die schweren Autos verbrauchen soviel Benzin.“

Darauf schwieg der Händler.

Florian Seibold wagte einen erneuten Vorstoß. „Wenn das Benzin nur nicht so teuer wäre! Er muß doch Super tanken, nicht?“

Fischer bestätigte es kopfnickend.

„Ich weiß nicht, ob das bei einem Lehrlingsgehalt drin ist“, überlegte Florian Seibold.

Der Händler zuckte die Schultern.

Florian Seibold fragte sich, ob er ihn direkt nach einer preiswerten Benzinquelle fragen dürfe.

Schließlich entschied er sich dagegen. Fischer erschien ihm zu gerissen. Wenn er nicht selbst mit einem diesbezüglichen Angebot herausrückte, um einen Kaufvertrag abzuschließen, bedeutete dies, daß er sich vorsehen mußte. Und von seiner Sicht aus gesehen, hatte er ja recht. Erwachsene pflegten nach der Herkunft einer Ware zu fragen, die unter Preis angeboten wurde. Florian Seibold konnte also nicht erwarten, daß er ihm gestohlenes Benzin offerierte.

„Hören Sie“, sagte Fischer plötzlich. „Schicken Sie mir mal Ihren Enkel vorbei. Ich bin überzeugt, daß wir eine Lösung des Problems finden werden. Ich bin kein Halsabschneider. Der Junge soll einen Barscheck mitbringen, und dann läuft die Sache, okay?“

„Gute Idee!“ sagte Florian Seibold und gab sich erleichtert. „Zweitausend Mark kann er anlegen. Soviel gebe ich ihm.“

„Na, bestens, alter Herr!“ sagte Fischer und klopfte Florian Seibold abschiednehmend auf die Schulter, kraulte Susi am Hals und ging davon.

Florian Seibold machte sich mit Susi zum Taxistand am Bahnhof auf den Weg, um sich zum Polizeipräsidium fahren zu lassen.

Die Beamten vom Einbruchsdezernat lauschten zusammen mit Hauptkommissar Kresser und Oberinspektor Ruhwedel interessiert Florian Seibolds Bericht.

„Also doch Fischer!“ sagte Kriminaldirektor Berkler vom Einbruchsdezernat, und er fügte grimmig hinzu: „Aber diesmal entwischt er uns nicht!“

Gemeinsam berieten sie die nächsten notwendigen Schritte.

Dann beorderte Berkler seine Mitarbeiter zur Einsatzbesprechung in sein Büro.

Kresser lud Florian Seibold zu einer Erfrischung in die Kantine ein, während Ruhwedel in sein Büro ging, um Sandra anzurufen.

In der Wohnung meldete sich niemand. Sandra schien nicht zu Hause zu sein.

Ruhwedel berichtete seinem Vorgesetzten von seinem Mißerfolg.

„Vielleicht arbeitet sie noch“, vermutete Florian Seibold. „Am besten rufe ich einmal im ‚Anker’ an. Sie könnte man an der Stimme erkennen“, gab er zu bedenken.

Die Beamten waren einverstanden, und Florian Seibold ging mit ihnen in Kressers Büro.

„Hier ist Sandras Onkel. Guten Tag, gnädige Frau. Ist Sandra noch bei Ihnen?“fragte er die „Anker“-Wirtin, die den Anruf entgegennahm.

„Nein, sie ist vor einer halben Stunde... Moment! Sie fährt gerade in den Hof. Wahrscheinlich hat sie ihre Geldbörse vermißt. Ich fand sie nämlich im Badezimmer.“

Der Hörer wurde hingelegt, und Florian Seibold hörte, wie die Wirtin Sandra, vermutlich durch ein offenstehendes Fenster, ins Haus rief.

Schuhe klapperten eilig über einen Fliesenboden. Der Hörer wurde aufgenommen, und Sandra sagte ungestüm: „Joschi, bist du‚s?“

„Hier ist Seibold. Ich habe gesagt, ich sei dein Onkel. Guten Tag, Kind. Ich muß dich etwas fragen.“

„Oh! Guten Tag! Da hast du aber Glück, Onkel. Eigentlich wäre ich schon weg. Ich bin nur zurückgekommen, um meine Geldbörse zu suchen.“

„Sie ist oben. Ich hole sie dir“, hörte Florian Seibold die Wirtin sagen.

„Kannst du sprechen? Bist du allein?“ fragte er.

„Ja, sie ist raufgegangen“, antwortete Sandra.

„Hör zu! Ich bin hier auf dem Polizeipräsidium. Hast du eine Ahnung, wann Ingo Baumann wieder mit dem Kombi unterwegs sein wird?“

„Heute abend! Warum? Tut sich was?“ stieß Sandra aufgeregt hervor.

„Vermutlich ja. Aber laß dir um Himmels willen nichts anmerken. Dann wäre alles verpatzt. Weißt du, wann er gewöhnlich das Haus verläßt?“

„Ich denke, so um neun, wenn der Hauptbetrieb gelaufen ist. Er muß ja Bier zapfen und die Getränke am Tresen ausgeben, während Maria das Essen serviert. Ich habe jedenfalls mal gehört, daß sie sich deswegen stritten. Hat die Kripo schon rausgekriegt, was er treibt? Was Kriminelles, nicht?“

„Das ist wahrscheinlich. Mehr darf ich dir im Moment nicht verraten.“

„Aber, das ist gemein! Sagen Sie mir wenigstens, ob er an dem Überfall auf den Wirt beteiligt war. Bitte, Herr Seibold!“

„Das wissen wir nicht. Aber die Kripo wird das herausbekommen. Wichtig ist zunächst, daß die Kripo ihn eingehend verhören kann, und dazu...“

„Moment! Da fällt mir was ein“, sagte Sandra aufgeregt. „Es ist nicht ganz sicher, ob Ingo heute abend den Kombi kriegt. Er soll in die Werkstatt. Ich sagte Ihnen ja, daß er immerzu nach Benzin stinkt.“

Florian Seibold nickte Ruhwedel, der das Gespräch mithörte, triumphierend zu.

„Aber Ingo sagt, er nähme ihn trotzdem. Ein Freund würde ihn reparieren. Und bis jetzt hat er immer noch seinen Willen durchgesetzt“, berichtete Sandra.

„Fein, Sandra! Du hast gute Arbeit geleistet“, lobte Seibold.

„Aber ich könnte noch mehr tun! Ich könnte rauskriegen, ob und wann genau er heute abend...“

Im Hintergrund schlug eine Tür zu.

„Hier ist die Börse“, hörte Florian Seibold die Wirtin sagen.

„Oh, vielen Dank!“ sagte Sandra.

„Alles andere ist jetzt Sache der Polizei, Sandra. Untersteh dich nicht, selbst etwas zu unternehmen!“ sagte Herr Seibold.

„Ist gut... Onkel“, versprach Sandra, ohne indessen ihr Versprechen ernst zu nehmen.

Sie legte den Hörer auf.

Ihr Gesicht glühte. Sie war so aufgeregt, daß sie sicher war, durchzudrehen, wenn es ihr nicht gelang, festzustellen, was die Kripo über Ingo herausgefunden hatte, und wie sie ihren Einsatz plante, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Denn darauf schien doch alles hinauszulaufen.

Sie mußte dabeisein.

Das wäre doch gelacht, sagte sie sich. Schließlich hatte sie den Stein erst ins Rollen gebracht und die Kripo auf Ingo hingewiesen. Da ließ sie sich jetzt nicht einfach abschieben.

Sandra wandte sich an die Chefin. Sie war etwas verlegen, weil sie nicht wußte, wie sie ihr Angebot Vorbringen sollte.

„Frau Siegmund... Ich... ich habe heute morgen gehört, daß Ihre Tochter Bandscheibenschmerzen hat und heute abend zur Massage fahren möchte. Vielleicht sollte ich sie so lange vertreten? Fürs Schwimmbad ist es für mich jetzt doch zu spät. Ab fünf kommen die Berufstätigen, dann wird es zu voll“, sagte Sandra mit roten Wangen.

„Ach, das wäre aber nett, Sandra“, freute sich Frau Siegmund. „Maria kann sich kaum noch geradehalten. Unvernünftigerweise läuft sie aber auch immer erhitzt in den kalten Weinkeller, ohne sich etwas überzuziehen.“ Doch dann wurde Frau Siegmunds Miene besorgt. „Glaubst du denn, daß du das schaffst? Hast du schon einmal serviert?“

„Nur bei Familienfesten. Meine Großmutter ist Haushälterin bei einem...“ Rechtsanwalt... hätte Sandra fast verraten. Doch sie hielt Herrn Seibolds Beruf rechtzeitig zurück und sagte: „Bei einer reichen Familie. Da habe ich ziemlich viel gelernt, wenn ich ihr half.“

„Na, dann bist du ja nicht ganz unerfahren. Am Abend sind auch keine Menüs zu servieren, und du brauchst nur einzelne Teller zu tragen. Wird deine Mutter es denn erlauben?“

„Bestimmt, wenn es nur eine Ausnahme ist“, versicherte Sandra. „Ich muß sie nur anrufen und ihr Bescheid sagen.“

„Ja, sicher, tu das.“ Die Wirtin deutete aufs Telefon...“

Doch Sandra wehrte ab. „Ich gehe ein bißchen draußen spazieren, bis Sie mich brauchen. Da kann ich vom Telefonhäuschen aus anrufen.“

„Wie du willst. Wenn du zurückkommst, koch dir einen Tee oder nimm dir sonst was zu trinken. Du weißt ja, wo alles steht. Auch wenn du Hunger hast — nimm dir aus dem Kühlschrank, was du magst“, sagte Frau Siegmund herzlich.

Sandra hatte einen Augenblick lang ein schlechtes Gewissen.

Frau Siegmund war immer nett zu ihr, und es tat Sandra leid, daß sie mithelfen mußte, ihr Kummer zu bereiten.

Frau Siegmund liebte ihre Kinder, obwohl sie wenig Freude an ihnen hatte. Sandra konnte sich vorstellen, was es für eine Mutter bedeutete, wenn eines ihrer Kinder mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Der Gedanke an Torsten und seine Familie half Sandra jedoch schnell, ihre Gewissensbisse zu überwinden.

Sie wanderte an der Mole entlang.

Es hatte immer noch nicht ausreichend geregnet. Dichte Scharen von Möwen kreisten über den vom Flachwasser freigelegten Kanalrohren der städtischen Abwässer. Es stank nach Fäkalien und verwesenden Fischen, die durch den Sauerstoffmangel des Flusses verendet waren und mit den Bäuchen nach oben gekehrt im Wasser trieben.

In der Telefonzelle wählte Sandra zunächst Olivers Telefonnummer. Oliver besaß ein schnelles, schweres Motorrad, das genau richtig war für die Verfolgung eines Mittelklassewagens.

Sandra hatte Glück. Oliver war gerade heimgekommen. „Bist du heute abend frei?“ überfiel ihn Sandra.

Oliver lachte überrascht. „Warum? Willst du mich wieder zu einer Spezialfete einladen?“ fragte er.

„Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mich heute abend am Hafen abholen?“ bat Sandra.

„Eigentlich bin ich mit Andrea verabredet. Was liegt denn an?“

Sandra erklärte es ihm.

„In Ordnung. Ich verschiebe den Treff mit Andrea auf morgen. Wann soll ich da sein?“ fragte Oliver.

„Gegen neun. Aber komm nicht zum ‚Anker’. Warte an der Telefonzelle auf mich“, bat Sandra, und sie beschrieb Oliver den Weg dorthin.

Dann rief sie ihre Mutter an und berichtete ihr, daß sie ausnahmsweise Maria am Abend vertreten müsse.

Ihre Mutter erhob zunächst Einwände. Doch Sandra versprach, künftig wieder pünktlich nach Hause zu kommen, und da willigte die Mutter in die Vertretung ein.

Anschließend spazierte Sandra zum Fluß hinunter und legte sich auf einer Bank in die Sonne.

Als sie nach etwa einer Stunde aufstand, fühlte sie sich benommen. Ihr Gesicht glühte, und ihre Oberschenkel brannten wie Feuer.

Das konnte eine schlimme Nacht werden. Doch wenn sie überstanden war, würde die Röte in Bräune übergehen, und Sandra war ihrer Idealvorstellung von einem gutaussehenden Teeny einen Schritt nähergekommen.

Im „Anker“ fand Sandra auf dem Küchentisch eine an sie gerichtete Mitteilung:

„Ich bin mit Maria in die Stadt gefahren. Bitte, räume die Spülmaschine aus und putze eine Lage Kopfsalat und die Karotten im Korb auf der Anrichte. Bin rechtzeitig aus der Klinik zurück. Karola Siegmund.“

Bevor Sandra die Aufträge erledigte, erfrischte sie sich mit einer Limonade. Hungrig war sie nicht. Frau Siegmund legte ihr zu Mittag stets so große Portionen Fleisch und Gemüse auf, daß Sandra bis zum Abendessen satt war.

Sie hörte Stimmen in der Gaststube, schob den Schieber der Durchreiche zurück und streckte ihren Kopf ins Lokal.

Ingo unterhielt sich mit zwei vor dem Tresen stehenden Gästen.

Sandra winkte ihm zu, damit er wußte, daß sie zurück war, schloß die Durchreiche und machte sich an die Arbeit.

Sie wartete auf eine Gelegenheit, sich mit Ingo unterhalten zu können. Sie hoffte, die Gäste würden gehen und Ingo käme zu ihr in die Küche, so daß sie ihn über seine Pläne für den heutigen Abend ausfragen könnte.

Doch das Lokal wurde nicht leerer. Und wenig später kam Frau Siegmund nach Hause. Sie zeigte Sandra, wie die Bons für die Bestellungen in die Registriermaschine gedrückt werden mußten und half ihr, Servietten und Bestecke auf den Tischen auszulegen.

Bald darauf setzte der Abendbetrieb ein.

Sandra fand es zunächst peinlich, die Gäste nach ihren Wünschen zu fragen, obwohl sie eigentlich nicht schüchtern war. Doch es kostete sie Überwindung, den interessierten Blicken der Männer standzuhalten, die die neue Bedienung mit Scherzworten begrüßten. Und sie wandte sich lieber den Tischen zu, an denen Schiffer mit ihren Familien saßen.

Einige Hafenarbeiter protestierten gegen diese Bevorzugung und reklamierten, daß sie schon länger darauf warteten, bedient zu werden.

Doch im allgemeinen fand Sandra die Gäste geduldig und nachsichtig.

Maria trug nicht selten fünf oder sechs Tellergerichte. Sandra, die ihrer eigenen Geschicklichkeit mißtraute, rannte mit jedem einzelnen Teller durch das Lokal. Besonders schlimm fand sie es jedoch, die schweren Tabletts mit Getränken zu servieren. Und sie drängte Ingo immer wieder: „Mach die Gläser nicht so voll!“

Ingo reagierte auf ihre Bitte mit einem niederträchtigen Grinsen und füllte die Gläser bis zum Rand.

Mitten im turbulentesten Betrieb läutete im Lokal das Telefon.

Ingo forderte Sandra mit einem Zuruf auf, das Gespräch anzunehmen.

„Kann ich bitte Sandra Faber sprechen?“ fragte eine Mädchenstimme. Es war Andrea. „Sandra, ich habe gerade von Oliver gehört, was ihr vorhabt. Du hast was rausbekommen, nicht?“ fragte sie aufgeregt.

Ingo blickte fragend vom Tresen herüber, und Sandra signalisierte ihm, daß das Gespräch ihr galt.

„Ich habe zu tun, Andrea“, bedauerte sie. Doch dann brach die lange zurückgedrängte erwartungsvolle Anspannung, in der sie sich seit Herrn Seibolds Anruf befand, durch. Zitternd vor Erregung sagte sie: „Ich glaube, heute abend ist er dran. Die Polizei beschattet ihn. Torsten wird bestimmt bald frei sein!“

„Wißt ihr schon, was er treibt?“

„Ich nicht, aber die Kripo bestimmt, sonst würden sie ja nicht so sicher sein, ihn heute festnehmen zu können.“

„Und wenn er es abstreitet — ich meine die andere Sache?“

Ein Gast war an den Zigarettenautomaten neben der Telefonbox getreten. Er suchte umständlich in seiner Geldbörse nach Münzen, wobei er Sandra beobachtete und, wie es ihr schien, ihr Gespräch zu belauschen versuchte.

Es war ein sehr junger Mann, mit einem T-Shirt und knappsitzenden Hosen bekleidet. Könnte er einer von Ingos Freunden sein? Hatte die Bande von ihren Aktivitäten Wind bekommen? War sie unvorsichtig gewesen, als sie Ingo auszuhorchen versuchte?

Sandra sagte hastig: „Ich muß Schluß machen, Andrea!“

Im selben Moment glaubte Sandra ein Klicken in der Leitung zu hören. Sie erschrak. Sollte Frau Siegmund das Telefon läuten gehört und Sandras Gespräch am Nebenapparat in der Küche mitgehört haben...?

Sie hängte rasch den Hörer ein, eilte an die rechts von der Box gelegene Durchreiche und spähte in die Küche.

Doch Frau Siegmund richtete, am Küchentisch stehend, einen Bratenteller an, und Sandra schalt sich selbst übernervös, sie mußte sich geirrt haben. Auch der Gast am Zigarettenautomaten kehrte, nachdem er ein Päckchen Zigaretten gezogen hatte, zu seinem Tisch zurück, ohne Sandra weiter zu beachten.

Gegen acht Uhr kam Maria nach Hause.

Sandra rechnete mit ihr die Bestellungen anhand der abgegebenen Bons ab und übergab ihr das eingenommene Geld. Sie war sehr stolz, als sich herausstellte, daß sie für nahezu hundertfünfzig Mark Essen und Getränke serviert hatte.

Zu ihrer Überraschung zahlte Maria ihr 22,50 Mark anteilige Bedienungsprozente aus.

Sandra wußte vor Freude nicht, was sie dazu sagen sollte.

Maria, die sich in einer ungewohnt freundlichen Stimmung befand, meinte lächelnd: „Hat sich doch gelohnt, nicht? Vielleicht magst du mich öfter vertreten?“

Das brachte Sandra in die Wirklichkeit zurück. „Wäre nicht schlecht“, erwiderte sie unverbindlich und ging, um ihren Verdienst in ihre Geldbörse zu stecken.

Frau Siegmund blickte nicht auf, als Sandra in die Küche trat.

„Ich habe 150 Mark kassiert, Frau Siegmund“, berichtete ihr Sandra stolz.

„Ach, ja?“ erwiderte Frau Siegmund zerstreut und fuhr in ihrer Beschäftigung fort.

Doch als Sandra ihre Schultertasche in den ihr zugewiesenen Schrank zurückgehängt hatte und sich beim Zudrücken der Schranktür umwandte, fing sie einen merkwürdig nachdenklichen Blick auf, mit dem die Wirtin sie musterte.

Wieder beschlich Sandra das unbehagliche Gefühl, daß Frau Siegmund ihr Telefongespräch belauscht haben könnte.

Ihr Verdacht verstärkte sich, als die Wirtin weiterhin einsilbig ihre Arbeit verrichtete, während sie sich sonst mit Sandra unterhielt.

Um das ungemütliche Schweigen zu brechen, fragte Sandra schließlich: „Wie geht es Ihrem Mann heute, Frau Siegmund?“

Die Wirtin blickte auf und sagte überraschend scharf: „Wieso interessiert dich das immerzu?“

„Ich... Nur so“, stammelte Sandra, über die Zurechtweisung erschrocken.

„Du solltest dich lieber um deine Arbeit kümmern. Sieh dir mal die Radieschen an. Das nennst du sauber putzen?“ zankte die Wirtin.

In Sandras verlegen gemurmelte Entschuldigung platzte Ingo. „Ich dusche jetzt, und dann verschwinde ich“, sagte er eilig, hängte seine weiße Kellnerjacke an den Haken neben der Tür und stürmte nach oben.

„Was starrst du Ingo nach? Hier, die ,Anker’-Platte, und sag Maria, daß die Küche jetzt geschlossen ist. Sie soll keine Bestellungen mehr annehmen“, fuhr Frau Siegmund fort und hielt Sandra den Teller entgegen.

Sandra führte gehorsam die Anordnungen aus.

„Du kannst jetzt gehen“, sagte Frau Siegmund und fügte in freundlicherem Ton hinzu: „Wie kommst du denn nach Hause? Es wird bald dunkel. Willst du nicht lieber dein Fahrrad stehenlassen? Ich könnte dir ein Taxi rufen.“

„Nein, vielen Dank. Ein Freund holt mich mit dem Motorrad ab“, erwiderte Sandra, zog ihre weiße Kleiderschürze aus und hängte sie neben Ingos Jacke an den Kleiderhaken.

Sie nahm ihre Schultertasche aus dem Schrank und verabschiedete sich von Frau Siegmund.

Als Sandra auf die Straße hinaustrat, sah sie in der Nähe des Restaurants einen Mann am Steuer eines Autos sitzen. Er las eine Zeitung, und es sah aus, als wartete er auf jemanden.

Im Vorbeigehen warf Sandra einen Blick in den Wagen. Es durchfuhr sie wie ein Blitz, als ihre Augen sich mit denen des Mannes trafen. Sandra erkannte den Fahrer wieder, trotz der blauen Jeanskappe, die er jetzt trug.

Es war der Gast, von dem sie vermutet hatte, daß er ihr Telefongespräch mit Andrea zu belauschen versucht hatte.

Sandra wurde es heiß vor Angst. Sie nahm ihre Schultertasche in die Hand und fing an zu laufen.

Oliver wartete bereits auf sie.

„Ich muß schnell noch telefonieren!“ rief Sandra ihm zu. Sie stürzte in die Telefonzelle, wählte das Polizeipräsidium und ließ sich mit dem Büro von Oberinspektor Ruhwedel verbinden. Inspektor Panke war im Dienst und meldete sich.

„Ingo Baumann fährt gleich weg“, berichtete Sandra ihm aufgeregt.

„Von wo rufst du an?“ wollte Panke wissen.

„Von einer Telefonzelle nicht weit vom ,Anker’. Ich habe gerade Feierabend gemacht. Da wartet ein Typ im...“

Panke ließ sie nicht ausreden. „Fahr sofort nach Hause und überlasse alles andere der Funkstreife“, befahl er Sandra knapp.

Idiot! Das hast du dir so gedacht! schimpfte Sandra in sich hinein, während sie den Hörer einhängte. Pankes Befehlston hatte sie geärgert.

„Du, Oliver! Um die Ecke sitzt ein Typ im Wagen, dem traue ich nicht. Fahr mal vorsichtig heran — aber so, daß er uns nicht bemerkt“, sagte Sandra zu Oliver.

Sie band ein Kopftuch um ihre Haare, setzte ihre Sonnenbrille auf und kletterte auf den Soziussitz.

Oliver startete die schwere Maschine. Er fuhr fast bis zur Einbiegung in die Hafenstraße und ließ das Motorrad die letzten Meter im Leerlauf ausrollen.

Der Wagen mit dem zeitunglesenden Typ am Steuer stand noch immer da.

Wenige Minuten später schob sich der grüne Kombi der Siegmunds aus der Privatausfahrt.

Als er auf der Hafenstraße angelangt war, beschleunigte er, und dann fuhr Ingo in rascher Fahrt an der Einbiegung vorbei.

„Los, hinterher!“ rief Sandra Oliver zu.

Oliver startete mit einem Blitzstart, der die Räder durchdrehen ließ. Doch er hatte seine Maschine in der Gewalt, und sie brausten in die Hafenstraße — wo sie knapp einem Zusammenstoß mit einem von links kommenden Auto entgingen.

Es war das Auto, das der Junge mit der Jeansmütze fuhr. Während Sandra sich auf Ingo konzentrierte, war ihr entgangen, daß der Fahrer seine Zeitung auf den Nebensitz geworfen und sein Auto gewendet hatte.

In der knappen Sekunde, in der die beiden Fahrzeuge, einander ausweichend, sich auf gleicher Höhe befanden, bemerkte Sandra, daß der Fahrer des Wagens in ein Funkgerät sprach, oder gesprochen hatte, denn im Moment erforderte das von rechts kommende Motorrad seine Aufmerksamkeit.

Sandra begann zu begreifen, daß es sich um einen Zivilfahnder der Polizei handelte.

Das erschien ihr einesteils erfreulich, denn es bestätigte ihr, daß die Polizei Ingo überwachte. Andererseits bedeutete es aber auch, daß die Polizei ihre Eigenmächtigkeit erkannte und nun wußte, daß Sandra ebenfalls Ingo folgte.

Sandra versuchte Oliver klarzumachen, daß er sich zurückhalten und nicht zu dicht an Ingo oder dessen Verfolger heranfahren durfte.

Doch Oliver trug einen Sturzhelm und hörte Sandras Rufen nicht.

Kurz vor der Zufahrt zum Stadtkern bog Ingo in nördlicher Richtung ab.

Hinter ihm schaltete die Ampel auf Gelb.

Drei Autos trennten sie von Ingo. Der Wagen mit dem Zivilfahnder am Steuer folgte Ingo über die Kreuzung. Die beiden anderen Autos stoppten vor dem Haltesignal der Ampel.

Zum Glück dauerte die Rotphase an dieser Nebenstrecke nicht so lange wie auf den durchgehenden Hauptverkehrsstraßen. Oliver war ein sicherer, geschickter Motorradfahrer. Wenig später sichteten sie den grünen Kombi in der Ferne. Und diesmal hielt Oliver sich in einiger Distanz hinter ihm, nachdem Sandra ihn beim Halt an der Ampel auf diese Notwendigkeit hingewiesen hatte.

Seltsamerweise war das Auto des Zivilfahnders verschwunden.

Doch jetzt löste sich ein Motorrad vom Straßenrand, und Sandra vermutete, daß die hochtourige Maschine von einem Streifenpolizisten gefahren wurde.

Er blieb einige Straßenzüge weit neben ihnen. Dann bog die Maschine ab, und Sandra sah, daß sie sich geirrt hatte. Erschrocken stellte sie fest, daß Ingo der Polizei entwischt war.

Sie überlegte, ob sie von der nächsten Telefonzelle aus die Polizei informieren sollte, in welcher Richtung Ingos Wagen gefahren war.

Doch sie hatten den Wohnbezirk inzwischen verlassen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung war aufgehoben. Die Autokolonnen waren schneller geworden, und Sandra mußte befürchten, Ingo ebenfalls zu verlieren, während sie an einer Tankstelle anhielten, um zu telefonieren.

Die Fahrzeuge fuhren jetzt alle mit eingeschalteten Scheinwerfern, und auch die Neonleuchten an den Straßenrändern brannten.

Oliver schickte sich zum Überholen der zwischen ihm und Ingo fahrenden Autos an. Da sahen sie, daß Ingo den rechten Blinker setzte und sich in die nach rechts abbiegende Fahrspur einordnete.

Oliver war bereits auf die Überholspur ausgeschert. Und bevor er seinen Überholvorgang beendet hatte und sich wieder in die mittlere und von dort auf die nach rechts abbiegende Fahrspur einordnen konnte, war Ingo in der Zufahrt zu einer Wohnsiedlung verschwunden.

Oliver hatte die Abfahrt verpaßt.

Er fuhr bis zur nächsten Ausfahrt und hielt am Straßenrand an. „Was jetzt?“ fragte er Sandra. Er nahm seinen Sturzhelm ab und trocknete mit einem Taschentuch seinen Nacken und das Gesicht. Der schwere Helm und der luftdichte Synthetikanzug hatten ihn ins Schwitzen gebracht, während Sandra in ihren dünnen Jeans und der leichten Strickjacke trotz der schwülen Sommernacht fröstelte.

„Soll ich wenden und ihm folgen? Oder wollen wir von dieser Seite aus in die Siedlung fahren? Vielleicht parkt der Kombi irgendwo am Bürgersteig.“

„Die Siedlung hat bestimmt mehrere Seitenstraßen. Bis wir die alle abgefahren haben, kann Ingo längst wieder unterwegs sein“, überlegte Sandra. „Du, vielleicht wohnen seine Freunde da und Ingo holt sie ab? Dann wird er sich nicht lange dort aufhalten.“

„Möglich — aber in welcher Richtung fahren sie dann? Kommen sie hier vorbei, oder fahren sie in die Stadt zurück? Wenn wir bloß wüßten, was sie Vorhaben! Sag, was wir machen sollen“, forderte Oliver mißmutig. Er ärgerte sich über ihr Pech und auch darüber, daß er hier seine Zeit verschwendete, anstatt sich mit Andrea einen schönen Abend zu machen.

Sandra biß sich ratlos auf die Lippen.

„Ich fahre jetzt durch die Siedlung“, beschloß Oliver, als Sandra sich nicht äußerte. „Wenn wir ihn da nicht finden, bringe ich dich heim. Es war überhaupt eine Irrsinnsidee von dir, in der Dunkelheit ein Auto zu verfolgen!“

Er setzte seinen Sturzhelm auf — als Sandra plötzlich schrie: „Da kommt er! Los, Oliver, gib Gas. Die Ampel hat noch grün. Wir müssen über die Kreuzung, bevor sie umschaltet.“

Oliver ließ die Maschine an, wendete und donnerte mit aufheulendem Motor auf die Ampel zu.

Sie schaltete im selben Moment auf Rot, als er sie passierte. Doch sie befanden sich auf der Fernstraße, nicht weit hinter dem Kombi, und Sandra trommelte Oliver vor Begeisterung mit den Fäusten auf den Rücken.