Gesine bekommt noch mehr Probleme
Nachdem das Ehepaar Franke sich verabschiedet, und Gesine ihrer Oma beim Abwaschen des Geschirrs geholfen hatte, ging Gesine in ihr Zimmer und wickelte die Brosche in ein Stück Luftpostpapier.
Geschenkpapier besaß sie leider nicht. Doch das Papier für Luftpostbriefe war blau und seidig wie Geschenkpapier. Gesine benutzte es für die Korrespondenz mit ihrer Brieffreundin in Australien.
„Gesine!“ rief ihr Großvater aus der Küche.
„Ich komme!“ erwiderte Gesine. Schnell verschloß sie das kleine Päckchen mit Klebeband und versteckte es in ihrer Geldbörse.
„Gesine“, sagte ihre Oma in der geöffneten Tür.
Es ärgerte Gesine, daß ihre Oma nicht anklopfte, bevor sie Gesines Zimmer betrat. Schließlich war Gesine schon vierzehn. Gesines Mutter hatte diese gegenseitige Rücksichtnahme bereits vor zwei Jahren zu Hause eingeführt.
Doch Oma Bollerhey behandelte Gesine immer noch als kleines Kind. Das war recht unangenehm, vor allem deshalb, weil sie Gesine einmal beinahe dabei überraschte, wie sie einen gestohlenen Silberreif an ihrem Handgelenk am Fenster in der Sonne funkeln ließ. Gesine hatte gerade noch rechtzeitig das Armbündchen ihrer Bluse darüberziehen können.
„Was ist denn, Oma?“ fragte Gesine.
„Opa möchte etwas trinken. Lauf mal zur Gastwirtschaft hinüber um zwei Flaschen Bier.“
„Ich möchte doch zu Sandra gehen.“
„Dazu ist es jetzt zu spät. Um neun geht man nicht mehr zu fremden Leuten“, bestimmte ihre Oma.
„Fabers sind keine fremden Leute“, wandte Gesine ein.
„Trotzdem! Es schickt sich nicht, beim Fernsehen zu stören.“
Bei Oma und Opa Bollerhey drehte sich alles ums Fernsehen. Bei den meisten anderen Leuten auch, überlegte Gesine. Am Wochenende waren nur deshalb gegen Abend die Zufahrtsstraßen in die Stadt mit Autos verstopft, weil jedermann von seinen Ausflügen rechtzeitig zum Beginn des Fernsehprogramms zu Hause sein wollte.
Doch Fabers, das wußte Gesine, bildeten darin eine Ausnahme.
Nur wenn Frau Faber im Nachtdienst war, schaltete Sandra Spielfilme ein.
Doch heute abend blieb Frau Faber zu Hause. Im ersten Programm gab es einen Tatort, und das ZDF sendete eine Oper. Da blieb bei Fabers die „Glotze“ bestimmt dunkel. Krimis waren Frau Faber zu aufregend. Da konnte sie anschließend nicht schlafen, sagte Sandra. Und Oper langweilte sie; davon verstanden sie beide nichts.
Dennoch wagte Gesine nicht, ihrer Oma noch einmal zu widersprechen. Sie war daran gewöhnt, zu tun, was man von ihr verlangte. Ihr Vater war so lange krank gewesen, daß Gesine früh gelernt hatte, folgsam zu sein, um ihn nicht aufzuregen.
Hier regte Opa sich auf, wenn es Ärger mit Gesine gab. Deshalb vermied sie es, sich eigenwillig zu zeigen.
Gesine nahm von Opa den Beutel mit zwei leeren Flaschen und Geld fürs Bier in Empfang.
Sie würde Sandra trotzdem ihr Geschenk überbringen. Sandra wohnte schräg gegenüber von „Willis Kneipe“. Gesine wollte bei ihr klingeln und das Päckchen abgeben.
Vielleicht war es sogar besser, wenn sie nicht dabei war, während Sandra es öffnete. Frau Faber könnte unangenehme Fragen nach dem Fundort der Brosche stellen. Gesine besaß zwar einige Übung im Lügen — Notlügen, um niemanden zu Hause aufzuregen, wie sie es vor sich selbst rechtfertigte — , doch Frau Fabers Herzlichkeit verwirrte sie leicht, und dann erzählte sie Dinge, die sie nie ausplaudern wollte. Gesine war das schon mehrmals passiert.
Als Gesine aus der Haustür trat, sah sie weiter unten Sandra die Straße überqueren und in „Willis Kneipe“ gehen.
Gesine packte den Beutel fester und lief. In der Gastwirtschaftstür, die wegen der sommerlichen Hitze offenstand, prallte sie fast mit Sandra zusammen.
Sie trat mit ihr auf den Bürgersteig zurück. „Ich konnte nicht mehr kommen. Wir hatten Besuch. Habt ihr lange auf mich gewartet?“ stieß sie atemlos hervor.
„Nö! Von den anderen war niemand da. Wir haben uns nur Eistüten gekauft“, erwiderte Sandra.
Dann wäre sie also umsonst zurückgegangen! Sie hatten ihr nicht mal Bescheid gesagt, daß sie nicht blieben.
Gesine schluckte enttäuscht. „Ihr hattet gesagt, ihr würdet warten. Ich sollte zurückkommen“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Bist du aber doch nicht, oder?“ erwiderte Sandra angriffslustig. Sie und Joschi hatten sich nichts dabei gedacht. Gesine hätte ja gleich mit reingehen können. Es war in ihrer Clique nicht üblich, daß man aufeinander wartete, es sei denn, man hätte geplant, gemeinschaftlich etwas zu unternehmen. Jeder kannte die Orte, an denen man sich aufhielt: mal an der Kirche, mal vor der Schule, in der Eisdiele oder am Denkmal im Park. Man suchte halt so rum, bis man jemanden traf. Und es war nicht tragisch, wenn man vergebens suchte. Hauptsache, man hatte Spaß dabei gehabt. Die meisten von ihnen gingen ohnehin paarweise oder in Gruppen.
Gesine nicht. Jetzt, wo Gesine sie darauf aufmerksam machte, verstand Sandra, daß Gesine sich von ihnen versetzt fühlen konnte.
Das ärgerte Sandra. Sie ließ sich nicht gern unkameradschaftlich schelten. „Stell dir vor, wir hätten gewartet. Dann würden wir ja jetzt noch da sitzen“, hielt sie Gesine vor.
„Ja, sicher. Ich hatte ja versprochen, sofort zurückzukommen“, räumte Gesine ein. „Meine Oma ließ mich nicht fort.“
„Sind wir also quitt“, stellte Sandra fest.
Während sie miteinander redeten, waren zwei etwa fünfzehnjährige Jungen mit ihren Freundinnen auf den Rücksitzen ihrer Mofas vor „Willis Kneipe“, vorgefahren. Die Mädchen trugen Beutel mit leeren Flaschen.
Gesine wollte vor ihnen bedient: werden. An heißen Wochenenden ging Willi manchmal das Flaschenbier aus.
„Ich hole schnell Bier. Wartest du solange? Ich habe etwas für dich. Warte hier, ja?“ drängte Gesine.
„Ich muß heim. Mein Bruder heult bestimmt schon nach seinen Zigaretten“, sagte Sandra und zeigte Gesine die Zigarettenschachtel, die sie in der Hand hielt. „Er ist am See in eine Glasscherbe getreten und kann nicht gehen.“
Gesine öffnete ihre Geldbörse und nahm das Päckchen heraus. „Hier“, sagte sie, vor Aufregung errötend. „Das schenke ich dir.“
„Mir...?“ Sandra nahm verwundert das Päckchen, riß das Klebeband auf und wickelte die Brosche aus.
Die Mädchen gingen mit ihren Beuteln in die Gastwirtschaft. Die Jungen zündeten sich Zigaretten an und musterten Sandra und Gesine.
Sandra starrte entgeistert auf die Brosche.
„Die schenke ich dir“, wiederholte Gesine.
„Verrückt!“ sagte Sandra. „Wozu? Weshalb willst du mir die schenken?“
„Weil sie dir gefällt. Und weil ich möchte, daß wir Freundinnen sind“, setzte Gesine ehrlich hinzu.
„Freundschaft kann man nicht kaufen.“
Gesine war dem Weinen nahe. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß Sandra ihr Geschenk zurückweisen würde. „Ich wollte nur nett zu dir sein. So habe ich das nicht gemeint.“
„Ich auch nicht“, sagte Sandra. Sie schämte sich. Sie war zu Gesine so kratzbürstig gewesen, wie sie nur sein konnte, um sie zu vergraulen. Sie fand es furchtbar, daß Gesine sie dafür auch noch belohnte.
Nein, sie durfte die Brosche nicht annehmen. Außerdem band sie sie an Gesine, selbst wenn Gesine versicherte, daß das Geschenk nichts weiter bedeute, als eine freundschaftliche Geste. Wenn Sandra die Brosche annahm, würde sie sich Gesine immer verpflichtet fühlen.
„Ich will sie nicht“, sagte Sandra. „Sie gehört ja nicht einmal dir.“
„Ich habe sie gefunden.“
„Trotzdem gehört sie dir nicht!“ schrie Sandra.
„Sie ist ja nicht viel wert.“
„Woher willst du das wissen?“
„Joschi hat‚s auch gesagt. Du kannst sie ruhig behalten. Bitte, Sandra...!“
Es machte Sandra unglücklich, daß Gesine so hartnäckig darauf bestand. Noch schlimmer fand sie es, daß sie Gesines Freundschaft so brutal-offen zurückweisen mußte, um sie endlich zur Vernunft zu bringen, um ihr klarzumachen, daß Gesine sich eine andere Freundin suchen mußte.
Die beiden Mofafahrer hatten sich näher geschoben. Der größere von ihnen, ein sandhaarfarbener, magerer Junge, blickte neugierig über Sandras Schulter. „Was habt ihr denn da?“
„Geht dich nichts an“, erwiderte Sandra. Sie kannte die Jungen nicht. Sie hatte sie noch nie in ihrer Straße gesehen. Auch die Mädchen, die vorhin in „Willis Kneipe“ gegangen waren, erschienen ihr fremd.
„‚ne heiße Sache?“ fragte der andere, der untersetzt und dunkelhaarig war.
„Zeig doch mal!“ forderte der Große.
Sandra zerknüllte wortlos das Papier über der darinliegenden Brosche und drückte es Gesine in die Hand. „Du weißt ja, was wir besprochen haben“, sagte sie und gab sich geheimnisvoll, um die Jungen zu ärgern. „Bring‚s dahin, wo wir gesagt haben.“ Damit meinte sie, Gesine sollte die Brosche auf dem Fundbüro abgeben.
„Sandra!“ rief ihr Bruder Rainer aus einem Fenster ihrer schräg gegenüberliegenden Wohnung.
„Ich komme!“ signalisierte Sandra, ihm mit den Zigaretten zuwinkend. Sie lief über die Straße.
Gesine ging an den herauskommenden Mädchen vorbei in die Kneipe, um Opas Bier zu kaufen.
Das Gastzimmer war leer bis auf die übliche Samstagabendskatrunde am Stammtisch neben der Tür.
Gesine tauschte ihre zwei leeren Bierflaschen gegen zwei volle um, zahlte und verließ mit hängenden Schultern das Lokal.
Sie war zutiefst verletzt. Sie hatte nett zu Sandra sein wollen. Doch statt sich darüber zu freuen, schrie Sandra sie an und schalt sie aus.
Das hatte sie nicht verdient.
Sie brauchte Sandra nicht. Gesine brauchte überhaupt niemanden. Sie kam sehr gut allein zurecht.
Doch warum? Warum stieß Sandra sie zurück...?
Ein Zuruf schreckte Gesine aus ihren Überlegungen. „He, kommst du mal? Pst!“
Ein Mädchen zischte es Gesine aus einer Toreinfahrt zu, an der Gesine auf dem Bürgersteig vorbeiging. Es schien eine der Freundinnen der Jungen zu sein, die in „Willis Kneipe“ eingekauft und Gesine vorhin auf ihren Mopeds überholt hatten.
Neugierig trat sie näher.
Als sie in den Schatten des Torbogens eingetaucht war, faßte das Mädchen blitzschnell nach Gesines Handgelenk und drehte ihr nach Art eines Polizeigriffes den Arm auf den Rücken. „Komm mit!“
Gesine war von dem Überfall so überrascht, daß sie weder schreien noch sich zu wehren vermochte.
Das Mädchen schien etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt zu sein. Es war dunkelhaarig und von kräftiger Figur. Später erfuhr Gesine, daß es vierzehn Jahre alt war und Hortense hieß.
Hortense führte Gesine in einen Hof, in dem alte, rostige Metallstangen, Rohre und Autokühler lagerten. Er gehörte zu einer Klempnerei, deren Werkstatthalle am Wochenende geschlossen war. Das Vorderhaus beherbergte eine Buchdruckerei.
In einer Ecke des Hofes warteten die beiden Mofafahrer mit dem anderen Mädchen.
Hortense ließ Gesines Arm los und stieß sie auf den Langen zu. „Da, nimm sie in die Mangel, Fedor!“
„Was wollt ihr von mir?“ fragte Gesine in Panik.
„Den Klunker! Raus damit!“ befahl der Lange, den Hortense Fedor nannte, und rempelte Gesine mit seiner Hüfte in die Seite, daß sie taumelte.
„Laßt mich gehen, bitte! Ich habe euch nichts getan“, stammelte Gesine. Sie wandte sich um, um zu fliehen, prallte dabei jedoch gegen Hortense, die hinter ihr stand.
Hortense drehte ihr erneut den Arm auf den Rücken; diesmal so schmerzhaft, daß Gesine aufschrie.
„Den Schmuck!“ forderte Fedor.
Gesine wimmerte.
„Laß sie los, Hortense“, befahl Fedor.
Hortense gehorchte. Gesine zog ihren Kopf zwischen die Schultern, um den Schmerz zu mildern.
„Na...?“ mahnte Fedor und schnippte mit Daumen und Zeigefinger.
Gesine holté ihre Geldbörse aus dem Beutel mit den Bierflaschen. Doch bevor sie sie öffnen konnte, riß das andere Mädchen ihr die Börse aus der Hand und reichte sie dem dunkelhaarigen, dicklichen Jungen. Der Junge nahm das blaue Papierknäuel heraus, wickelte es auf und reichte Fedor die Brosche.
„Sieh nach, wieviel Geld drin ist, Roland“, befahl Fedor. Er begutachtete die Brosche und drehte sie nach allen Seiten, um ihren Wert festzustellen.
„Zwei Mark sechzig“, berichtete Roland, nachdem er Gesines Geldbörse überprüft hatte.
„Es gehört meinem Großvater. Ihr dürft es mir nicht wegnehmen. Er hat mir fünf Mark gegeben, um Bier zu holen“, jammerte Gesine.
Fedor beachtete sie nicht. Er beschäftigte sich noch immer mit der Brosche.
„Auf wieviel schätzt du sie?“ fragte Hortense.
„Wo hast du sie geklaut?“ fragte Fedor Gesine.
„Ich habe sie gefunden“, sagte Gesine.
„Hortense!“ sagte Fedor. Es klang wie ein Befehl.
Es war ein Befehl. Hortense verstand ihn. Sie holte aus und schlug Gesine ins Gesicht.
„Wo solltest du sie abliefern?“ fragte Fedor.
„Ich... ich...“ Gesine konnte vor Weinen nicht sprechen.
„Du hast mit deiner Freundin darüber gesprochen. Für wen arbeitet ihr?“
Gesine verstand den Sinn der Frage nicht. „Ich... ich weiß nicht.“
„Hortense!“ befahl Fedor erneut.
Gesine hob schützend den Beutel vor ihr Gesicht. „Ich sag‚sja!“
„Also?“ fragte Fedor.
„Ich habe sie gestohlen.“
„Na also! Weshalb nicht gleich so“, sagte Fedor. „Und jetzt erzählst du uns noch, wer euch den Auftrag dazu gibt und wo ihr arbeitet. Zu wie vielen seid ihr?“
„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich kenne niemanden.“
„Vielleicht ihre Freundin? Die scheint clever zu sein. Vielleicht macht sie den Boß, und die hier steht nur Schmiere“, vermutete Roland.
„Nein, bestimmt nicht!“ widersprach Gesine, die Angst hatte, die Bande würde auch Sandra kidnappen und ihr verraten, daß Gesine eine Diebin war. „Sandra weiß nichts davon. Ich hab‚s allein gemacht. Sie denkt, ich hätte die Brosche gefunden.“
„Und wohin solltest du sie bringen?“ fragte Fedor mißtrauisch.
„Zum Fundbüro.“
Die vier lachten wie toll.
„Kann ich jetzt gehen?“ fragte Gesine.
Fedor bewegte verneinend den Zeigefinger. „Eh-eh! Du arbeitest also allein, ja? — In Zukunft arbeitest du für uns, klar?“ sagte er, als Gesine nickte.
Gesine starrte ihn an.
„Wieviel Beute hast du bisher gemacht?“
„Beute...? Ich hab nur mal ein paar Ohrclips und so Sachen... Modeschmuck... im Kaufhaus eingesteckt“, stammelte Gesine. Sie hatte plötzlich furchtbare Angst. Die Ohrfeige von Hortense hatte sie nicht so erschreckt wie die Entdeckung, daß sie einer kriminellen Jugendbande in die Hände geraten war. „Es ist nichts wert, wirklich, ihr müßt mir glauben“, sagte Gesine beschwörend.
„Die Brosche auch?“ fragte Hortense zweifelnd.
Gesine nickte heftig. „Ich habe sie in der Konfektionsabteilung bei Röttgers eingesteckt. Da gibt‚s keinen echten Schmuck.“
„Sie lügt“, sagte das andere Mädchen, das sich bisher zurückgehalten hatte. Als sie jetzt den Mund öffnete, sah Gesine weshalb: Sie trug Stahlklammern, die ihre Zähne ausrichten sollten.
„ Das wird Anton entscheiden. Du bringst ihm morgen die Brosche, Klaudia“, sagte Fedor zu dem Zahnklammermädchen.
Er wandte sich an Gesine. „Wie heißt du?“
„Gesine Bollerhey.“
„Wohnst du hier in der Nähe?“
„Ja, bei meinen Großeltern.“ Ihr Opa fiel ihr ein. „Ich muß heim. Mein Opa wartet auf sein Bier.“
„Da hat er ein Recht drauf“, sagte Fedor und quittierte mit selbstgefälligem Grinsen das Gelächter seiner Freunde.
„Also, hör zu, Gesine“, fuhr er fort. „Du wirst in Zukunft planmäßig arbeiten. Wo und wie erfährst du bei unserem nächsten Treff am
„Nein!“ fiel ihm Gesine ins Wort. „Nein, das mache ich nicht. Ich bin keine Diebin. Ich...“ Sie brach ab, als sie Fedors Gesichtsausdruck bemerkte.
Fedors Hand fuhr in die Gesäßtasche und brachte ein Klappmesser hervor, dessen Schneide er mit einer kurzen, heftigen Schlagbewegung herausschnellen ließ.
Gesine blickte hilfesuchend die anderen an.
Sie beobachteten Fedor gespannt und interessiert. Lediglich in den Augen des Zahnklammermädchens glaubte Gesine etwas wie Angst und Mitleid zu finden.
„Nein...?“ sagte Fedor leise, und die Buchstaben wie ein Gummiband dehnend. Ohne Gesine aus den Augen zu lassen, strich er mit der Fingerkuppe prüfend über die Schneide des Messers.
Gesine fühlte plötzlich Todesangst.
„Einmal wäre ich beinahe erwischt worden. Ich bin so ungeschickt. Nur deshalb habe ich das gesagt. Ich würde euch nur Arger machen“, log sie, um Fedor zu besänftigen.
Fedors Miene entspannte sich. „Wir finden einen geeigneten Job für dich. Du wirst uns bestimmt nicht schaden“, sagte er höhnisch.
„Und wenn doch? — Laß sie laufen, Fedor“, bat Klaudia.
„Quatsch nicht! Sie wird schon spuren!“ fuhr Fedor sie an. Er wandte sich wieder an Gesine. „Und keine Tricks, verstanden? Wir holen dich. Wir lauern dir auf und machen dich fertig. Versuche ja nicht, uns zu verpfeifen. Was meinst du, was dann mit dir passiert?“
Gesine konnte es sich denken. „Ich verrate euch nicht.“
Fedor schob die Schneide zurück und steckte das Messer ein. „Montag nachmittag um halb fünf kommst du zu unserem Treffpunkt unter der Autobahn-Südbrücke, Cityseite“, bestimmte er.
„Wo ist das?“
„Wo das ist...?“ Fedors Augenbrauen schoben sich erstaunt in die Höhe. „Du willst mich wohl verscheißern?“
„Ich bin nicht von hier. Ich wohne erst seit kurzem bei meinen Großeltern“, sagte Gesine hastig.
„Besorg dir einen Stadtplan. Den brauchst du sowieso.“
Gesine nickte.
„Jetzt verschwinde!“ brüllte Fedor sie unverhofft an.
Gesine erschrak und wich zurück.
„He!“ sagte Fedor.
Gesine blieb stehen. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
„Da siehst du, wie du spuren kannst“, lobte Fedor. „Nimm dein Geld mit, damit die Alten nichts merken.“
Gesine nahm ihre Geldbörse von Roland in Empfang und rannte los.
Ihre Großmutter empfing sie zornig an der Tür. „Ja, sag einmal, wo kommst du jetzt her? Seit fast einer Stunde wartet Opa auf sein Bier. Ja, was fällt dir denn ein?“
„Ich... Ich habe Sandra getroffen“, stammelte Gesine.
Oma riß ihr den Beutel aus der Hand. „Hatte ich dir das nicht verboten? Du gehst sofort auf dein Zimmer.“
Gesine fing an zu schluchzen.
Die Stimme ihrer Großmutter schlug unerwartet um, wurde weich und flehend. „Du fängst nicht an, dich auf der Straße herumzutreiben, nicht wahr, Gesinchen? Das tust du uns nicht an. Opa und ich sind zu alt für solche Aufregungen.“
Wenn Gesine jemals gehofft hatte, sich ihren Großeltern anvertrauen zu können, so sah sie spätestens in diesem Augenblick ein, daß sie alles allein durchstehen mußte.