Die schlechten Nachrichten häufen sich
Florian Seibold kehrte am Mittag aus der Stadt zurück. Leider ohne ein auch nur annähernd zufriedenstellendes Ergebnis, wie er seiner Haushälterin in der Küche anvertraute.
Marlene Faber war im Liegestuhl auf der Terrasse eingeschlafen. Und Herr Seibold hatte sich an ihr vorbei ins Haus geschlichen, um sie nicht aufzuwecken. Er war müde von den anstrengenden Wanderungen von Büro zu Büro und fühlte daher nicht die Kraft, sich den Fragen der verzweifelten Mutter zu stellen.
„Es ist wie verhext“, klagte er Frau Ansbach. „Die jungen Kriminalbeamten sind derart verschlossen, daß absolut nichts aus ihnen herauszuholen war. Sie halten sich streng an die Vorschriften. Sagte mir einer doch tatsächlich, daß sie mit Außenstehenden nicht über die Ermittlungen in einem schwebenden Verfahren sprechen dürften.“ Herrn Seibold ärgerte, daß er als „Außenstehender“ bezeichnet worden war, daß er nicht mehr dazu gehörte, daß er wie ein naseweiser, neugieriger Herr Jedermann abgefertigt wurde.
„Mein Freund Hermann Kresser ist mit seiner Mannschaft draußen in Hochheim beschäftigt. Heute nacht wurde dort ein Raubüberfall auf eine Nachtbar verübt, wobei der Besitzer und eine Barfrau schwer verletzt wurde“, fuhr er grollend fort. „Ich habe nichts erreicht. Kein Mensch war zu sprechen. Und mein Herr Sohn treibt sich eines Kredit-Hais wegen auf dem Gericht herum. Mir hätte man früher mit solchem Auftrag nicht kommen dürfen. Die Not armer Leute auszunutzen, die in Schwierigkeiten geraten sind, und sich dann auch noch als Menschenfreund hinzustellen, das habe ich gern! — Was gibt‚s denn zu Mittag?“
Florian Seibold hob den Deckel vom Schmortopf, wedelte den aufsteigenden Kochdunst beiseite und begutachtete den Inhalt. „Hm, Szegediner Gulasch!“
„Die Kripo war heute morgen bei meiner Tochter. Sie haben nach der Pistole gefahndet, mit der auf Eva geschossen wurde“, berichtete Frau Ansbach, nahm Herrn Seibold den Deckel ab und deckte den Topf wieder zu.
„Ja, ich weiß. Die Petry hat mir‚s erzählt. Ich war auf dem Rückweg noch einmal in der Kanzlei, um zu sehen, ob ich meinen Sohn schließlich doch noch erwischen könnte. Aber er fährt vermutlich direkt vom Gericht zum Essen nach Hause.“ Herr Seibold schüttelte den Kopf. „Das hat‚s bei mir auch nicht gegeben. Mir genügte ein Kaffeehausbesuch am Mittag, um sofort Weiterarbeiten zu können.“
„Leider!“ betonte Frau Ansbach. „Das übermäßige Kuchenessen hat Ihnen schließlich auch das Übergewicht und den Diabetes eingebracht.“
Herr Seibold pfiff Susi und verließ die Küche, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen und ein frisches Oberhemd anzuziehen.
„Herr Seibold, was wird denn nun?“ rief Frau Ansbach ihm nach.
Doch Herr Seibold gab sich beleidigt wegen der Vorwürfe seiner Haushälterin und schmollte. Außerdem wußte er nicht, was er antworten sollte. Er mußte zunächst das Gespräch mit seinem alten Freund, Kriminalhauptkommissar Kresser, ab-warten, den er am Nachmittag telefonisch zu erreichen hoffte.
Mitten in Florian Seibolds Verdauungsschlaf schrillte das Telefon.
Sandra, die inzwischen nachgekommen war, nahm den Hörer ab. Ein Kriminalhauptkommissar Kresser verlangte lautstark und ungehalten den Hausherrn zu sprechen.
Sandra weckte ihn.
Er schlüpfte barfuß in seine offenen Lederpantoffeln und schlurfte in sein Arbeitszimmer, wo sich ein Zweitanschluß des Telefons befand, um ungestört sprechen zu können. „Seibold“, krächzte er schlafheiser ins Telefon.
„Kresser! Sag mal, was hast denn du für einen Wirbel in meiner Abteilung gemacht? Die Hubertsen ist ja jetzt noch ganz aufgelöst. Was war denn mit dir los?“ donnerte Kommissar Kresser ihn an. „Du hast an meinem Schreibtisch verdammt noch mal nichts verloren! Ich kenne dich und deine windigen Methoden...“
Florian Seibold nahm den Hörer vom Ohr, hielt ihn ins Zimmer und wartete, bis sein Freund den Dampf abgelassen hatte.
Endlich hörte er von fern sein befremdetes: „Hallo! Bist du noch dran? Weshalb sagst du nichts?“
Florian Seibold nahm den Hörer wieder ans Ohr und erwiderte sanft: „Ich wollte dich nicht unterbrechen.“
Kriminalhauptkommissar Kresser schnaubte. Doch als er weitersprach, geschah es in normaler Lautstärke und ohne Erregung. „Ich habe deinen Sohn vorhin im Flur getroffen. Es geht um die Sache Faber, nicht? Der Kollege Friedrich bearbeitet sie. Ich habe nichts damit zu tun.“
„Das sagte mir Frau Hubertsen und dieser junge... wie heißt er noch...? dein kleiner Wichtigtuer...“
„Florian!“ mahnte der Kommissar grollend. „Keine Beamtenbeleidigung! Sonst hänge ich dir doch noch ein Verfahren an. Du bist raus aus dem Geschäft, also laß deinen Sohn jetzt an den Ball. Er kann‚s übrigens besser als du. Ein feiner, höflicher Mensch!“
„Das hat er von seiner Mutter“, bemerkte Florian Seibold glucksend. „Hoffentlich geht ihm bald auf, daß er damit bei euch nicht weiterkommt. Ihr haltet wichtige Informationen zurück...“
„Wie wäre es mit dieser?“ unterbrach ihn sein Freund. „Rainer Faber hat gestanden, daß er die Pistole seines Vaters aus der Truhe genommen hat, zusammen mit einem Hitlerbild und einigen Kriegssouvenirs. Vor einem Jahr übrigens schon.“
„Woher weißt du das?“
„Aus dem Vernehmungsprotokoll. Die Akte lag zufällig auf Friedrichs Schreibtisch.“ Kresser lachte verschmitzt. Doch dann wurde seine Stimme besorgt. „Die Patrone, die in der Truhe gefunden wurde, ist vom gleichen Kaliber wie das bei dem Mädchen entfernte Geschoß. Ich habe mich mit Oberinspektor Friedrich über den Fall unterhalten. Schließlich kenne ich die Familie deiner Haushälterin, und Friedrich wollte von mir Näheres über die Herkunft des Jungen wissen. Die spielt bei derartigen Ermittlungen ja eine gewisse Rolle, wie du weißt.“
„Und?“ drängte Florian Seibold, als Kresser nicht weitersprach.
„Es sieht nicht gut aus“, sagte der Kommissar. „Es gibt zu viele Ungereimtheiten in dieser Sache und eine Menge Belastungsmaterial, die für eine Verurteilung ausreichen dürften. Angeblich hat Rainer die Pistole und die Souvenirs vor einem halben Jahr verkauft. An einen Touristen, den er zufällig kennenlernte. Engländer, Amerikaner oder Holländer, genau wisse er es nicht. Der große Unbekannte also.“
„Und ihr haltet das für unwahrscheinlich?“
„Glaubst du es?“ fragte Kresser zurück.
Florian Seibold schwieg.
„Man könnte es dem Jungen vielleicht abnehmen, denn er sagte, daß er sich in Geldschwierigkeiten befand und seiner Mutter damit nicht kommen wollte. Freunde aus der Nachbarschaft haben das bestätigt. Er war ständig in Geldverlegenheit. Aber da ist noch die Geschichte mit dem anderen großen Unbekannten. Faber versucht uns weiszumachen, daß er zwischen den auf dem Hof abgestellten Autos Geräusche hörte, bevor der Schuß fiel. Die ermittelnden Beamten sind der Sache nachgegangen, aber nichts deutete auf die Anwesenheit von Einbrechern oder Autoknackern hin. Tatsache aber ist, daß Faber am Tage zuvor in einer Kneipe geäußert hat, daß es dieser Eva noch einmal leid tun würde, ihn so behandelt zu haben. Das hat ein Zeuge zu Protokoll gegeben.“
„Wer hat so etwas noch nicht geäußert? Das muß nicht als Drohung gemeint gewesen sein“, wandte Florian Seibold gereizt ein.
„Stimmt“, bestätigte Kresser. „Doch wenn dann tatsächlich etwas passiert, sieht die Geschichte anders aus. Weshalb lief der Junge fort? Wenn er unschuldig war, hätte er einen Krankenwagen alarmieren und sich der Polizei als Zeuge zur Verfügung stellen müssen.“
„Vielleicht hatte er Angst vor euren Bullen“, sagte Florian Seibold grob. „Ihr solltet euer Image mal wieder aufpolieren. Die Polizei — dein Freund und Helfer! Das war doch einmal. Weshalb macht ihr den heranwachsenden Jugendlichen nicht deutlich, daß ihr bei der Verbrechensbekämpfung zwar manchmal hart zugreifen müßt, andererseits aber auch die Mithilfe der Bevölkerung dankbar anerkennt — weil ihr nämlich auf sie angewiesen seid. Aber manche Beamte benehmen sich einfach hysterisch, wenn eine Großfahndung läuft. Das schüchtert die Jugendlichen ein.“
„Danke für die Belehrung“, sagte der Kommissar verärgert. „Bitte“, erwiderte Florian Seibold nicht minder verschnupft, denn er war sehr erregt über das, was er von Kresser erfahren hatte.
„Jedenfalls weißt du jetzt genauestens Bescheid“, erklärte Kresser ungeduldig.
„Warte mal!“ bat Florian Seibold, als er merkte, daß der Kommissar auflegen wollte. „Wie geht‚s dem Mädchen? Hat man sie schon vernehmen können?“
„Eigentlich sollte ich dir keine weitere Auskunft mehr geben, nachdem du mich so abgekanzelt hast. Du bist und bleibst ein Grobian“, schimpfte Kresser. „Die Kollegen haben das Mädchen nur kurz sprechen dürfen. Sie ist außer Lebensgefahr, liegt aber immer noch auf der Intensivstation. Sie erinnert sich an nichts, weiß angeblich nur, daß sie auf Faber zugehen wollte und plötzlich einen dumpfen Schlag unterhalb der linken Schulter verspürte. Sie bestätigte allerdings, daß sie Faber zu sich bestellte.“
„Na also!“ rief Herr Seibold erleichtert.
Doch Kresser dämpfte seine Freude. „Auf Grund der anderen Indizien besagt es aber nicht, daß Faber nicht auf sie geschossen hat.“
„Was ist mit Evas neuem Freund?“
„Markus Siebert? Die Kollegen haben ihn vernommen. Er schien ziemlich nervös wegen der Schlägerei zu sein. Doch da Rainer Faber keinen Strafantrag wegen Körperverletzung stellte, haben die Beamten keinen Anlaß, gegen ihn vorzugehen. Um das Mädchen scheint er sich sehr zu sorgen. Die Stationsschwester berichtete, daß sich pausenlos eine jugendliche Männerstimme nach ihr erkundige. Eine Menge Leute haben bereits angerufen. Sie scheint sehr beliebt zu sein. Natürlich dürfen die Schwestern keine Auskünfte erteilen.“
„Ich weiß“, bemerkte Florian Seibold, der ebenfalls im Krankenhaus angerufen hatte. „Man spricht davon, daß Markus Siebert über ziemlich viel Geld verfügt.“
„So, spricht man davon?“ erwiderte Kresser zurückhaltend. Und sagte dann abschließend: „Tja, das ist im Augenblick alles, was ich dir berichten kann.“
„Kann oder darfst?“ fragte sein Freund.
„Beides“, erwiderte Kresser. „Wozu wolltest du das eigentlich von mir wissen? Dein Sohn könnte dir die gleichen Auskünfte geben. Außerdem ist es sein Fall.“
„Eben“, sagte Florian Seibold. „Und da läßt er mich nicht ran. Ich möchte aber die Sache überwachen. Mein Sohn kann mit einem eindrucksvollen Plädoyer glänzen. Er ist ein brillanter Redner, gescheit, gewandt — aber ich fürchte, er ist nicht mit dem Herzen beteiligt.“
„Gott sei Dank“, sagte der Kommissar. „Du hast uns mit deiner gefühlsbetonten Verteidigungsweise das Leben oft genug schwer gemacht. Grüß Frau Ansbach von mir.“
„Mach ich. Komm mal wieder zum Forellenessen. Wie wäre es mit nächsten Donnerstag?“
„Könnte passen. Danke, Florian.“
„Danke auch, Hermann. Wiedersehen“, sagte Florian Seibold und legte nachdenklich den Hörer auf.
Sandra klopfte vorsichtig an und trat ein. Sie hatte draußen gewartet, die Tür einen Spalt breit geöffnet und das Gespräch belauscht. „Was hat er gesagt?“ stieß sie hervor.
„Wer?“ fragte Herr Seibold, aus seinen Gedanken geschreckt. „Der Kommissar! Was hat er von Evas Clique gesagt? Sie haben sie doch vernommen, oder?“
„Du hast gehorcht! Das tut man nicht“, rügte Herr Seibold. „Übrigens ist dein Verdacht falsch. Der Markus Siebert hat mit der Sache nichts zu tun. Er scheint zwar ein Rabauke zu sein, aber er hat die Eva gern. Würde er sonst dauernd im Krankenhaus anrufen, um zu erfahren, wie es ihr geht? Und nun laß mich allein. Ich muß nachdenken.“
Sandra zog beleidigt ab.
Im Garten beschloß sie, die Katzen-Marie zu besuchen. Sie hatte Lust, Harmonium zu spielen. Richtig laut. So richtig mit Kraft. Sie brauchte jetzt etwas, auf das sie einhämmern konnte.
Sie wickelte in der Küche Wurst- und Kuchenreste für die Tiere in eine Zeitung, durchquerte den Garten und balancierte über den Stacheldraht auf der Gartenmauer, den Herr Seibold zum Schutz gegen die Katzen zwischen den Grundstücken angebracht hatte.
Frau Arnold saß vor der offenen Küchentür. Sie hielt einen verwahrlost aussehenden grauen Terrier auf ihrem Schoß und schnitt mit einer Schere die verfilzten Haare aus seinem Fell.
Der Hund sträubte die Nackenhaare, als Sandra sich näherte, fing an zu kläffen und strampelte, um sich auf den Eindringling zu stürzen. Doch Frau Arnold hielt ihn mit festem Nackengriff. Die Katzen, die ringsum auf den Steinfliesen lagen, blinzelten nur träge. Zwei junge Hunde von unbestimmbarer Rasse klopften zur Begrüßung mit den Schwänzen auf den Boden. Sie kannten Sandra und wußten, daß ihr Besuch meistens mit einem Leckerbissen verbunden war.
„Tag, Frau Arnold“, sagte Sandra, wickelte ihre Mitbringsel aus und fütterte die Tiere, die aufgeregt und gierig herbeikamen. „Wo haben Sie den her?“ fragte sie und näherte vorsichtig ihre Hand mit einem Wurstzipfel dem Fremdling auf Frau Arnolds Schoß, wobei sie beruhigend auf ihn einsprach.
„Vom Hafen. Schiffer werden ihn ausgesetzt haben. Er trieb sich zwischen den Lagerhäusern herum. Wollte gar nicht mitkommen. Ich mußte ihn tragen. Vermutlich hoffte er, seine Leute kämen zurück, denn er lief auf jedes anlegende Schiff zu. Armer Kerl, er war halb verhungert“, berichtete die Katzen-Marie. Sie war eine große schwere Frau mit einem mächtigen Busen.
Der Terrier schnappte nach der Wurst und fing gierig an zu schlingen.
Frau Arnold stand auf und trug ihn zu einem kleinen Zwinger. „Ich muß ihn ein paar Tage isolieren. Er soll sich erst eingewöhnen. Er jagt die Katzen“, erklärte sie ihre ungewohnte Maßnahme. Bei der Katzen-Marie fraßen Hunde und Katzen aus einem Napf. Wenn artfremde Tiere sich von klein auf aneinander gewöhnen, leben sie ohne Feindschaft zusammen, behauptete sie. Das friedliche Miteinander ihrer Tiere bewies es. Auf dem großen, wildbewachsenen Gartengrundstück tummelten sich Enten, Hühner, Tauben, Katzen und Hunde in seltener Eintracht.
„Magst du ein Quarkbrot?“ fragte Frau Arnold.
Sie schien ausschließlich von Quark zu leben. Von Quark und selbstgemachter Marmelade. Sandra liebte ihre Quark-Marmeladenbrote. Doch heute schüttelte sie den Kopf. „Ich gehe mal rein.“
„Ist recht“, erwiderte Frau Arnold und ging, ohne sich darum zu kümmern, was Sandra im Haus suchte, mit einer Gießkanne zum Wasserhahn an der Hausecke, um ihre Kartoffelbeete zu bewässern.
Das Harmonium stand im ehemaligen Schlafzimmer des Ehepaares. Seit ihr Mann tot war, schlief Frau Arnold im Wohnzimmer auf einer Couch. Das Schlafzimmer betrat sie nur noch, um ein Kleidungsstück aus dem Schrank zu holen oder hineinzuhängen.
Die Fensterläden waren geschlossen. Es roch modrig und alt. Sandra knipste das Licht an und setzte sich ans Harmonium. Laut und dumpf brummten die Bässe. Laut und mißtönend die hellen Akkorde. Sandra zog die Register, drückte mit Wucht auf die Klaviatur.
Doch wenig später stand sie bereits wieder draußen im Sonnenlicht.
„Was ist los?“ fragte die Katzen-Marie, die zum zweiten Wasserholen aus dem Garten zurückkam.
„Mein Bruder ist verhaftet.“
„Hat er geklaut?“
Sandra schüttelte den Kopf. „Er soll auf seine Freundin geschossen haben.“
„Warum?“
„Weil sie jetzt mit ‚nem anderen geht. Aber das tut sie schon länger. Warum sollte er erst jetzt auf sie schießen? Außerdem hat Rainer gar keine Pistole. Wenn er sagt, er hat keine und er war‚s nicht, dann muß man ihm glauben.“ Sandra scharrte mit dem Fuß im Sand. „Ich glaube ihm. Er würde so was nie tun. Er ist ja immer noch in Eva verknallt.“
Die Katzen-Marie hielt die Gießkanne unter den Wasserstrahl. „Was sucht das Mädchen denn bei dem anderen?“
„Geld hat mein Bruder keins. Aber der andere, das ist ein richtiger Rocker. Er hat Rainer zusammengeschlagen. Rainer hat sich bestimmt nicht mal gewehrt. Unser Rainer ist doch ein Schaf, der läßt sich alles bieten.“
„Und der andere nicht?“
„Wenn er einen Jungen zusammenschlägt, nur weil der mit seiner Freundin spricht!“
„Würde ich mal bei dem nach einer Pistole suchen“, meinte die Katzen-Marie und drehte den Wasserhahn zu.
„Das ist es ja eben!“ rief Sandra verzweifelt. „Herr Seibold sagt, daß er genauso in Eva verknallt ist wie Rainer und verrückt vor Sorge, wie es ihr geht.“
Die Katzen-Marie runzelte die Stirn. „Könnte ja auch eine andere Ursache haben, seine Sorge“, meinte sie bedächtig.
Sandra starrte sie verständnislos an. Doch dann schnappte sie plötzlich nach Luft, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte zur Gartenmauer. Die Hunde, die das als Aufforderung zum Spielen auffaßten, hetzten bellend hinter ihr her.
Sandra lief über die Terrasse, rannte beinahe ihre Großmutter um, die mit einem Kaffeetablett herauskam, fragte atemlos: „Ist Herr Seibold in seinem Zimmer?“ Wartete jedoch die Antwort nicht ab, sondern lief weiter, klopfte bei Herrn Seibold an und öffnete die Tür.
„Wenn er sich nun deshalb nach Eva erkundigt, weil er wissen will, ob sie ihn der Polizei verraten kann?“ rief sie Herrn Seibold zu.
Florian Seibold saß an seinem Schreibtisch. Er drehte sich halb in seinem Sessel um und schielte über den Rand seiner Arbeitsbrille. „Was spinnst du dir da zusammen?“ sagte er.
Sandra wippte aufgeregt mit den Füßen. „Eva sagte am Telefon, daß sie etwas Schreckliches erlebt hat. Wenn das nun doch mit Markus zusammenhängt? Weil er verhindern wollte, daß sie etwas weitererzählt, deshalb hat er auf Eva geschossen...!“
„Sag mal, hältst du die Polizei für dumm?“ wandte der Exanwalt ein.
Doch Sandra ließ sich nicht beirren. Eigensinnig fuhr sie fort: „Wenn es aber doch so wäre? Dann will er jetzt doch wissen, ob Eva den Anschlag überleben wird!“
„Die Polizei hat Eva bereits verhört. Wenn es so wäre, wie du meinst, daß Eva Mitwisserin einer strafbaren Handlung ist, dann hätte sie das den Beamten mitgeteilt, und der Bursche wäre längst verhaftet — was immer er auch getan haben mag.“
Sandra biß sich auf die Lippen. Sie dachte angestrengt nach, während Herr Seibold sich wieder seinen Papieren zuwandte.
„Und wenn sie Angst hat und sich deshalb nicht traut, Markus der Polizei zu verraten?“ sagte sie plötzlich.
Florian Seibold nahm seine Brille ab und musterte Sandra. „Dann wäre Eva immer noch in Lebensgefahr!“ fuhr Sandra fort. „Markus weiß ja nicht, daß sie vor Angst dichthält. Und wenn er erfährt, daß sie durchkommt, schleicht er vielleicht ins Krankenhaus und wird ein zweitesmal versuchen, Eva zu ermorden.“
Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Herr Seibold ärgerlich den Kopf. „Wir sind hier nicht in einem amerikanischen Krimi, Sandra, das habe ich dir, glaube ich, schon einmal gesagt! Eva liegt noch auf der Intensivstation. Dort werden die Patienten ständig von einem Arzt überwacht, damit bei einer Verschlechterung ihres Zustandes sofort Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden können. Sobald es Eva besser geht, wird sie auf die Chirurgische Abteilung verlegt, und zwar in ein Zwei- oder Dreibettzimmer. Wie sollte sie da inmitten anderer Patienten gefährdet sein, selbst wenn Markus ihre Aussage fürchten müßte. Also, höre bitte mit diesem Unsinn auf.“
„Ich möchte Rainer doch nur helfen“, sagte Sandra.
„Ich weiß, Mädchen.“ Herr Seibold nickte ihr tröstend zu. „Ich sage ja auch nicht, daß deine Theorie völlig abwegig ist. Ich werde mich mit meinem Sohn darüber unterhalten. Und du hörst jetzt auf, Detektiv zu spielen. Überlaß die Ermittlungen der Polizei. In Ordnung?“
Geschäftig setzte Florian Seibold seine Brille auf und griff nach seinem Füllfederhalter.
Doch als Sandra hinausgegangen war, legte er den Füllfederhalter wieder hin, nahm das Telefonbuch zur Hand und suchte die Nummer vom Einwohnermeldeamt, um sich nach der Adresse von Markus Siebert zu erkundigen.