Die Geburtstagsparty
Die nächste Woche war schrecklich für Gesine.
Sie wußte nicht, wie sie die zwanzig Mark für Fedor zusammenbringen sollte und lauerte jeden Tag auf eine Möglichkeit, ihre Großeltern zu bestehlen.
Glücklicherweise schickte ihre Großmutter sie regelmäßig zum Einkäufen in den SB-Laden. Meistens gelang es Gesine, einen von den Kassenbons, die die Hausfrauen in ihren Einkaufskarren zurückließen, gegen ihren eigenen Bon auszutauschen, dessen Endsumme vielleicht eine oder zwei Mark unter dem Fremdeinkauf lag. Ihre Großmutter überprüfte die Einzelpositionen nicht. Sie kontrollierte lediglich die Endsumme des Kassenbons und zählte das Wechselgeld nach.
Einige Groschen fand Gesine in den Rocktaschen ihres Großvaters, die sie durchsuchte.
Doch bis Freitag hatte sie, einschließlich ihres Taschengeldes, erst vierzehn Mark sechzig zusammen.
Es war in der letzten Unterrichtspause.
Gesine hatte sich von den anderen abgesondert. Was allerdings niemand bemerkte. Ob Gesine in der Gruppe stand oder nicht, war ziemlich egal. Sie hielt gewöhnlich den Mund, und es fiel deshalb nicht auf, daß Gesine fortging.
Ziellos schlenderte sie über den Schulhof voller Kinder. Sie zermarterte ihr Gehirn nach einem Ausweg, nach einer Lösung.
Einmal dachte sie daran, ihre Großmutter um Geld zu bitten für ein angebliches Geburtstagsgeschenk eines Lehrers. Doch sie verwarf diesen Gedanken. Ihre Großmutter beredete oft die unwichtigsten Sachen mit ihren Nachbarn und könnte auch dieses Thema gegenüber Sandras Mutter erwähnen.
Was sollte sie tun? Was nur?
Plötzlich kugelten zwei kleine Jungen vor ihre Füße. Sie balgten sich um einen Fußball.
„Na, na!“ sagte Gesine ärgerlich und bedachte, während sie beiseite trat, die Jungen mit einem verweisenden Blick. Im selben Moment stutzte sie.
Einer der beiden Jungen war Niki!
Gesine blieb wie angewurzelt stehen. Doch bevor sie Niki ansprechen konnte, dribbelte er mit dem Ball, den er sich erobert hatte, davon.
Gesine fiel ein, was Niki ihr von Ruth berichtet hatte: Ruth hatte ihn verpfiffen, nachdem sie auf dem Schulhof hörte, wie Niki prahlte, er habe seinem Vater fünf Mark gemopst.
Also besuchte auch Ruth die Gutenbergschule!
Wo war sie? In welche Klasse ging sie? Gesine mußte sie finden. Sie waren Schulkameradinnen. Ruth würde sich nicht weigern, sich bei Fedor und Hortense für sie einzusetzen, wenn Gesine sie darum bat. Ruth mußte die beiden dazu bringen, Gesine nicht für das fehlende Geld zu bestrafen.
Gesine würde ihr etwas dafür versprechen. Egal, was es war. Ruth konnte alles von ihr haben.
Gesine lief aufgeregt im Schulhof umher. Von einer Gruppe zur anderen. Sie blickte in erstaunte Gesichter, hörte ärgerliche Zurufe, wenn sie rücksichtslos und ungestüm in eine miteinander diskutierende Clique drängte.
Sie kümmerte sich nicht darum. Sie hastete weiter. Morgen vormittag war schulfrei. Sie mußte Ruth finden! Heute! Jetzt! Die Pause war gleich zu Ende.
Doch die Schule hatte über achthundert Schüler. Und sie ähnelten einander wie Soldaten. Sie hatten die gleichen Frisuren, trugen fast die gleichen T-Shirts und Jeans. Gesine konnte Ruth nirgends entdecken. Auch Niki war verschwunden.
Die Pausenglocke schrillte.
Sandra trat Gesine in den Weg. „Meine Großmutter hat Sonntag Geburtstag. Sollst mitkommen, Gesine.“
„Wer — ich?“ Gesine reckte den Hals nach den sich sammelnden Klassen.
„Magst du nicht?“ fragte Sandra erstaunt. Sie wunderte sich über die Gleichgültigkeit, mit der Gesine die Einladung aufnahm, wo sie doch bisher immer so scharf darauf gewesen war, Sandras Großmutter zu besuchen.
Sie hatten in den vergangenen Tagen kaum miteinander gesprochen.
Am Montag morgen erwähnte Gesine: „Ich habe die Brosche abgegeben.“
Sandra sagte: „Wenn der Verlierer sich nicht meldet, gehört die Brosche dir.“
Gesine hatte nichts darauf erwidert. Und Sandra nahm an, daß sie eingeschnappt war.
In den nächsten Tagen mieden sie einander.
Doch Sandra blieb nicht gern mit jemandem verfeindet. Es störte sie, in ein beleidigtes Gesicht zu blicken. Deshalb hatte sie die Aufforderung ihrer Großmutter, Gesine am Sonntag zum Geburtstagskaffee mitzubringen, begrüßt.
„Wir fahren mit dem Drei-Uhr-Bus. Kannst es dir ja noch überlegen“, sagte sie.
Mit einem Male ging Gesine die Nützlichkeit dieser Einladung auf. Geburtstagskaffee bedeutete Geburtstagsgeschenk!
Doch als sie ihre Großmutter am Nachmittag um zehn Mark bat — wovon Gesine sechs für Fedor beiseite zu legen gedachte — , schüttelte ihre Großmutter den Kopf. „Wir sind keine Millionäre, Gesinchen. Ein hübscher Blumenstrauß tut‚s auch.“ Auf dem Wochenmarkt gab es um diese Jahreszeit Sträuße zu diesem Preis.
„Aber sie haben selbst massenhaft Blumen in ihrem Garten“, wandte Gesine ein.
Oma Bollerhey überlegte. „Leider bin ich ein bißchen knapp mit dem Wirtschaftsgeld. Aber ich habe noch das Stück Toilettenseife im Geschenkkarton, das Frau Franke mir kürzlich mitbrachte. Das packst du hübsch ein
Gesine unterbrach sie: „Bitté, Oma, ich möchte gern etwas Selbstgekauftes schenken.“
„Ja, und weshalb tust du das nicht von deinem Taschengeld?“
„Ich... ich brauchte neue Hefte, Umschlagfolie und einen Zeichenblock.“
„Ist schon gut, Gesinchen. Du begleitest mich nachher in die Stadt, ja? Und dann suchen wir etwas für Frau Ansbach aus.“
Gesine mußte sich fügen.
Doch wenn sie daran dachte, daß ihr Leben künftig nur aus Angst, Betrug und Diebstahl bestand, schnürte es ihr die Kehle zusammen.
Der Kaffeetisch war auf der Veranda gedeckt.
Susi, Herrn Seibolds Dackelhündin, begrüßte die Gratulanten mit freudigem Bellen.
Sie war aufgeregt. Susi war immer aufgeregt, wenn Besucher kamen, denn dann gab es Leckereien, die ihr sonst nicht zugänglich waren. Herrchens wegen. Florian Seibold war Diabetiker, und um seinen Blutzuckerspiegel in normalen Werten zu halten, lebte man im Hause des ehemaligen Rechtsanwalts diät.
Doch heute gab es Kuchen. Seit dem Morgen roch es danach. Auch Braten war zu schnuppern. Er schmorte in der Röhre für das Abendessen. Da hüpfte Susis Hundemagen.
„Herein, herein! Susi, mach Platz! Willst du uns wohl aus den Füßen gehen!“ Florian Seibold führte die Gäste seiner Haushälterin ins Wohnzimmer. Sie waren auch seine Gäste. Er freute sich immer über den Besuch von Frau Ansbachs Familie.
Frau Ansbach kam ihnen strahlend entgegen. Sie ließ sich umarmen und gratulieren und packte ihre Geschenke aus.
„Nein, was für ein hübscher bunter Schal! Ach, ist die Vase herrlich! Danke für den Sekt, Joschi. Und Likör von Gesine! Ihr haltet mich wohl für eine heimliche Säuferin? Schön, daß du mitgekommen bist, Gesine. Wo ist denn Rainer?“
„Er holt Eva ab, Mutter. Sie kommen nach.“
„Hübsch siehst du aus, Sandralein!“ Sandra trug die heiß ersehnte Lurexhose. Frau Ansbach ergriff Sandras Hände und trat einen Schritt zurück, um sie anzuschauen. „Wirklich, die Hose sitzt wie angegossen.“
Ja, einen guten Sitz hatte sie. Und schick war sie auch. Doch war es eigentlich keine geeignete Bekleidung für einen schwülen Sommertag. Sandra fühlte sich beengt und heiß. Doch das hätte sie nie zugegeben. Eher würde sie sich zu Tode darin schwitzen.
Die Kuhglocke über der Gartentür schlug an.
Rainer knatterte auf seinem Moped durch den Seiteneingang und über den Plattenweg zur Verandatreppe.
Eva, dunkelblond und hübsch, kam die Stufen herauf. Sie brachte ein Buch als Geschenk.
„Wie hübsch du wieder gedeckt hast, Mutter“, lobte Frau Faber.
Susi blickte ungeduldig ihr Herrchen an. Na, warum setzte er sich nicht? Gleich waren alle Stühle besetzt, und wo blieben dann sie?
Na — endlich!
Florian Seibold hatte seine Tischkarte gefunden und rückte seinen Stuhl zurecht. Susi ließ sich neben ihm nieder und klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden.
Frau Ansbach zündete die Geburtstagskerzen an. „Bitte, greift zu. Ich hole noch rasch die Schlagsahne und...“
„Du setzt dich jetzt hin, Mutter. Das erledigen Sandra und ich. Du wirst uns nicht an deinem Geburtstag bedienen“, bestimmte Frau Faber. „Ist der Kaffee fertig?“
Frau Ansbach nickte, „Brauchst ihn nur noch umzufüllen. Aber eigentlich hast du es eher nötig als ich, dich auszuruhen.“
„Klar, Mutti. Joschi hilft mir. Komm, Joschi!“ Sandra winkte dem Freund.
Joschis Miene wurde lang. Er hatte keine Lust, hier auch noch Bedienung zu spielen. Als habe er die Aufforderung nicht gehört, wandte er sich mit einer Frage an Rainer.
„Joschi!“ mahnte Sandra an der Wohnzimmertür.
Gesine sprang auf. „Ich helfe dir.“
„Der Joschi ist doch ein echter Drückeberger!“ schimpfte Sandra in der Küche.
„Jungen sind eben so“, meinte Gesine. Sie blickte aus dem Küchenfenster in den großen blühenden Garten mit den alten knorrigen Bäumen. „Bei meinen Großeltern sieht man nur auf schwarze Hinterhofmauern oder auf die Straße. Das bißchen Grünzeug an den Fenstern ist für Oma schon der Gipfel der Glückseligkeit.“
„Ja, ich finde es auch immer schön hier“, sagte Sandra.
„Wie ist das eigentlich in unserer Klasse — muß man da zum Geburtstag einladen?“ fragte Gesine.
Sandra, die den in der Kaffeemaschine zubereiteten Kaffee in eine Warmhaltekanne umfüllte, zuckte mit den Schultern. „Eigentlich schon. Aber nur die, die man mag und mit denen man befreundet ist.“
„Ich habe Ende nächsten Monats Geburtstag“, sagte Gesine. „Aber ich weiß nicht, ob...“ Sie brach verlegen ab. „Sind die böse, wenn ich nicht zu meinem Geburtstag einlade?“
„Nein, du bist ja neu. Aber...“ Sandra legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Es wäre für dich natürlich eine prima Gelegenheit, neue Freunde zu finden.“
Gesine nickte nachdenklich. „Kann man auch zu einem Eis ins Café einladen?“
„Ich weiß nicht. Von uns hat das noch niemand gemacht. Kostet doch auch genauso viel.“
„Meine Mutti kommt zu meinem Geburtstag. Sie würde das bezahlen.“
„Dann kannst du es auch bei euch zu Hause machen.“
„Ja, weißt du, ich glaube nicht, daß das geht. Meine Großeltern sind darin komisch. Sie mögen nicht, daß ich jemand mitbringe. Du hast sicher schon gedacht, ich sei zickig, weil ich noch nie gesagt habe, du möchtest mit raufkommen.“
Sandra wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. „Ist ja noch Zeit bis zu deinem Geburtstag“, meinte sie schließlich und wandte sich zur Tür.
Doch während sie durchs Wohnzimmer zur Veranda ging, überlegte sie, daß sie mit Gesine auch nicht tauschen möchte. Weg von zu Hause. Ständig unter Druck gehalten. Die Gesine war ja wohl nicht zu beneiden.
Nachdem sie Kaffee getrunken und geholfen hatten, den Tisch abzuräumen, schwammen Sandra, Joschi und Gesine im Fluß, an dem Florian Seibolds Grundstück lag.
Als sie zurückkamen, waren Rainer und Eva zu Freunden in der Stadt unterwegs. Die Erwachsenen spielten auf der Veranda Karten.
Sandra, Joschi und Gesine sahen sich vor dem Fernseher im Wohnzimmer eine neue Westernfolge an.
Danach gab es Abendessen.
Anschließend gingen Sandra und Joschi zu Florian Seibolds Nachbarin, Frau Arnold, die von jedermann Katzen-Marie genannt wurde, weil sie sich um herrenlose Tiere kümmerte. Sie brachten ihr Geburtstagskuchen und Braten. Am Nachmittag war ihre Tür verschlossen gewesen. Deshalb versuchten sie es jetzt erneut.
Gesine wäre gern mitgegangen, doch sie blieb zurück, weil sie fand, jemand müsse Frau Faber helfen, das Geschirr abzuwaschen.
Als sie fertig waren, begleitete Frau Faber ihre Mutter in den Garten, um Blumen zu schneiden. Frau Faber nahm immer gern einen Strauß mit nach Hause.
Gesine wollte gerade ins Badezimmer gehen, als es am Haupteingang klingelte.
Da Herr Seibold sich in seinem Arbeitszimmer befand, ging Gesine zur Haustür und öffnete.
Ein kleiner Junge stand draußen. „Ich soll das Geld für die Himbeeren abgeben“, sagte er und reichte Gesine fünfundzwanzig Mark in einem Zwanzigmarkschein und einem Fünfmarkstück.
Bevor Gesine noch etwas fragen konnte, war er die Treppenstufen hinuntergesprungen und fuhr auf seinem Fahrrad davon.
„War jemand da, Gesine?“ rief Herr Seibold aus dem Hintergrund des Flures.
Gesine ging zu ihm. „Ein Junge mit Geld für Himbeeren.“ Sie reichte es Herrn Seibold.
Herr Seibold nahm das Geld, trat durch die offene Küchentür und legte es auf die Ablage des zweiteiligen Küchenschrankes. Er schmunzelte. „Es gehört Frau Ansbach. Ich wollte die Himbeerstauden ausrotten. Sie nehmen meinen Fichtenbäumchen das Licht. Frau Ansbach war dagegen.“
Er rief Susi und ging auf die Veranda, während Gesine im Badezimmer verschwand.
Sandra und Joschi kamen durch den Garten gelaufen, zur Eile angehalten von Frau Faber, die zum Aufbruch drängte. „In acht Minuten geht unser Bus. Wascht eure Hände. Beeilt euch. Wo ist Gesine?“
„Hier“, sagte Gesine an der Wohnzimmertür.
Sandra und Joschi liefen ins Haus.
„Ich begleite euch zur Bushaltestelle. Die Remouladensoße war sehr reichhaltig. Wir müssen uns Bewegung verschaffen, was, Susi?“ sagte Herr Seibold.
„Die Soße war mit Joghurt angemacht. Wenn man sich natürlich nicht zurückhalten kann...!“ bemerkte Frau Ansbach, auf die seiner Gesundheit schädlichen Eßgewohnheiten anspielend. „Ich setze besser schon mal Wasser für Kamillentee auf, während Sie unterwegs sind.“
Frau Ansbach umarmte ihre Tochter und küßte Sandra. „Auf bald! Es war ein wunderschöner Tag für mich. Wiedersehen, Joschi! Komm bald einmal wieder mit, Gesine! — Ach, eure Kuchenpakete! Gesine, sei so lieb und hole sie aus dem Kühlschrank. Für deine Großeltern habe ich auch eins zurechtgemacht.“
Gesine lief in die Küche, während die anderen, von Frau Ansbach und Herrn Seibold begleitet, durch den Garten zur Seitenpforte gingen.
Sie nahm die beiden Pakete aus dem Kühlschrank. Als sie mit dem Knie die Tür zudrückte, fiel ihr Blick auf das Himbeergeld, das Herr Seibold auf den Schrank gelegt hatte.
Ihr wurde heiß. Fünfundzwanzig Mark!
Mit diesem Geld wäre sie gerettet. Sie hatte dann nicht nur die erste Monatsrate beisammen, sondern mit ihrem wöchentlichen Taschengeld beinahe auch schon die beiden nächstfälligen Zahlungen.
Sie setzte die Pakete ab. Ihre Hand griff nach dem Geld. Sollte sie...? Ihre Hand zitterte.
Und wenn sie nur das Fünfmarkstück nahm...?
Nein, das fiel auf. Alles oder nichts mußte sie nehmen.
Ob Herr Seibold sich daran erinnerte? Frau Ansbach wußte nicht, daß es abgegeben worden war. Und Herr Seibold vergaß es bestimmt. Gesine hatte ihn schon oft zerstreut erlebt. Er wußte nie, wo er seine Brille hingelegt hatte und suchte ständig seine Pfeife. Selbst wenn es ihm tatsächlich einfiel, dann würde er eher vermuten, er habe das Geld irgendwo in seinem Arbeitszimmer abgelegt oder in seine Tasche gesteckt und es auf seinem Spaziergang verloren. Gesine würde er gewiß nicht verdächtigen.
Gesine wickelte das Geld in ihr Taschentuch und verbarg es in der Gesäßtasche ihrer Jeans.
Leider hatte Gesine etwas nicht bedacht: In der Behandlung von alltäglichen Nebensächlichkeiten mochte Florian Seibold vielleicht gelegentlich nachlässig sein. Doch Geld oder Schriftstücke betreffend, war er gewissenhaft. Seine langjährige Praxis als Rechtsanwalt hatte ihn dazu erzogen.
Außerdem bereitete es ihm Vergnügen, Frau Ansbach mit diesem Himbeergeld zu necken.
„Wenn Sie keinen Wert auf Nebeneinnahmen legen — ich kann sie gebrauchen. Die Himbeeren bleiben stehen!“ hatte sie damals gesagt und ihm die Hacke aus der Hand genommen.
„Die Himbeeren sind uralt. Sie tragen nicht mehr“, hatte Herr Seibold gemault.
„Abwarten. Und wenn sie tragen, dann kriegen Sie keinen Pfennig davon“, hatte Frau Ansbach gedroht. Und dann lockerte sie die Erde, schnitt die wildwuchernden Ranken ab, düngte den Boden und bewässerte ihn das ganze Frühjahr hindurch.
Und wirklich, die Himbeeren erholten sich und blühten in diesem Sommer wie seit Jahren nicht mehr. Den Jungfichten schien es nicht zu schaden. Sie reckten keck ihre kleinen Kronen und setzten üppig wunderschöne gelbgrüne Triebe an.
Florian Seibold freute sich darüber.
Doch er war ein Schalk. Er konnte es nicht lassen, andere zu necken. Als er mit Susi vom Spaziergang zurückkam, ging er geradewegs in die Küche.
„Ihr Kamillentee ist fertig“, empfing ihn Frau Ansbach. Sie stand in der Anrichte und hob die Kuchenreste von den verschiedenen Platten auf einen Einzelteller.
„Kamillentee!“ sagte Herr Seibold wegwerfend. „Wie wäre es mit einem Stück Kuchen? Die Schokoladentorte habe ich noch nicht probiert.“ Er wendete sich an den Dackel. „Was meinst du, Susi, ob wir noch was kriegen?“
Susi hechelte heißhungrig und fuhr mit der feuchten rosigen Zunge über ihre Nase.
„Kommt nicht in Frage“, wehrte Frau Ansbach energisch ab. „Sie haben heute schon genug gesündigt. Eher werfe ich das Zeug in die Mülltonne.“
„Angesichts der Millionen Hungernden in der Welt wäre das eine viel größere Sünde.“
Frau Ansbach lachte. „Ich werde nie begreifen, daß Leute sich mit dieser Begründung die Bäuche vollschlagen und ihre Gesundheit ruinieren. Die Hungernden in der Welt profitieren nur dann von den Fleischtöpfen der Satten, wenn diese ihren Konsum einschränken und das Geld, das sie dadurch einsparen, den Hungernden schicken, damit diese sich Lebensmittel kaufen können.“
„Und Ihre Himbeeren waren madig!“ sagte Herr Seibold bissig.
Frau Ansbach blickte ihn an, als wäre er geistesgestört. „Wie kommen Sie denn jetzt auf meine Himbeeren?“
Herr Seibold deutete schmunzelnd auf den Küchenschrank. „Der Junge von Schallers hat Geld für Sie gebracht.“ Er sah die leere Schrankablage. „Ach, Sie haben es schon eingesteckt.“
Frau Ansbach schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Geld gesehen.“
Herr Seibold trat zum Schrank und klopfte mit dem Zeigefingerknöchel auf die Ablage. „Hier habe ich es hingelegt. Fünfundzwanzig Mark. Ein Schein und eine Münze.“
„Nein“, beharrte Frau Ansbach. „Auf dem Schrank lag nichts.“
Florian Seibold kramte in seinen Rock- und Hosentaschen. Doch alles, was er zutage förderte, war sein Brillenetui, Tabaksbeutel, ein Taschentuch und ein Hausschlüssel mit Anhänger.
Frau Ansbach sah den Schlüssel. Sie streckte ihre Hand danach aus und bemerkte: „Sie haben ihn wieder nicht ans Schlüsselbrett gehängt! Geben Sie ihn mir, bitte! Sonst geht der auch noch verloren.“
Florian Seibold kratzte seine Halbglatze. „Wo habe ich denn...?“
Er schlurfte eilig in sein Arbeitszimmer, um auf seinem Schreibtisch nachzusehen, kehrte jedoch an der Tür um, kam zurück und sagte: „Ich weiß es genau. Hier neben die Salatschüssel habe ich das Geld hingelegt. Und zwar das Fünfmarkstück auf den ausgebreiteten Schein. Ich sagte noch zu Gesine, daß Ihnen das Geld gehört. Sie kann es bezeugen. Gesine hat es von dem Jungen an der Tür in Empfang genommen. Dann bin ich auf die Veranda gegangen...“
„Und Gesine?“
„Sie kam mit hinaus. — Nein, erst ging sie noch ins Bad, kam aber gleich darauf nach. Das war, als Sie mit Ihrer Tochter aus dem Garten kamen. Sie meinen doch nicht etwa, daß Gesine...?“
„Ich meine gar nichts“, erwiderte Frau Ansbach. „Aber das Geld ist nicht da. Und irgendwo muß es ja geblieben sein.“
„Tja...!“ Florian Seibold hob die Hände.
„War vielleicht sonst noch jemand hier?“ erkundigte sich Frau Ansbach.
Florian Seibold schüttelte den Kopf. „Nicht, daß ich wüßte.“
Frau Ansbach versuchte die letzten Minuten ihrer Besucher nachzuvollziehen: „Also, wir kamen mit den Blumen aus dem Garten. Dann rannten Sandra und Joschi auf die Veranda, und meine Tochter schickte sie zum Händewaschen ins Haus…“
Frau Ansbach brach ab.
Florian Seibold sah ihre entsetzte Miene und ahnte, was sie befürchtete.
Er bückte sich verlegen und streichelte Susis Fell, um Frau Ansbach nicht in die Augen sehen zu müssen. „Vielleicht...“ Er lachte gezwungen. „Vielleicht irre ich mich tatsächlich. Vielleicht habe ich das Geld doch verschlampt.“ Er richtete sich auf. „So wird‚s wohl sein. Selbstverständlich ersetze ich Ihnen das Geld.“
„Herr Seibold“, sagte Frau Ansbach energisch. „Hier geht es um Wichtigeres als um fünfundzwanzig Mark. Die kann ich verschmerzen. Wenn Sie die Himbeeren ausgerottet hätten, hätte ich keine verkaufen können. Hier geht es darum, festzustellen, wer das Geld gestohlen hat.“
„Aber ich sage Ihnen doch...!“
„Hören Sie bitte auf mit Ihrer Selbstbeschuldigung!“ Frau Ansbach gehörte nicht zu der Art von Großeltern, die einen Fehltritt ihrer Enkel vertuschen, um sich selbst oder dem Kind Unannehmlichkeiten zu ersparen. „Falls Sandra das Geld genommen hat, möchte ich wissen, welchen Grund sie dafür hatte. Es wäre unverantwortlich von mir, sie nicht zur Rede zu stellen. Denn wenn sie heute damit durchkommt, wird sie das Stehlen vielleicht zur Gewohnheit werden lassen.“
„Glauben Sie denn wirklich, daß Sandra es war?“
„Nein. Ich vertraue Sandra. Trotzdem muß ich mich vergewissern. Sandra hat mich bisher nie angelogen. Ich habe sie jedenfalls noch nie dabei ertappt. Sie wird mir die Wahrheit sagen. Sollte aber Joschi das Geld genommen haben, dann ist das genauso schlimm. Er hat großen Einfluß auf Sandra. Ich fahre morgen abend in die Stadt. Meine Tochter hat Dienst. Dann kann ich Sandra allein sprechen. Ich möchte meine Tochter nicht aufregen. Sie hat es schon schwer genug.“
„Nun regen Sie sich mal nicht selber auf“, bat Florian Seibold. „Es klärt sich bestimmt alles auf.“