Der Patriarch
DER PAKT DER ALTEN HERREN
Düsseldorf liebt man, oder man mag es gerade nicht. Schön, wohlhabend und gediegen, bildet die Landeshauptstadt einen scharfen Kontrast zu den rauen Ruhrstädten in ihrem Norden und wird von dort aus nicht mit übertriebener Sympathie betrachtet. »Wer wohnt schon in Düsseldorf?«, singt Herbert Grönemeyer mit dem trotzigen Stolz der Leute von der Ruhr. Im Herzen der Stadt liegt die Königsallee, eine der teuersten Einkaufsstraßen der Republik, mit ihren Juwelieren, Modegeschäften und feinen Restaurants – aus Sicht der einen nobel und elegant, aus Sicht der anderen der Inbegriff jenes neureichen Wesens, das man Düsseldorf gern nachsagt. In einer Nebenstraße der Königsallee findet man das Sterne-Restaurant »Victorian«.
Hier wird nach Ostern 1997 in der Beletage regelmäßig ein Tisch am Fenster reserviert, der abgelegen genug ist, um diskrete Gespräche zu erlauben. Und hier sieht man mittags zwei gut gekleidete alte Herren sitzen, die augenscheinlich ernste Dinge bereden. Der Sommelier hat nichts zu tun, die beiden trinken keinen Wein. Sie brauchen einen klaren Kopf. Sie kommen allein, ohne Juristen, Analysten, Referenten. So hat das Schicksal Berthold Beitz und Günter Vogelsang erneut zusammengeführt, zwei Männer, die in der Vergangenheit häufig die Klingen gekreuzt haben und nun, im fortgeschrittenen Alter und als Ehrenvorsitzende ihrer jeweiligen Aufsichtsräte – Beitz bei Krupp, Vogelsang bei Thyssen –, wieder zu jener Gemeinsamkeit zurückfinden, die sie einst in den fünfziger Jahren verbunden hat. Ihre Mission ist die Rettung des Ruhrstahls. Sie wollen zusammenführen, was noch nicht so recht zusammengehören will: die Firmen Thyssen und Krupp, eine Großfusion, die beide stark genug machen soll für die Zukunft. Denn einzeln sind die beiden deutschen Stahlkonzerne im weltweiten Maßstab eher kleinere Fische, von hungrigen Räubern umkreist.
Begonnen haben die Gespräche mit einem echt Vogelsang’schen Scherz. »Du hast da einen Sauladen, den müssen wir in Ordnung bringen«, hat er zu Beitz gesagt. Er kann sich das leisten. Beitz und er kennen sich seit mehr als vierzig Jahren, sie haben Kämpfe ausgefochten und sich wieder angenähert; nun, im hohen Alter, gelten sie als die großen alten Männer der Ruhrindustrie. Jetzt erst, im Herbst des Lebens, werden sie zu Freunden. Als Vogelsangs erste Frau nach einem Schlaganfall stirbt, hat er nur die engste Familie zur Trauerfeier eingeladen. »Und wer ist erschienen? Berthold und Else Beitz.« Gemeinsam gehen sie mit dem trauernden Witwer zum Grab. »Das ist eben seine Art«, sagt Günter Vogelsang heute, »einfach sehr sympathisch.« Ja, sie sind jetzt Freunde.
DAS DUELL DER STAHLRIESEN
Den Willen zur Freundschaft braucht es im Konflikt zwischen Thyssen und Krupp, den Riesen von der Ruhr. Im Jahr zuvor, 1996, hat Krupps Vorstandsboss Gerhard Cromme nämlich mit einem winzigen Zirkel von Vertrauten nicht weniger als die feindliche Übernahme von Thyssen geplant: Der Kleinere will den Größeren schlucken.
Der Stahl, Krupps traditionelles Hauptgeschäft, gilt schon lange als Krisenbranche. 1983, beim gescheiterten Plan der Stahlmoderatoren, im Züge der Konzentration der Branche Thyssen und Krupp zu fusionieren, waren auf der Thyssen-Seite ein junger Manager namens Ekkehard Schulz und bei Krupp der Planungsdirektor Ulrich Middelmann dabei. Der Vorstandschef von Thyssen, Dieter Spethmann, lehnte die entsprechenden Pläne jedoch ab: Er fürchtete die Schwäche des Krupp-Stahls für seine Bilanzen und pokerte lange in Bonn um eine Staatsbürgschaft, bis am Ende gar nichts mehr ging.
Für die beiden dynamischen Herren Middelmann und Schulz endete der große Traum deshalb nicht in einem neu formierten Reich des deutschen Stahls, sondern bloß in einer Düsseldorfer Altstadtkneipe und mit einem schweren Kater. »Middelmann und ich waren so etwas von enttäuscht«, erinnert sich Schulz. Sie trinken eine Nacht lang Bier und versichern einander, was sich zahllose Nachwuchskräfte in ähnlicher Lage versichert haben: »Sollten wir jemals in den Vorstand kommen, dann machen wir alles besser!«
1989 wird dann überraschend Spethmann selbst aktiv, freilich ohne Wissen seines obersten Kontrolleurs, des Thyssen-Aufsichtsratschefs, seinerzeit niemand anderer als Günter Vogelsang. Spethmann fährt an einem Sonntagmorgen zu Beitz und bietet ihm an, Krupp zu übernehmen. »Das war keine sehr kluge Mission«, sagt Ekkehard Schulz im Rückblick, »weder klug noch erfolgreich.« Der Boss aus Düsseldorf bietet Geld, sehr viel Geld. Beitz, der geschworen hat, das Erbe Alfried Krupps und damit die Einheit des Unternehmens Krupp zu bewahren, antwortet dem Besucher: »Herr Spethmann, Sie müssen sich mal das Testament anschauen. Ich kann die Firma nicht verkaufen, und ich werde es auch nie tun.« Als der Thyssen-Chef unverrichteter Dinge abfährt, greift Beitz zum Telefon und ruft Vogelsang an: »Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Vorstandsvorsitzender eben bei mir war und uns kaufen will?«
Nach dem Fall der Mauer im selben Jahr erscheint es allerdings vielen noch dringender geboten, dass sich die deutsche Stahlindustrie »besser aufstellen« muss, wie man in Managementkreisen gern sagt. Die Grenzen öffnen sich, neue Konkurrenten drängen auf die Märkte. Spethmanns Nachfolger bei Thyssen wird nun jemand, der die Lektion von 1983 nicht vergessen hat: Heinz Kriwet. Und Ekkehard Schulz, Vorstandsvorsitzender der Thyssen Stahl AG, ist überzeugt, dass die Stahlfusion für beide Unternehmen eine Frage des Überlebens ist. Mit seinem alten Krupp-Partner Ulrich Middelmann, der inzwischen in den Vorstand des Essener Konzerns aufgerückt ist, plant Schulz in den frühen neunziger Jahren eine Reihe von Joint Ventures für Edelstahl, Elektrobleche und Weichblech. Das, so ihre Hoffnung, soll die Unternehmen auf eine mögliche spätere Stahlfusion vorbereiten.
Gegner dieses Projekts bei Thyssen sind nun ausgerechnet zwei Männer, die, wie immer man es bewertet, einmal bei Krupp gescheitert sind, oder anders gesagt: an Berthold Beitz. Günter Vogelsang hatte 1972 seinen Posten als Vorstandsvorsitzender von Krupp geräumt, weil ihm Beitz zu mächtig geworden war. Heinz Kriwet wiederum war dort im Jahr darauf nicht Stahlchef geworden, weil die Arbeitnehmerseite und Beitz ihn abgelehnt hatten. Nun ist er bei Thyssen Aufsichtsratsvorsitzender. Kriwets Haltung lässt sich mit einem an der Ruhr häufig kolportierten Wort zusammenfassen: Warum sollen wir mit denen bei Krupp fusionieren? Die fallen eines Tages um, und dann kriegen wir sie fast umsonst. Gerhard Cromme meint im Rückblick dazu: »Beide würden das nie so sagen – aber ich bin überzeugt, dass sie im Stillen gehofft haben, dass bei Beitz und Krupp mal richtig etwas schiefgeht.«
Also lassen sich Middelmann und Schulz einiges einfallen, unter anderem sogar eine Gamsjagd auf der Krupp’schen Jagd in Gerlos. Im Dezember 1996 soll Kriwet, auch er ein begeisterter Jäger, auf diese Weise umgarnt werden. Abends, so der Plan, wenn der Aufsichtsratschef den einen oder anderen kapitalen Bock erlegt hat und in zugänglicher Laune ist, wenn es Rotwein gibt und das Feuer im Kamin prasselt, wollen sie noch mal einen Annäherungsversuch wagen. Der Plan kostet einige Gemsen das Leben, scheitert aber dennoch trotz dieser aus waidmännischer Sicht schönen Erfolge. »Ich hätte es wissen müssen«, erinnert sich Schulz. »Kriwet ist Purist. Er merkte, das könnte gefährlich werden, und sagte: ›Also heute Abend feiern wir, und über das Geschäft reden wir morgen beim Frühstück!‹« Und beim Frühstück – »tja, da war nichts«. So leicht kriegen sie ihn nicht herum. Kriwet lehnt die Fusion weiterhin ab.
Das ist emotional erklärbar, aber nicht sehr vorausschauend. Die Welt an Rhein und Ruhr wandelt sich schnell. Die Globalisierung macht den Wettbewerb brutaler, mächtige Global Player tauchen auf den Märkten auf, die Russen, die Inder. Cromme hat dies erkannt: Aus zwei deutschen Stahlgrößen muss ein Stahlriese werden, sonst sterben sie jeder für sich. Selbst Krupp ist trotz der Fusion mit Hoesch 1992 allein nicht stark genug. Und Thyssen wäre, da sind sich die Beteiligten im Rückblick sicher, der erste Übernahmekandidat gewesen: Das Unternehmen hat nämlich keinen Ankeraktionär wie die Stiftung bei Krupp. Längst hat sich die Familie Thyssen weitgehend zurückgezogen, der Aktienbesitz ist sehr breit gestreut – das ideale Ziel für einen Aufkäufer mit Risikobereitschaft und viel Cash.
Über beides verfügt Ende 1996 Gerhard Cromme. Er hat zahlreiche Geldinstitute, allen voran die Deutsche Bank und Goldman Sachs, überzeugt, dem Krupp-Konzern Milliarden zu leihen. Mit dem Geld will er der Mehrheit der Thyssen-Aktionäre ein so attraktives Angebot machen, dass sie ihre Unternehmensanteile an Krupp verkaufen. Das klingt wahnwitzig, zumal in den neunziger Jahren. Noch gehört das hostile takeover, eine Übernahme gegen den Widerstand des Managements, zu den Ausnahmen in Deutschlands Wirtschaftswelt; wenig später, im Jahr 2000, sind Empörung und Schrecken entsprechend groß, als die britische vodafone den Traditionskonzern Mannesmann schluckt.
Mit Hilfe der Banken entwirft Cromme 1996 also den Geheimplan mit dem vielsagenden Namen »Hammer und Thor« zur Übernahme der Düsseldorfer Konkurrenz. Nach der späteren Ansicht von Analysten hat er »ein gut gepflügtes, strategisch geschickt geordnetes Feld für die Fusion mit Thyssen bereitet«. Der Angriff auf Thyssen, den mehr als doppelt so großen Konzern aus Düsseldorf, ist aus Crommes Sicht eine Art Notwehr. »Es gab«, so erzählt er heute, »ökonomisch gar keine Alternative dazu, wenn wir überleben wollten, und es hatte ja schon viele Vorplanungen gegeben. Aber sie haben es einfach nie hingekriegt. Und ich dachte: Palavern nützt nichts, dann müssen wir es eben machen.« Zuvor muss Cromme allerdings noch einen überzeugen, ohne dessen Zustimmung nichts geht: Berthold Beitz.
Der Vertreter des Hauptaktionärs, der Stiftung, ist seit den Erfahrungen von 1966/67 alles andere als ein Freund der Banken und erst recht einer Verschuldung bei ihnen. Am 3. Februar 1997 unterrichtet ihn Cromme von seinen Plänen, auf die Beitz außerordentlich skeptisch reagiert. Zu Horst Dieter Marheineke, dem Olympia-Mitstreiter von 1972 und inzwischen neben dem Vorsitzenden Beitz Mitglied des Stiftungsvorstands, sagt er sogar, Cromme sei »ein hervorragender Mann«, doch frage er sich, ob dieser nicht »nach den bisherigen Erfolgen das Maß zu verlieren« drohe. Auch Beitz’ Freund und Stiftungskurator Hans Leussink äußert sich kritisch, und noch am 10. Februar 1997 sagt Beitz zu Marheineke, »er sei jetzt gegen das Vorhaben und wolle das Cromme auch sagen«. Seine Bedenken, außer der Sorge vor der Abhängigkeit von den Banken: Die Stiftung wäre nur noch Minderheitsaktionär, und die von Cromme versprochenen Synergien, die erste Frucht der Fusion, »bedeuten … letztlich den Abbau von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet. Aber es besteht doch eine Verpflichtung, an das Wohl der Arbeiter zu denken.« Außerdem werde man sich »eine große Anzahl von Persönlichkeiten zu Feinden machen«.
Aber Cromme steht nicht allein, viele stützen ihn. Jürgen Rossberg etwa, ein alter Beitz-Mitarbeiter und damals Mitglied des Vorstands; heute sagt er: »Es war gut durchgerechnet. Mit Teilverkäufen hätten wir die Übernahme finanzieren können.« Cromme gibt daher nicht auf, und so trifft sich am 11. März 1997 ein neunköpfiger Geheimzirkel aus Firma und Stiftung in der Villa Hügel. Das Ziel: Eine grundsätzliche Aussprache über den Übernahmeplan. Cromme wirbt mit Verve für seine Idee: »Es handelt sich um den waghalsigsten und größten Schritt in der Nachkriegsgeschichte.« Es sei gelungen, »alle deutschen Geschäftsbanken für das Vorhaben zu gewinnen, alle seien darauf eingeschworen«. Gehe man diesen Schritt nicht, werde es »in drei, fünf oder zehn Jahren das Unternehmen Krupp nicht mehr geben«. Das Stahlproblem habe den Konzern in »existentielle Schwierigkeiten gebracht«. Nicht ohne Geschick fragt er: »Was wäre denn im Kopf von Alfried Krupp vorgegangen, wenn er vor dieser Situation gestanden hätte?«
Beitz, der anfangs ruhig zugehört hat, konfrontiert Cromme und die anderen Manager mit seinen Bedenken. Wird es zu Entlassungen kommen? Und wie »stellt sich ein Worst-Case-Scenario dar«, also die Abhängigkeit von den Banken? Er habe »bittere Erfahrungen« gerade mit der Deutschen Bank gemacht. Was wird mit der Stiftung, was mit der Dividende, von der sie lebt? Und was passiert, falls Thyssen die Arbeitnehmer mobilisiert? Cromme versucht, ihn zu beruhigen.
Noch am selben Tag, dem 11. März, ruft Beitz bei Johannes Rau an, dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, dem er schon lange freundschaftlich verbunden ist. Er möchte Rau, der auch Kurator der Stiftung ist, dringend treffen. Mittags kommt er in das Büro des Landesvaters, der ihre Begegnung einige Zeit später so zusammenfassen wird: »Sodann unterrichtete mich Professor Beitz von den Überlegungen des Vorstands der Krupp Hoesch AG, die später Gegenstand öffentlicher Erörterungen und Auseinandersetzungen wurde. … Ich hielt solche Überlegungen für ›undenkbar‹ und erfuhr von Professor Beitz, daß auch er viele Aspekte für falsch und wenig aussichtsreich hielt.«
Beitz hat sich Rau ganz offenkundig mit all seinen Sorgen und Zweifeln anvertraut. Wenn der Ministerpräsident als Kurator die Zustimmung zum Angriff auf Thyssen verweigert, wird es für Cromme sehr schwer. Dieser hat gefordert, das Gremium solle möglichst schnell »grünes Licht« geben. Formal reicht dafür eine Mehrheit, doch ein abweichendes Votum des Landesvaters würde faktisch einem Veto gleichkommen. Beitz kündigt Rau »eine außerordentliche Sitzung« des Gremiums an. Nachdem der Gast sich verabschiedet hat, erscheint Rau nach eigenem Eindruck »die Wahrscheinlichkeit einer solchen Aktion [gemeint ist die Übernahme; J. K.] äußerst gering«.
Der Sozialdemokrat kann eigentlich kein Interesse an dem gewagten Projekt haben. Eine Übernahme führt unweigerlich zu »Synergieeffekten«, und solche lösen bei den Arbeitnehmern stets große Ängste aus, bedeuten sie doch, wie Beitz Cromme ja bereits gewarnt hat, in der Regel den Verlust einer erheblichen Zahl von Arbeitsplätzen. Schon in der Krupp-internen Besprechung vom 11. März ist von mehr als 5000 gefährdeten Jobs vor allem in Dortmund die Rede. Gerade einem SPD-Ministerpräsidenten dürfte die Vorstellung wenig behagen, demonstrierenden Ruhrarbeitern erklären zu müssen, warum er persönlich mit im Boot gesessen habe, als die Entscheidung dafür fiel. Auch Beitz’ Zweifel sind noch einmal gewachsen: Er selbst hadert mit dem Plan, den er nun auch noch gegen die Landesregierung durchkämpfen müsste.
Fünf Tage später, am 16. März, findet ein neues Treffen in der Stiftung statt. Es ist ein Sonntag. Mit dabei sind diesmal der iranische Anteilseigner Navab-Motlagh und Friedel Neuber, Chef der WestLB, auf die Cromme als Verbündete setzt. Der Vorstandschef legt sein Übernahmeziel in Zahlen dar, so das Protokoll der Sitzung. Angestrebt sei, »eine Mehrheit von rund 60 % zu erwerben«, aufgeteilt auf die Stiftung, den Iran und die Westdeutsche Landesbank. Es werde sich »ein Kaufpreis von 8,5 bis 9 Milliarden ergeben«, damit würde »sich die Verschuldung mit den gegenwärtigen Schulden von Krupp (3,1 Milliarden) und Thyssen (4,9) auf 16 Mrd. DM addieren«. Cromme stellt unmissverständlich klar: Zu seinem Konzept »könne man nur ja oder nein sagen. Bei einem nein sei das Thema beendet.« Er befürchtet »Indiskretionen« und bittet das Kuratorium »baldmöglichst« um sein Ja.
Nur zwei Tage später, am 18. März, legt der Krupp-Vorstand Beitz mit der Bitte um Zustimmung ein durchgerechnetes Konzept vor, »das die von Ihnen genannten Bedingungen« für eine Zustimmung erfülle:
1. Die Stiftung, der Iran und die WestLB erreichen nach einer Verschmelzung die Mehrheit.
2. Die Finanzierung ist gesichert.
3. Die Rückführung der Schulden erfolgt in einem überschaubaren Zeitraum.
4. Die Dividendenkontinuität [für die Stiftung; J. K.] ist sichergestellt.
Zur Zustimmung des Kuratoriums wird es jedoch niemals kommen. Denn in der Zwischenzeit ist geschehen, was Cromme befürchtet hat: Die Sache ist durch eine Indiskretion ans Licht geraten. Am selben Sonntag schon, dem 16. März, als sich die geheime Runde im Stiftungsgebäude trifft, steckt Landesfinanzminister Heinz Schleußer dem Thyssen-Aufsichtsratsvorsitzenden Heinz Kriwet die schlechte Nachricht. Der trommelt eilig seine Truppen zusammen. Thyssens Vorstandsvorsitzender Dieter Vogel ruft, ebenfalls noch am Sonntag, bei seinem Stahlchef Ekkehard Schulz an: Anfang der Woche werde es »einen feindlichen Übernahmeversuch von Krupp geben«. Schleußer habe es von Ministerpräsident Rau. So kann Thyssen in letzter Stunde eine notdürftige Abwehrfront aufbauen. Bei feindlichen Übernahmen ist das Überraschungsmoment wichtig, denn es hindert das andere Management an Gegenmaßnahmen wie etwa einer Kapitalerhöhung, die den Preis der Aktien in die Höhe treibt. Volkswirtschaftler werden später berechnen, »dass Krupp-Hoesch drei weitere Tage ohne öffentliches Interesse ausgereicht hätten, die feindliche Übernahme zu vollenden«.
In einem Brief an Beitz bestreitet Johannes Rau später etwas vage, Schleußer vorab die brisante Story erzählt zu haben. Er habe nach dem Besuch von Beitz am 11. März in »mehreren Gesprächen mit Kabinettskollegen und dem Chef der Staatskanzlei … auch allgemein meine Sorge um die zukünftige Entwicklung ausgesprochen«. Die Unterredung mit Beitz habe darin »keine Rolle gespielt«. Schleußer habe er erst am 17. März informiert.
Wie auch immer, die Sache ist am Licht, und das erfahren Beitz und Cromme bereits am folgenden Tag. An ebendiesem 17. März, einem Montag, kommen beide jedenfalls abends persönlich zu Rau und Wirtschaftsminister Clement in die Staatskanzlei und sprechen mit ihnen über den Übernahmeplan. Der ist zwar aufgeflogen, wäre aber immer noch umsetzbar, wenn auch unter größeren Kosten und Schwierigkeiten als bei überraschenden Anteilsankäufen. Was soll nun werden? Rau macht noch einmal deutlich, dass er eine feindliche Übernahme von Thyssen im Stiftungskuratorium »nicht würde unterstützen können«. Nur einen Tag darauf trifft sich beim Ministerpräsidenten eine Krisenrunde, der Cromme und Beitz für Krupp sowie Vogelsang und Kriwet für Thyssen angehören. Allein die Anwesenheit beider Ehrenvorsitzender zeugt von einem neuen Ansatz. Schließlich einigt man sich auf Verhandlungen – auf ein »gemeinsames Konzept für den Stahlbereich«. Beitz stimmt erleichtert zu. SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der kommende starke Mann hinter Ministerpräsident Johannes Rau, spricht noch heute »von einem der spannendsten industriepolitischen Erlebnisse meiner Zeit in Düsseldorf«. Beitz habe »Johannes Rau gebeten, eine Vermittlungsrolle einzunehmen«, was ihn, Clement, sehr beeindruckt habe: »Das erlebt man heute ja kaum noch, dass ein Unternehmensführer zur Regierung geht, um sie zu informieren. Sie nehmen die Politik gar nicht mehr ernst, sie fühlen sich ihr weit überlegen. Aber Berthold Beitz ist am Konsens orientiert und achtet auf Etikette.«
Beitz seinerseits sagt heute recht offen: »Ich habe von der feindlichen Übernahme eigentlich gar nichts gehalten. Und ich habe Herrn Cromme davon abgehalten. Was wäre denn passiert? Der Konzern hätte dann Milliarden Schulden gehabt, und Herr Cromme hätte dann aus dem Thyssen-Konzern Betriebe verkaufen müssen« – um ebendiese Schulden abzubezahlen.
Im März 1997 stellt sich die Sache für die Beteiligten allerdings noch nicht so eindeutig dar. Beitz ist von dem Übernahmeplan nicht überzeugt, er zögert, zumal nach dem Treffen mit Rau am 11. März. Lehnt er jedoch rundheraus ab, würde er Cromme schwer beschädigen, und eine Lösung des Stahlproblems stünde weiter in den Sternen. Aber er will sich nicht offen gegen seinen Mann stellen, der den Konzern so erfolgreich aus dem Schlamassel der achtziger Jahre herausgeholt hat. Deshalb stärkt er Cromme demonstrativ und vor versammelter Mannschaft bei der Übernahmedebatte am 16. März in der Stiftung. In deren Protokoll heißt es: »Er habe großes Vertrauen zu Herrn Cromme. Dieser müsse wissen, daß er ihn als seinen Nachfolger vorgesehen habe.« Diese Erhebung in den Stand des Kronprinzen versichert den Jüngeren einerseits der Loyalität des zu dem Zeitpunkt 83-jährigen Krupp-Patriarchen, andererseits fährt dieser laut Protokoll fort: »Ich benötige für meine Entscheidung Sicherheiten.« Er müsse »die Frage stellen, ob es keine andere Möglichkeit des Vorgehens gebe. Es bleiben viele Zweifel.«
Und so kommt es, dass Rau als Schirmherr und Clement als Vermittler zwischen den beiden Stahlriesen durch die weiteren Verhandlungen ab dem 19. März führen. Die Kruppianer haben den Versuch der feindlichen Übernahme zurückgestellt. Bis Gründonnerstag 1997 herrscht eine Art Friedenspflicht.
Im Grunde hat Beitz damit erreicht, was er wollte: Die feindliche Übernahme mit all ihren Risiken und Konflikten ist fürs Erste abgewendet, ohne dass er sie ausdrücklich abgelehnt hätte. Dafür taugt sie nun aber als Drohkulisse für die Verhandlungen mit Thyssen, gemäß dem an der Ruhr beliebten Sprichwort: Was nicht ist, das kann ja noch werden. Der Druck auf den Düsseldorfer Konzern bleibt also groß und zwingt dessen Führung zu Verhandlungen – auch wenn Kriwet und Thyssen-Vorstandschef Dieter Vogel schwören, sich »bis zur letzten Patrone« zu verteidigen.
Es fehlt ihnen durchaus nicht an Munition. Seit der Schließung des Stahlwerks Rheinhausen ist Cromme für viele, gerade auf Arbeitnehmerseite, ein Feindbild: »der Plattmacher«. Und kaum sind die Übernahmepläne heraus, erinnert die Woge des Protests an die alten Kampftage, eine Woge, die sogar über das Frankfurter Bankenviertel hereinbricht. Vor den Türmen des Kapitals ziehen 30 000 wütende Arbeiter auf, mit Trillerpfeifen, Plakaten und Sprechchören machen sie ihrem Ärger Luft: »Die Dealer von der Deutschen Bank machen die Gesellschaft krank!« Die Deutsche Bank würde nämlich die feindliche Übernahme von Thyssen mitfinanzieren und ist dort gleichzeitig im Aufsichtsrat vertreten. So viel proletarischen Zorn hat die Republik, die mehr oder auch weniger kluge Denker bereits in der Phase des postindustriellen Zeitalters angekommen sehen, schon lange nicht mehr erlebt. »Voll draufhalten auf die Schweine, die unsere Familien zerstören«, röhrt der Betriebsratsvorsitzende. Die Menge wirft mit Erdnüssen auf den himmelhochragenden Palast der Deutschen Bank, eine ironische Anspielung auf ein Zitat von Hilmar Kopper. Der Banker hatte 1994 großspurig erklärt, die offenen Rechnungen der Handwerker bei der Pleite des Immobilienzaren Jürgen Schneider seien doch bloß »peanuts«, Erdnüsse – seither ein Synonym für die Arroganz der Geldmacht gegenüber den kleinen Leuten. Es dürfte die einzige Großdemonstration gegen das Kapital sein, die man in den Vorstandsetagen eines Großkonzerns wohlgefällig verfolgt – bei Thyssen nämlich. Der Druck der Straße ist ganz in Vogels Sinne.
Dafür ist die Benennung der Unterhändler ein Problem für die Thyssen-Seite. Der Aufsichtsratsvorsitzende Kriwet und sein Vorstandschef Vogel lehnen eine Fusion ab – doch nicht ausgerechnet mit Krupp, dem Essener Unternehmen, auf das viele in Düsseldorf inzwischen ein wenig herabschauen! Man ist schließlich längst über den einstigen Branchenführer hinausgewachsen. »Unsere Hardliner bei Thyssen«, erinnert sich Ekkehard Schulz heute, »haben die fünf Buchstaben von Krupp so buchstabiert: Kaum Rentabel Und Praktisch Pleite – Krupp.« Schulz seinerseits, Thyssens Stahlchef, war schon immer für eine Fusion.
Die Orte der offiziellen Verhandlungen im März 1997 könnten symbolbefrachteter nicht sein. Teils treffen sich die Delegationen im Stiftungshaus auf dem Hügel, der noch immer das ausgeprägte Selbstgefühl der Gründerfamilie ausstrahlt. Wenn es ums Repräsentieren geht, können freilich auch die Thyssianer mithalten: Sie laden ein in ihr Gästehaus, Schloss Landsberg über dem Ruhrtal, eine Burg, die Graf Adolf V. von Berg im 13. Jahrhundert zur Sicherung der Flussbrücke errichten ließ. Die ungewöhnlich massive Festung mit ihrem 33 Meter hohen Turm ließ August Thyssen im geschichtsverliebten Stil des Historismus zum Schloss umbauen; er lebte hier, bis zu seinem Tode 1926. Noch heute wirkt das Haus zwischen den verspielten Gartenanlagen verschlossen und geheimnisvoll. Aber die Aura von Macht und Kraft, die von hier ausgeht, war von den Grafen der Ritterzeit ebenso beabsichtigt wie von den Baronen des Industriezeitalters: An uns kommt niemand vorbei, und an uns kommt niemand heran.
Doch auch wenn Dieter Vogel das, was Cromme, bis dahin sein persönlicher Duzfreund, sich da ausgedacht hat, als »Wildwest-Manier« beschimpft: Allein der Versuch der feindlichen Übernahme hat genügt, um die starre Ablehnung eines Zusammenschlusses bei Thyssen kollabieren zu lassen. Entsprechend frohlockt der Unternehmensberater Roland Berger: »Ich glaube, daß Deutschland nie mehr so sein wird, wie es war, und die Grabesruhe an dendeutschen Kapitalmärkten nie wiederkehren wird.« Eine friedliche Fusion bringt die Kruppianer zwar um die Option der alleinigen Macht im neuen Konzern, hat aber sonst nur Vorteile im Vergleich zur feindlichen Übernahme – vor allem kostet sie keine Milliarden.
So ist es schließlich keine Sensation, als die beiden Konzerne nach nur acht Tagen Verhandlung die Gründung einer gemeinsamen Stahlgesellschaft ankündigen, eine Teilfusion also beim Stahl. Zu den wenigen wirklich gut gelaunten Herren auf der Thyssen-Seite, die nach einer langen Nacht auf Schloss Landsberg anderntags im Düsseldorfer Konzernsitz eintreffen, gehört Ekkehard Schulz, der künftige Chef ebendieser gemeinsamen Stahlgesellschaft. Er ist auf dem Weg, dem Aufsichtsrat zu berichten, da läuft ihm auf dem Flur Vogelsang über den Weg. »Nun haben Sie ja, was Sie immer wollten«, knurrt der, »dann machen Sie mal was draus.«
Es liegt in der Logik des Abkommens, dass der nächste Schritt eine Vollfusion sein wird. Schon im August 1997 nehmen beide Firmen Gespräche darüber auf. Thyssen-Vorstand Vogel pokert hoch, stellt schwer erfüllbare Bedingungen und brüskiert die Verhandlungspartner, die er wissen lässt, die Fusion sei »keine Krupp-, sondern eine Thyssen-Veranstaltung«. Er will Krupp so klein wie irgend möglich halten. Die Verhandlungen sind dementsprechend zäh, insgesamt 19 Arbeitsgruppen tüfteln Details aus.
Alles Gefeilsche hilft indes wenig, solange zwei wesentliche Punkte noch ungelöst sind und zu einer Blockade zwischen den beiden Vorständen und ihren Aufsichtsräten führen. Erstens: Wer soll den Konzern leiten bzw. wer wird Vorstandsvorsitzender? Und zweitens: Wie werden die jeweiligen Anteile der beiden Firmen am neuen Unternehmen berechnet, sprich, wie viel sind die bisherigen Aktien der beiden Seiten wert? Vor allem diese letzte Frage beschäftigt Heerscharen von Zahlenmenschen in beiden Häusern.
Und nun, nach Ostern 1997, schlägt die Stunde der Patriarchen. Ein-, zweimal im Monat verhandeln Beitz und Vogelsang unter vier Augen im Restaurant »Victorian«. Vogelsang hat inzwischen angesichts der Macht des Faktischen seine Meinung geändert und sieht nun in einer friedlichen Fusion auch Vorteile für Thyssen.
Zu besprechen ist also zuerst die Personalie. Beitz’ Vertrauter Cromme – das ist der Fluch von Rheinhausen – gilt bei den Thyssen-Arbeitnehmern als Vertreter eines kalten amerikanischen Reagan-Kapitalismus und eben nicht als Freund der klassischen Montanmitbestimmung; bei Thyssen gibt es sie noch, bei Krupp-Hoesch nicht. Andererseits ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Vogel. Sie wirft ihm Veruntreuungen bei der Abwicklung des ehemaligen DDR-Betriebs Metallurgiehandel zugunsten des Ruhrkonzerns vor, was seine Position erheblich schwächt.
Beitz setzt ohnehin auf Cromme. Nur: Thyssen, mit dem Selbstbewusstsein des Größeren, wird Cromme schwerlich als Vorstandschef akzeptieren. Das würde dann doch als Kapitulation betrachtet. Andererseits ist die Krupp-Stiftung, der auf der Thyssen-Seite kein vergleichbarer Großaktionär gegenübersteht, der mit deutlichem Abstand größte Anteilseigner und kann schon deshalb auf die Besetzung des Vorstandsvorsitzes pochen.
Bei einem ihrer Mittagessen finden Beitz und Vogelsang schließlich die Lösung. Fürs erste und zur Befriedung der Gemüter bekommt der Konzern im Vorstand eine Doppelspitze, nämlich Cromme für Krupp und Schulz für Thyssen. Vogel, der eine solche Lösung vehement abgelehnt hat, ist aus dem Rennen und wird bald danach aus dem Unternehmen ausscheiden. Ein Sprecher von Thyssen-Privatanlegern, Hans-Martin Buhlmann, tobt deshalb über »das Diktat von Krupp«: »Hier opfert der Aufsichtsrat den Kaiser.« Ein mächtiger Spieler hat überreizt und verloren.
Die Begeisterung der beiden Kandidaten für die Doppelspitze hält sich in Grenzen, aber der Logik des Schrittes können sie sich nicht verschließen. Seufzend stimmt Cromme zu, nicht der Mann, der seine Entscheidungsgewalt gern mit jemandem teilt. Thyssen-Stahlchef Ekkehard Schulz wiederum ist aus Sicht von Beitz die ideale Lösung; er kennt Schulz von gelegentlichen Jagden und saß bei der ersten Begegnung lange mit ihm in der Jagdhütte zusammen, angenehm überrascht von dem Jungmanager und dessen ruhiger, gelassener Art. Ein paar Tage später schickte er ihm Fotos, Schulz vor der Jagdstrecke, eine typische Beitz’sche Weise des freundlichen Kontakthaltens.
Die Doppelspitze wird später keine freundliche Presse haben und als Ausdruck egozentrischen Lagerdenkens innerhalb der vereinigten Firmen gegeißelt. An dieser Einschätzung ist allerdings vieles falsch. Gerade Schulz ist es doch gewesen, der bei Thyssen stets die Fusion mit Krupp gewollt hat. Er ist Techniker, ein freundlicher, kräftiger Mann, akzeptiert und geschätzt in der Belegschaft, einer, dem bei der Werksbesichtigung der Schutzhelm nicht wie ein Fremdkörper schief auf dem Kopf sitzt. Cromme ist zwar distanzierter, aber, wie Schulz heute freimütig zugibt: »Mit zehn Jahren Vorstandserfahrung bei Krupp war er in Wirtschaft und Politik ganz anders vernetzt als ich. Wir sind ganz unterschiedliche Typen, genug, um sich nicht immer ins Gehege zu kommen.« Zum selbstzerstörerischen Kampf der Firmenkulturen, den die Kritiker vorhergesagt haben, kommt es jedenfalls nicht, und das allein ist schon Erfolg genug.
Die zweite ungeklärte Frage ist nicht minder heikel: Es geht um das Geld der Aktionäre und den Wert der Konzerne im Verhältnis zueinander. Doch auch hier erarbeiten Beitz und Vogelsang beim Mittagsmenü eine simple Lösung. Sie verzichten auf Spiegelfechtereien hinter dem Komma und bemessen den Wert auf einfachste Weise: Thyssen 2, Krupp 1. Zwei Drittel der Anteile hat Thyssen, ein Drittel Krupp-Hoesch. Für Beitz sind diese 33,33 Prozent ein ordentliches Ergebnis – weit über den ursprünglichen Vorstellungen der Thyssen-Leute. Manche von ihnen haben Krupp auf 20 Prozent heruntergerechnet, während Zahlenkünstler aus Crommes Team bis zu 40 Prozent dagegengehalten haben. Aber 2:1, damit kann jeder leben; und selbst Hans-Martin Buhlmann, der aufsässige Sprecher vieler Thyssen-Aktionäre, dringt mit seinem Protest gegen die vermeintliche »Kapitulation vor Krupp« nicht mehr durch: »Wir sind das Volk, wir sind die Eigentümer, auf uns müssen sie hören, nicht auf die Herren Beitz und Vogelsang.«
Rückblickend meint Vogelsang: »Diese Fusion kam zustande, einfach weil zwei Männer das für richtig hielten und zusammen den richtigen Weg gefunden haben. Es war eine schöne Zeit – und wir beide waren das Kraftfeld.« Beitz stimmt zu: »Das ist gut gelaufen, wir saßen dort, aßen gut, sprachen intensiv, es gab keine Schriftsätze, und wir haben die Lösungen gefunden.«
Im März 1999 ist alles geschafft: Nach langen Verhandlungen und nicht minder langen organisatorischen Vorbereitungen fällt der Startschuss für die vereinte Firma ThyssenKrupp; die Zentrale bleibt vorerst im Düsseldorfer Hauptquartier von Thyssen; 2010 zieht sie nach Essen, in einen spektakulären Neubau auf dem Gelände der früheren Krupp-Fabrik an der Altendorfer Straße. Das Gemeinschaftsunternehmen mit fast 190 000 Arbeitsplätzen ist unter anderem der größte Konzern für Edelstahl in Europa, und die Fusion im Konsens hat lediglich 2000 Jobs gekostet, die bald, in späteren Boomjahren, wieder neu entstehen werden. Weil Thyssen weit mehr in die Zweckehe miteingebracht hat, wird Heinz Kriwet auch Aufsichtsratschef des neuen Konzerns. Beitz und Vogelsang sind Ehrenpräsidenten.
Ende gut, alles gut? Anfangs hat es nicht den Anschein, jedenfalls nicht für Berthold Beitz. Der Kurs der neuen Firmenaktien bleibt auch noch zwei Jahre nach der Fusion von 1999 weit unter den Erwartungen. Bedenklich erscheint Beitz vor allem, dass die Fusion zwar faktisch vollzogen ist, dass letztlich aber immer noch zwei Lager bestehen. Schulz und Cromme bemühen sich durchaus um eine gemeinsame Linie, doch der Vorstand ist insgesamt zu groß und zu sehr nach Proporz zusammengesetzt. Aufsichtsratschef Kriwet will daran nichts ändern und trägt nach Meinung vieler noch immer eine gewisse »Krupp-Phobie« zur Schau.
Pannen und Pleiten kommen hinzu. So schon bei einem Treffen der großen Anteilseigner in der Villa Hügel. Die Teilnehmer, Kriwet voran, halten es für eine großartige Geschäftsidee, den kanadischen Stahlhersteller Dofasco zu kaufen, man gerät aber in eine erbitterte Übernahmeschlacht mit dem Konzern Arcelor und verliert. Arcelor wird dennoch später selbst Opfer einer feindlichen Übernahme durch den indischen Stahlriesen Mittal.
Schließlich, im März 2001, wird Kriwet entthront. Beitz hält Kriwet persönlich zwar für einen Ehrenmann, sieht in ihm aber auch einen der Verantwortlichen für die ungute Lagerbildung im Konzern. Dementsprechend mobilisiert er seine Truppen gegen den Chefkontrolleur. Die Stiftung hält fast 17,36 Prozent, die Iraner 7,69 Prozent, die Commerzbank und die Allianz gemeinsam etwa weitere sieben Prozent. Zusammen mit kleineren Anteilseignern ist das eine mächtige Front. Zu einer dramatischen Schlussszene kommt es auf dem Hügel in Essen. Hier empfängt Beitz den Aufsichtsratschef, flankiert von Friedel Neuber und dem Iraner Navab-Motlagh. Die drei nehmen Kriwet in die Zange: Entweder Kriwet nimmt seinen Hut, oder das Bündnis der Großaktionäre wird dafür sorgen, dass die Hauptversammlung ihn nicht entlastet. Dazu würde genügen, dass die drei die zahlreichen Abwahlanträge gegen Kriwet unterstützen, die wegen »desolater Führungslosigkeit« und ähnlichen Vorwürfen für die Aktionärsversammlung eingereicht worden sind. Kriwet ist in diesem Augenblick jedoch zu stolz, um einzuknicken.
In den Tagen vor der Hauptversammlung sackt der Aktienkurs gleichwohl ab. Die Anleger mögen keine Konzerne mit Führungsproblemen, und die bei ThyssenKrupp haben sich längst herumgesprochen. Und als sich am 2. März in der Duisburger Mercatorhalle mehr als 5000 Menschen drängen, Aktionäre und ein Großaufgebot von Journalisten, da bleibt der Showdown aus. Kriwet erklärt seinen Verzicht: Im Herbst werde er den Vorsitz des Aufsichtsrats niederlegen. Die Doppelspitze im Vorstand ist damit Geschichte, denn Cromme übernimmt den Posten von Kriwet – eine symbolträchtige Entscheidung.
Berthold Beitz, der Kriwet weiterhin sehr schätzt, hat seinen letzten großen Kampf um Krupp endgültig gewonnen. Die Fusion mit Thyssen, so quälend lange sie sich hingezogen hat, ist die vierte Entscheidung über den Konzern, die eng mit seinem Namen verbunden ist – nach dem Erbverzicht Arndts 1966, dem Kampf gegen die Banken 1967 bis 1970 und der Iran-Beteiligung 1974/76. Und auch diesmal ist die Entscheidung weit über den eigentlichen Konzern hinaus von Bedeutung: Das deutsche Stahlgeschäft ist damit langfristig gesichert, der neue Konzern einer der Riesen in Europa und der Welt.
DIE »SCHÜTZENDE HAND«
Ebendieser neue Konzern ThyssenKrupp erweist sich nach den ersten mageren Jahren als Erfolgsgeschichte. Es geht – erst allmählich und dann rasch – aufwärts. Im erfolgreichen Geschäftsjahr 2005/06 beläuft sich der Umsatz auf 47,125 Milliarden Euro, das Ergebnis vor Steuern auf 2,623 Milliarden. Bemerkenswert ist die Entschuldung des Konzerns, denn vor allem bei Krupp hat es ja stets das Problem gegeben, dass nicht genug Kapital vorhanden war.
Ist das fusionierte Unternehmen wirklich groß genug, um seinerseits dem Übernahmeversuch eines Global Player widerstehen zu können? Das bleibt eine Sorge, die Beitz beschäftigt. Nach den Fusionen mit Hoesch und dann mit Thyssen hält die einst alles beherrschende Krupp-Stiftung zunächst nur noch 18 Prozent der Aktienanteile – viel im Vergleich zu anderen, zu wenig, um im Ernstfall zu zeigen, wer Herr in dem Hause ist, das ihm Alfried Krupp 1967 zu treuen Händen übergeben hat. Daher nimmt die Stiftung 2006 viel Geld auf und erhöht ihre Anteile durch Aktienkäufe auf 25,33 Prozent. Der iranische Anteil ist, auf Druck der Bush-Administration in Washington, bis 2005 auf unter fünf Prozent gesunken. Die Stiftung hält heute, als Riese unter mehr als 250 000 Aktionären, jenen Anteil, der als Sperrminorität völlig ausreicht. Zudem kann sie drei Mitglieder in den Aufsichtsrat des Konzerns entsenden, ohne dass sie sich in der Hauptversammlung zur Wahl stellen müssen. Theoretisch könnte ja ein Großinvestor das Gros der Aktien erwerben, die der Stiftung nicht gehören – immerhin fast drei Viertel. Das macht aber nur begrenzt Sinn ohne Kontrolle des Vorstands, der wiederum ohne den Aufsichtsrat nicht neu besetzbar ist. Im 20-köpfigen Aufsichtsrat sitzen je zehn Vertreter der Arbeitnehmer- und der Anteilseignerseite. Der Vorsitzende, in diesem Fall Cromme für die Anteilseigner, hat im Fall einer Stimmgleichheit eine Doppelstimme.
Die Mitglieder aus der Belegschaft sind meist gegen Übernahmen – sie fürchten soziale Einschnitte und den Verlust von Arbeitsplätzen. Also muss sich ein potenzieller Angreifer, wie man in der Wirtschaft gern sagt, an die andere Seite halten. Kauft er die große Mehrheit der Aktien, wird er auf der Hauptversammlung der Aktionäre Männer, inzwischen gelegentlich auch Frauen, seiner Wahl in den Aufsichtsrat und an dessen Spitze wählen lassen. So ließe sich, selbst wenn alle Arbeitnehmervertreter wie Pech und Schwefel zusammenhalten, eine Mehrheit von 11:10 schaffen und ein genehmer Unternehmensvorstand einsetzen. Nur die Krupp-Stiftung kann diese klassisch machiavellistische Strategie durchkreuzen. Sie darf drei Mitglieder in den Aufsichtsrat entsenden, natürlich auf der Arbeitgeberseite. Da Beitz sein Berufsleben dem Wohle Krupps gewidmet hat, könnte er so klare Mehrheiten im Aufsichtsrat gegen eine Übernahme mobilisieren. Und natürlich, daran lässt er keinen Zweifel, würde er genau das tun. Er und die Stiftung seien eine Art Lebensversicherung für ThyssenKrupp, meint noch heute Ekkehard Schulz, seit Crommes Aufstieg in den Aufsichtsrat alleiniger Vorstandschef: »Das hat für das Unternehmen in einer Phase, als viele darum kämpften, nicht von einem der Großen übernommen zu werden, enorme Bedeutung gehabt – und wird es weiterhin haben.«
Gegenbeispiele gibt es genug: 2006 schluckt der größte Stahlproduzent der Welt, die britisch-indische Mittal Steel Company, trotz heftigen Widerstands den Konkurrenten Arcelor – auf dem Weg der feindlichen Übernahme und für 26 Milliarden Euro. Der indische Milliardär Lakshmi Mittal macht Schlagzeilen auch deswegen, weil er es zum drittreichsten Menschen der Welt gebracht hat und in London eine Villa für rekordverdächtige 102 Millionen Euro kauft. Im selben Jahr, 2006, erhöht Beitz, wie erwähnt, vorsorglich den Anteil der Stiftung an der eigenen Firma. Zuvor gab es schon Kontaktversuche von Mittal, wie Beitz berichtet: »Die waren schon bei Herrn Schulz und wollten mich sprechen. Ich habe ihm gesagt: Kommt überhaupt nicht in Frage, hier wird nicht verkauft. Ich habe überhaupt keine Veranlassung, mit ihm zu reden.« – »Bei Herrn Mittal gab es ganz ernsthafte Überlegungen, und auch bei den Russen«, bestätigt auch Cromme. »Vieles an ThyssenKrupp ist verlockend: die Firma, der große Name, die Technologie.«
Man trifft nicht häufig Betriebsräte, die vom Großaktionär ihres Unternehmens schwärmen. Aber im ersten Stock des Dreischeiben-Hochhauses in Düsseldorf, tief unter der Chefetage und auf Augenhöhe mit einem hässlichen Gewirr von Hochstraßen, sitzt Anfang Januar 2007, gleich nach Dreikönig, Thomas Schlenz, der Vorsitzende des Konzernbetriebsrats von ThyssenKrupp, und schreibt einen Brief an Berthold Beitz, nachdem der den Aktienanteil der Stiftung ausgebaut hat: »Das ist, so meine ich, ein ganz wichtiger Schritt, um unseren Konzern vor Leuten zu schützen, die Ziele verfolgen, die unserem gewachsenen Verständnis eines nachhaltig erfolgreichen Industriekonzerns widersprechen.« Die Industriepolitik, so wie Beitz sie verstehe, schätze er, Schlenz, sehr – »und sie steht auch nicht im Widerspruch zu der Einstellung der Belegschaft und der Arbeitnehmervertreter«. Schlenz, dessen Vorgänger bei Thyssen noch zehn Jahre zuvor »Immer drauf auf die Schweine« skandiert hat, dankt nun dem Hauptanteilseigner Berthold Beitz – »für Ihr Wirken und Handeln, für Ihre schützende Hand über ThyssenKrupp«. Beitz freut sich sehr darüber.
Schlenz hat den Brief nicht bloß geschrieben, um schön Wetter zu machen. Er hat den Wandel des Ruhrgebiets in der eigenen Familie erlebt, oberschlesische Flüchtlinge, die es nach Duisburg verschlug. Der Vater arbeitete in der Stahlindustrie bei Phoenix Rheinrohr, und die Mutter wischte jeden Morgen, wenn sie die Fenster öffnete, Ruß und Staub von der Fensterbank. Der Himmel über der Ruhr ist inzwischen wieder sauber, aber auch die Montanwelt hat sich seitdem sehr gewandelt. Schlenz vermisst gewiss nicht den Dreck der Schlote, aber doch die Sicherheit und das Gefühl das Zugehörigkeit, das die alte Welt der Ruhrindustrie ihren Menschen noch gegeben hat. Und er schätzt Beitz dafür, dass er diese Sicherheit weiterhin vermittelt.
Beitz selbst bleibt im Jahrzehnt nach der Fusion im Konzern so präsent wie früher bei Krupp. Er kommt jeden Tag zur Arbeit in die Stiftung, und er nimmt regelmäßig an Aufsichtsratssitzungen teil, was für einen Ehrenvorsitzenden – und das ist er ja seit seinem Abschied als Leiter des Kontrollgremiums 1989 – eher ungewöhnlich ist. Immer wieder einmal melden sich Wirtschaftsjuristen zu Wort, welche die Paragraphen des Aktienrechts studieren wie die Priester des Orakels von Delphi die Eingeweide der Opferstiere und mit ähnlich sybillinischem Ergebnis. Möglicherweise, heißt es dann, sei die dauerhafte Teilnahme von Personen mit Ehrentiteln am wichtigsten Aufsichtsgremium gar nicht zulässig, oder sie sei doch zulässig, aber nur manchmal. Daher hat Cromme eigens ein Rechtsgutachten des ThyssenKrupp-Beraters Ralph Wollburg in der Hinterhand, das ihm und dem Aufsichtsrat bestätigt, Beitz’ Teilnahme sei »vom Selbstorganisationsrecht des Aufsichtsrats gedeckt« und daher rechtens. Vorstandschef Schulz interpretiert das Interesse des Ehrenvorsitzenden am laufenden Geschäft wohlwollend: »Er ergreift nicht das Wort, er zeigt seine Verbundenheit mit dem Unternehmen, und das halte ich für ganz wichtig.«
Das stimmt und ist doch nur die eine Seite der Medaille. Beitz bleibt auf diese Weise persönlich am wichtigsten Geschehen beteiligt, und er demonstriert die Bedeutung des Eigentümers. So manchem ist schon unbehaglich geworden, wenn der stoische Gast ihn mit einem Ausdruck des Missfallens gemustert hat. Im Übrigen verfügt Beitz über die Mittel, dieses Unbehagen sehr deutlich werden zu lassen. Einmal, im Jahr 2006, es geht um die von ihm missbilligten horrenden Kosten eines neuen Stahlwerks in Brasilien, steht er einfach auf und verlässt den Raum, sichtlich ergrimmt. Da weiß jeder der Aufsichtsräte: Der Patriarch ist nicht amüsiert. Das Vorhaben ist ihm zu riskant, und nur mühsam lässt er sich am Ende doch überzeugen. Die weitere Entwicklung gibt ihm freilich wieder einmal recht; er hat »dieses enorme Bauchgefühl«, wie ThyssenKrupp-Kommunikationschef Jürgen Claassen sagt: Das fragliche Stahlwerk sprengt nämlich alle Kosten.
Die Ereignisse im Jahr 2009 sorgen schließlich dafür, dass Beitz’ Unbehagen größer ist denn je seit der Fusion.
IM HAUSE DES PATRIARCHEN:
DIE »ESSENER ERKLÄRUNG«
Als zum ersten Mal das Wort vom »Herrn Professor aus dem Vorstand« fällt, weiß Ekkehard Schulz: Die heile Welt von ThyssenKrupp ist erheblich ins Wanken geraten. »Ich war ja früher bei meinen Stahlleuten in Duisburg der liebe Ekki – aber jetzt: dieser Herr Professor.« Seine frühere Uni in Clausthal hat ihn 1999 zum Honorarprofessor ernannt, ein Ehrentitel, mehr nicht. Jetzt aber fühlt sich Schulz daran erinnert, wie SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 einen eigentlich aussichtslosen Wahlkampf fast noch zu seinen Gunsten gewendet hätte, indem er sich auf »diesen Professor aus Heidelberg« aus Angela Merkels Schattenkabinett einschoss, den ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof, den er als weltfremden Prediger sozialer Kälte hinstellte. Und der Kälte wird nun auch Schulz bezichtigt, von seinen Arbeitnehmern. Später wird er sagen: »Das ist für mich auch eine persönliche Enttäuschung gewesen.«
Die Enttäuschung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Die Arbeitnehmer sind wütend auf den Vorstand, den Aufsichtsrat, »die da oben«. Die globale Finanzkrise hat auch ThyssenKrupp mit voller Wucht getroffen; im Geschäftsjahr 2008/2009 wird ThyssenKrupp einen Rekordverlust von 2,364 Milliarden Euro vor Steuern schreiben, und die im Frühjahr 2009 eilig entworfene neue, schlankere Konzernstruktur soll Kosten sparen. Der ungeliebte Stahlchef Karl-Ulrich Köhler, der für das von Beitz wenig geschätzte Werk in Brasilien verantwortlich zeichnet und in Duisburg von seinen Arbeitern wütend ausgepfiffen wird, muss den Hut nehmen. An nur einem Tag im April 2009 demonstrieren 15 000 Arbeiter; vor dem Werk in Bochum versammelt sich eine Mahnwache von 3000 Menschen, in Duisburg fährt ein hupender Autokorso durch die Straßen der Stahlstadt und weckt Erinnerungen an konfliktreiche Tage zwei Jahrzehnte zuvor. Und wie damals rufen die Beschäftigten nun: »Wortbruch!«
Auslöser der Proteste ist, dass Vorstandschef Schulz betriebsbedingte Kündigungen nicht mehr ausgeschlossen hat, da die Auftragslage drastisch eingebrochen ist. Niemals, so Schulz nach einer dramatischen Aufsichtsratssitzung am 27. März 2009, sei vereinbart worden, dass Kündigungen grundsätzlich nicht in Frage kämen. Das sehen Männer wie der Betriebsratschef Schlenz völlig anders, aber auch dieser betrachtet die Eskalation mit Sorge: »Wir kamen recht schnell in eine Lage, als ob man mit 150 Sachen in die Garage rast!«
Dabei war nach der Eruption der Massenproteste gegen Crommes Übernahmeversuch von 1997 erst eine fragile, dann aber immer verlässlichere Ruhe im nun vereinigten Konzern eingekehrt. Vorstand und Betriebsrat finden die wärmsten Worte füreinander und sind stolz auf das harmonische Klima, das für einen Großkonzern mit mehr als 200 000 Arbeitsplätzen in der Tat nicht selbstverständlich ist. Im schönsten Neudeutsch bezeichnet der Betriebsrat seine Haltung als »comanagement-orientiert«, man ist stolz auf das Erreichte und die starke Position der Arbeitnehmer. Beitz gilt ihnen dabei als Symbol einer in den Jahren ökonomischer Gier anderswo vergessenen oder belächelten Sozialpartnerschaft. »Er hat Anstand und Moral und behandelt uns auf gleicher Augenhöhe«, sagt Schlenz. »Die Gewerkschaften fühlen sich durch ihn als Gleichwertige behandelt, als Partner, die ja auch nur legitime Interessen vertreten. Das sind Dinge, die in der globalisierten Wirtschaft leider immer mehr verloren gehen.« In der Tat ist es erstaunlich: In dem Konzern, der ja immerhin drei Traditionsunternehmen vereint, beginnt sich eine corporate identity zu entwickeln, die Züge des alten Krupp’schen Wir-Gefühls trägt.
All das aber scheint im April 2009 vorüber zu sein, eine Reminiszenz der fetten Jahre. In dieser Lage klingelt im Betriebsratsbüro das Telefon. Es ist Berthold Beitz: »Herr Schlenz, ich mache mir große Sorgen um die Firma. Lassen Sie uns mal miteinander reden.« Schlenz schildert die verfahrene Lage, es fällt ihm selbst auf, dass er in dieser Zeit erstmals von »Fronten« spricht, ein Wort, das seiner Meinung nach eigentlich nicht in diesen Konzern passt. Beitz beendet das Gespräch in dem kumpelhaften Frotzelton, den er manchmal pflegt, durchaus zur Freude seiner Gesprächspartner: »Schlenz, komm doch hier mal vorbei – und bring den Bertin Eichler mit.«
Schon anderntags fahren Schlenz und Eichler, der Finanzvorstand der IG Metall und ein weiterer Gewerkschafter, dem Beitz vertraut, auf den Hügel. Beitz bietet ihnen an, sich einzumischen – im Interesse aller. Es ist eine freundliche Seelenmassage: »Die Firma besteht ja nicht allein aus den Industrieanlagen, sondern vor allem aus den Menschen, die dort arbeiten. Und Sie sind deren Sprecher.«
Natürlich hat Beitz ebenso mit Schulz und Cromme gesprochen und ihnen seine Moderation angeboten: »Kann ich helfen? Kann ich einen Beitrag leisten?« Schließlich, zwei Wochen später, führt Beitz die beiden Seiten an einen Tisch zusammen. Hinterher wird kolportiert, Beitz habe mit geschlossenen Augen die Forderungen der Arbeitnehmervertreter angehört, dann die Augen wieder geöffnet und Cromme und Schulz mit der Bemerkung verblüfft: »So machen wir das!« Aber gerade solche Erzählungen gehen am wirklichen Geschehen, ja am Wesen dieser ungewöhnlichen Vermittlungsaktion vorbei. Es geht für Beitz nicht um ein Machtwort, sondern um die Macht zur Moderation.
So ist auch die sogenannte Essener Erklärung nicht der Schulterschluss des Patriarchen mit den Werktätigen von der Walzstraße, kein Faustschlag auf den Tisch, keine brüskierende Ermahnung der Unternehmensführung. Sie ist im Grunde so freundlich formuliert, dass jeder ihr zustimmen kann. Sie enthält nicht einmal Zahlen, die sich einfordern ließen. Die Erklärung ist trotzdem ein nachhaltiger Appell an beide Seiten: an die Arbeitnehmer, die Konfrontation nicht eskalieren zu lassen und sich in die neue Konzernstruktur zu fügen, und an die Manager, in der Krise Augenmaß walten zu lassen. Schulz und Cromme sind im Konflikt mit den Belegschaftsvertretern die Stärkeren, insofern ist die Botschaft an sie auch bedeutsamer. Sie lautet, auch wenn die trockenen Formulierungen das anders ausdrücken: Wahrt die Gemeinsamkeit und die Unternehmenskultur. Und sie setzt dem Management, sollte sich die Krise zuspitzen, gewisse Grenzen. Von nun an wäre jede Kahlschlagsanierung, jede neue Entlassungsrunde ein Affront gegen den Hauptaktionär und Patriarchen.
Die Erklärung hat sofort befriedende Wirkung. Am 13. Mai 2009, auf der nächsten Aufsichtsratssitzung, auf der es ohne Beitz’ Vermittlung wohl zum Showdown gekommen wäre, stimmen auch die Arbeitnehmervertreter, beruhigt durch die Essener Erklärung, der neuen Konzernstruktur zu. Die Verschlankung ist immer noch nichts, was ihnen Freude bereiten würde, aber Schlenz instruiert seine Leute vorher: »Kollegen, wir sollten wegen Herrn Beitz und für Herrn Beitz geschlossen für die neue Struktur stimmen.« Und so geschieht es. Die Arbeitnehmer sind klug genug, nicht die Hand zu beißen, die sie füttert.
Berthold Beitz ist darüber sehr erleichtert. Er hat auch das Symbolhafte der Aktion im Auge gehabt: Mitten in der schwersten Krise der Nachkriegszeit beenden die Streitparteien ihren Hader, indem sie sich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. »Deshalb«, sagt er mit Stolz, »ist die Essener Erklärung in der deutschen Wirtschaft zum Begriff geworden. Sie ist vorbildlich für die gute Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Management.« Und er denkt an jene Jahre, in denen er die Grundlage für diesen Erfolg gelegt hat, als er und Otto Brenner ein unschlagbares Team gewesen sind.
Thomas Schlenz jedenfalls hat sich oft gefragt, was wohl ohne Beitz und ohne die Erklärung geschehen wäre. Eine ganze Menge, fürchtet er, aber wenig Gutes: »Ob der Konflikt heilbar gewesen wäre? Ich bezweifle das stark.« Das Miteinander wäre zum Gegeneinander geworden. Schlenz fasst den moralischen Wert der Intervention deshalb prägnant zusammen: »Berthold Beitz’ Einsatz war für uns alle, und im Interesse von uns allen, eine deutliche Mahnung: Kriegt euch nicht mehr so an die Köppe!«
GERHARD CROMME: DER ZWEITE MANN
Männer wie Gerhard Cromme werden gern nach ihrem Verhältnis zur Macht gefragt. In der Bilderwelt der Wirtschaftsjournalisten nennt man seinesgleichen mit Vorliebe »Alphatiere«, gleich den Leitwölfen im Rudel. Dem manager-magazin erscheint der Aufsichtsratschef von ThyssenKrupp sogar als »eiskalter Kontrolleur«, als einer, der »in der Wirtschaft keine Freunde hat«. In jedem Fall ist er einer der erfolgreichsten Manager Deutschlands. Wie also hält einer wie er es aus, vor großen Entscheidungen auf dem Hügel vorzusprechen? Wie erträgt er es, neben und auch über sich einen Übervater zu wissen, der sogar in den Aufsichtsratssitzungen dabeisitzt, die Cromme leitet? Wie kommt er damit zurecht, dass Berthold Beitz ihm gern einmal kleine Vorträge über fehlgeleitete Manager hält, die sich irrtümlich für Eigentümer des Konzerns halten? Oder über die wahren Eigentümer, auf die es wirklich ankomme?
Das alles muss doch kaum erträglich sein für jemanden, dessen Devise auf dem Weg nach oben stets gewesen ist: Es kann nur einen geben – und das ist Gerhard Cromme. Er residierte im Dreischeibenhaus, dem Sitz von ThyssenKrupp. Von der Vorstandsetage aus blickte er weit über die Düsseldorfer Altstadt und den Rhein. Bis 2010 war das so. Seither ist die Konzernzentrale ganz woanders, an der Altendorfer Straße in Essen, ebendort, wo Berthold Beitz einst 1953 ein schmuckloses Büro gegenüber von Alfried Krupp bezogen hat. Krupp, nun ThyssenKrupp, kehrt zurück nach Essen, so wie es Berthold Beitz gewollt hat.
Fragt man also Gerhard Cromme, wie er mit all dem klarkommt, gibt der nüchterne Konzernlenker eine erstaunlich gelassene Antwort. »Das ist die Kunst von Berthold Beitz: Er gibt seinen Gesprächspartnern das Gefühl, auf sie komme es an, sie stünden mitten im Zentrum dieser Entscheidung. In Wirklichkeit entscheidet nur einer, und das ist er. Und wenn ich Glück habe, fragt er mich vorher.«
Das ist, natürlich, ein hübsches Understatement. In Wirklichkeit ist Gerhard Cromme Beitz’ Kronprinz und sein Weggefährte seit fast einem Vierteljahrhundert. Kein anderer ist mehr da, der so lange so eng mit ihm zusammengearbeitet hat, mit ihm die Firma Krupp durch gute und durch schwere Zeiten geführt und ein solches Vertrauensverhältnis entwickelt hat.
Beitz hat es stets vermieden, Cromme ganz offiziell als Nachfolger im Stiftungsvorsitz zu nominieren oder gar schon vom Kuratorium wählen zu lassen. Die Schlagzeilen vom »langsamen Rückzug des Patriarchen«, der nun die Amtsgeschäfte nach und nach in die Hände des Jüngeren lege, um sich dann, auf die hundert zugehend, daheim der Betrachtung der Noldes und Schmidt-Rottluffs zu widmen, gibt es seit Jahren immer wieder. Gestimmt haben sie nie. Beitz hegt auch im Jahr 2010 nicht die Absicht, sich zurückzuziehen. Solange er gesund genug ist – und auch mit 97 Jahren ist er körperlich wie geistig von bemerkenswerter Frische –, wird er bleiben: Ehrenpräsident des Aufsichtsrats, Vorsitzender des Stiftungskuratoriums, der vielfach geehrte starke alte Mann an der Ruhr, »eine der letzten Persönlichkeiten, die das Ruhrgebiet noch prägen«, so Wolfgang Clement. Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen fühlt sich an einen Satz von Willy Brandt erinnert, der einmal zu ihm sagte: »Wenn du einmal gesagt hast, dass du irgendwann zurücktrittst, dann kannst du es auch gleich tun. Du wirst dann nicht mehr ernst genommen.« Clement dürfte wissen, wovon er spricht: Er selbst galt zu seinem Grimm als der ewige Kronprinz an Raus Seite, und der alte Landesvater mochte bei all seiner sprichwörtlichen Güte nie erklären, wann der Thronwechsel denn vollzogen werde. »Ich vermute«, so Clement, »dass Berthold Beitz eines genau weiß: Sobald er sich zurückziehen würde, verlöre er seine Kraft.«
Das ist fein beobachtet. Manchmal fragt sich Berthold Beitz, was wohl geschehen wäre, wenn er »in Hamburg geblieben und mit 65 Jahren in Pension gegangen wäre«. Die Antwort gibt er sich selbst: Er wäre wahrscheinlich nicht mehr da. Die Arbeit für Krupp, »die Firma«, für Alfrieds Erbe, das geistige wie das materielle, und sicher inzwischen auch seine Rolle als moralische Respektsfigur, all das ist eine Art ständiger Jungbrunnen. »Wenige Tage bevor Alfried Krupp starb, hat er zu mir gesagt: Herr Beitz, passen Sie gut auf die Firma auf. Er hat mir diese Vollmacht gegeben, und ich vertrete ihn bis an mein Lebensende.« Ganz offen fügt er deshalb hinzu: »Ohne die Arbeit würde ich nicht mehr leben.«
Darum ist Cromme nur der Kronprinz, wenn das Wort »nur« bei einer so schwindelerregenden Karriere überhaupt angebracht ist. Ekkehard Schulz, der auf Beitz’ Wunsch seinen Vertrag noch über das Rentenalter hinaus verlängert hatte, scheidet 2011 endgültig als Vorstandsvorsitzender aus; Cromme hat, unterstützt von Beitz, die internen Machtkämpfe um die Nachfolge kurzerhand beendet, indem sie einen Mann von außen holen, eine Überraschungslösung: den 49-jährigen Heinrich Hiesinger, der bei Siemens – dessen Aufsichtsrat ebenfalls Cromme vorsitzt – die umsatzstärkste Sparte geleitet hatte. Der Financial Times zeigt dieser Coup, dass Cromme »wie der Sonnenkönig persönlich regiert: Er verschiebt Spitzenpersonal zwischen beiden Dax-Konzernen wie Figuren auf einem Schachbrett.«
Insofern entbehren die endlosen Spekulationen über Beitz, der in der Nachfolgefrage zu teilen und zu herrschen verstehe, jeder Grundlage: all die geraunten Fragen, was es denn zu bedeuten habe, dass er dem Vorstandschef Schulz sein schönes Jagdgewehr geschenkt hat, oder was dahinterstecke, dass Beitz Anfang 2010 den früheren SPD-Finanzminister und Exministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück, in den Aufsichtsrat geholt hat. Der ist freilich kein Unternehmer – und schon allein deswegen kein Nachfolgekandidat –, sondern jemand, der die Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen in- und auswendig kennt und den Beitz noch dazu als Mann mit Rückgrat sehr schätzt. »Im Aufsichtsrat«, so Beitz, »musste einmal aufgeräumt werden. Ich erhoffe mir von Steinbrück sehr viel.«
Cromme ist der Thronprätendent, schon seit langem. Bereits 1997, bei den Verhandlungen über eine feindliche Übernahme von Thyssen, hat Beitz dies, wie geschildert, inoffiziell und im Kreis von Vertrauten, klar ausgesprochen. Und fragt man ihn heute, ob die Nachfolge wirklich schon beschlossene Sache sei, gibt er eine eindeutige Antwort: »Ja. Ich habe ihn damals in den achtziger Jahren geholt, und er ist in der Zeit seither Kruppianer geworden. Er ist der richtige Mann.« Ein ganz anderer Typ, das gewiss, »nicht der Typ Berthold Beitz. Aber er wird dafür sorgen, dass die Firma erhalten bleibt.«
Ohnehin wird die Stiftung nach Beitz eine andere sein. Die Macht über sie, über das Erbe Krupps, ist Beitz von Alfried Krupp faktisch auf Lebenszeit übertragen worden, aber eben nur ihm. Sein Nachfolger wird mit anderen Strukturen leben müssen, er wird sich Wahlen stellen müssen in einer Stiftung, die sein wird wie andere auch und eben kein auf Beitz zugeschnittenes Imperium mehr.
Beitz jedenfalls denkt und handelt gern in Symbolen. Er hat Cromme bereits zu seinem Stellvertreter im Kuratorium der Stiftung ernannt – ein Titel, der praktisch wenig bedeutet, als Zeichen aber sehr viel. Und am 90. wie am 100. Geburtstag Alfried Krupp von Bohlen und Halbachs geht er nicht, wie sonst, allein zum Grab auf dem Bredeneyfriedhof. Gerhard Cromme ist bei ihm, zusammen stehen sie dort. Beitz hat den Jüngeren gefragt, ob er ihn an diesem Tag begleiten wolle. Und natürlich wollte Cromme.
Man könnte sich nun an das Verhältnis von Alfried Krupp zu Berthold Beitz erinnert fühlen, jenes besondere, für Außenstehende nicht zu durchbrechende Verhältnis aus Treue und Vertrauen. Das läge nahe und wäre doch zu kurz gegriffen. Beziehungen dieser Art sind nicht wiederholbar, die Umstände, die Charaktere, die Lebensalter lassen dies nicht zu.
Krupp brauchte einen Mann fürs Unangenehme, für die Führung der Geschäfte, im Grunde jemanden, in dessen Hände er einen Großteil der Dinge legen konnte, die sein Leben schon beschwerten. Er war einsam und verschlossen. Berthold Beitz war und ist dies nicht. Er braucht deshalb keinen Erzkanzler, keinen Mann fürs Praktische. Was er benötigte, waren zuverlässige Leute an den Schlüsselpositionen, ohne die kein Unternehmenslenker klarkommt. Dabei hat er erfahren müssen, dass solche Männer rar sind; teils hat er sich in ihnen getäuscht, teils täuschten sie ihn. Als Cromme damals, 1986, auf dem Besucherstuhl vor Beitz’ Schreibtisch saß und ohne den Versuch ostentativer Bescheidenheit fragte, ob denn der Chefsessel im Krupp-Vorstand noch zu haben sei, da blickte Beitz gerade auf besonders desaströse Personalien zurück. Cromme aber blieb. Die beiden haben inzwischen ein Vierteljahrhundert zueinander gestanden. Beitz hat ihn in der Rheinhausenkrise gehalten, als die halbe Welt von Rhein und Ruhr bei der Stiftung vorsprach und ihm, Beitz, nahelegte, den übereifrigen Newcomer doch bitte baldigst wieder dorthin zu schicken, von wo dieser hergekommen sei. Cromme seinerseits hat Stehvermögen bewiesen und den Konzern saniert, er hat das Vertrauen des Älteren nicht enttäuscht.
Mitunter ist es zwischen den beiden dennoch zu Konflikten gekommen. Der ehrgeizige Cromme ist in diversen anderen Aufsichtsräten vertreten, unter anderem bei Siemens; im Gegenzug holte er 2005 den dortigen Vorstandschef Heinrich von Pierer in den eigenen Aufsichtsrat von ThyssenKrupp. 2007 aber drängt Cromme seinen früheren Weggefährten wieder aus dem Unternehmen Siemens – Pierer gilt als die Zentralfigur der Korruptionsaffäre des Münchner Konzerns. Ein Vorgehen, das gleichermaßen Beifall wie Kritik auslöst. Beitz sieht Crommes anderweitige Verpflichtungen mit gemischten Gefühlen und meint: »Er dreht an vielen Rädern. Ich habe ihm einmal gesagt: Wollen Sie jetzt zu Siemens oder zu Krupp? Konzentrieren Sie sich auf Krupp, das ist besser.«
Einmal hat Berthold Beitz sich richtig geärgert. Auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Debatte über die Gier der Manager gibt es im Frühjahr 2009 im Bundestag Vorstöße, deren Gehälter gesetzlich zu begrenzen. Die Finanzkrise kostet Jobs, und viele Arbeitnehmer fürchten sich vor Hartz IV, während die irrlichternden Vorstände der Banken, nachdem sie die Kontrolle über sich und ihr Geschäft verloren haben, mit Millionenabfindungen neuen Sonnenseiten des Lebens zustreben dürfen. Die Große Koalition beginnt diese Stimmung im Bundestagswahlkampf 2009 aufzugreifen, vor allem die SPD trommelt für »klare Regelungen«, so ihr damaliger Vorsitzender Franz Müntefering. In dieser Lage hält es Cromme für angezeigt, Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit anderen Managern einen Brief zu schreiben. Die Herren von ThyssenKrupp, eon, BMW, BASF, Henkel und anderen Großunternehmen beklagen ein »falsches Bild der wirtschaftlichen Verantwortungsträger« und wenden sich gegen die Koalitionspläne zur Gehälterbegrenzung; solche Eingriffe gingen »weit über eine sinnvolle gesetzliche Rahmengesetzgebung hinaus«.
Der Brief, schnell an die Presse durchgestochen, kommt nicht gut an. Man mag ja in der Tat darüber diskutieren – und ebendas ist Crommes Intention gewesen –, ob und wie intensiv der Staat bis in Vorstandsverträge hineinregieren soll. In der aufgeheizten Debatte vor der Wahl aber ist die Neigung zu wirtschaftsrechtlichen Grundsatzdebatten sehr gering. Das Schreiben gilt vielen stattdessen als weiterer Beleg für die Gier jener Männer, die über das Schicksal von Millionen Arbeitnehmern bestimmen, von deren Lebenswirklichkeit sie aber so entfernt sind, als kämen sie von einer fremden Galaxie. In der Süddeutschen Zeitung kommentiert Alexander Hagelüken: »Der Brandbrief an die Bundeskanzlerin ist von jenem Denken geprägt, das immer mehr Deutsche am Kapitalismus zweifeln lässt. Es wäre schön, wenn sich nun all die Manager zu Wort melden würden, die anders als die Herren Aufseher etwas aus der Krise gelernt haben. Deutschlands Wirtschaftselite ist schlauer, als dieser Brief nahe legt.«
Gar nicht erfreut ist auch der Mentor in Essen. Intern rügt Beitz Cromme, weil er den Brief als unsensibel empfindet, um das Mindeste zu sagen. Beitz wird Cromme nicht öffentlich bloßstellen. Dafür aber attackiert er im vertraulichen Gespräch das deutsche Management an sich: »Ich finde es sozial wie taktisch unerhört dumm, wenn in der Zeitung steht, dass ein Mann wie Ackermann 17 Millionen verdient – und auf der anderen Seite wird entlassen, haben die Leute Angst um ihren Job, um die Zukunft ihrer Familien.«
Vielleicht ist es ein Zeichen für das reife Verhältnis zwischen Beitz und Cromme, dass beide solche gelegentlichen Dissonanzen ertragen. Eine warmherzige, gewinnende Vermittlung seiner Botschaften ist nie Crommes Stärke gewesen, ganz im Gegensatz zu Berthold Beitz. Nicht einmal seine zahlreichen Feinde würden Cromme aber vorwerfen, zu den egozentrischen Showmen des Wirtschaftslebens zu gehören, zu den öffentlichen Provokateuren, den ichverliebten Prahlhälsen, den Selbstdarstellern des Marktes. Er ist ein mächtiger Mann, tritt jenseits des Konzerns aber selten öffentlich in Erscheinung, und in den Klatschspalten wird man nichts über ihn finden – erst recht keine indiskreten Äußerungen über Berthold Beitz. Cromme definiert das Verhältnis so: »Berthold Beitz schätzt starke Leute, er ist wirklich keiner, der nur Schwache um sich herum erträgt. Aber auch die starken Leute müssen persönlich bescheiden sein, sie dürfen nicht überdrehen, nicht auf den Egotrip gehen.« Das ist gut beobachtet. Und bei all dem spielt, wie Cromme meint, »die Krupp’sche Tradition der Bescheidenheit stark mit hinein. Da kam man nicht und klopfte auf den Putz. Wenn das bei Beitz jemand macht, zieht er sich sofort zurück.«
Beitz und Cromme sind sehr zögerlich mit dem Wort Freundschaft, sie nennen es nicht so – so wie Beitz’ auch sein Verhältnis zu Krupp nicht als Freundschaft im herkömmlichen Sinn definiert hat. Besser passt auch hier der Begriff einer, so Cromme, »tiefen Vertrauensbasis, die zwischen uns herrscht«.
Das Misstrauen, das Berthold Beitz seit den Tagen von Boryslaw stets begleitet hat, ist nur schwer und in langen Jahren der Nähe zu durchbrechen. Cromme hat darüber nachgedacht: »Er weiß, wozu die menschliche Seele fähig ist, er hat es gesehen. Deshalb hält er sich in Gedanken immer einen Schritt zurück. Er will nie in eine Situation kommen, in der er nicht mehr selbst bestimmen kann, was geschieht.«
Es scheint, als habe Beitz genug Vertrauen zu dem Mann gefasst, der so anders ist als er selbst. Der Ritterschlag liegt bereits einige Jahre zurück. Es war bei einem Abendessen in der Villa Hügel, 1998, nach der geglückten Einigung mit Thyssen. Beitz hatte die Anteilseigner eingeladen, den Vorstand, den Aufsichtsrat. Sie alle saßen um einen großen Tisch herum. Beitz hielt eine kurze Ansprache, er dankte allen für ihren Einsatz und das Ergebnis. Dann legte er Gerhard Cromme die Hand auf die Schulter und sagte: »Ohne Herrn Cromme gäbe es Krupp nicht mehr!«
DAS VERMÄCHTNIS
Jeden Morgen fährt ein dunkler Mercedes mit dem Kennzeichen E-RZ vor Berthold Beitz’ gut bewachtem Haus in Essen vor. Das Tor öffnet sich, die Limousine gleitet in den Hof. Berthold Beitz tritt aus der Tür, wie immer tadellos gekleidet. Der Fahrer öffnet den Wagenschlag, und dann geht es hinüber zum Hügel, meist plaudernd über dies und das.
Weit ist es ja nicht zum Hügelpark, sie fahren nach einer Weile hinunter Richtung Ruhrtal, vorbei am Baldeneysee bis zur Schranke und dem Pförtnerhäuschen unten am Hügelpark. Steil führt die Straße hoch in die Parklandschaft. Manchmal, am Morgen, stehen Rehe auf den Wiesen. Das Gästehaus liegt in diskretem Abstand zur Villa Hügel, vom Fenster seines Arbeitszimmers schaut Berthold Beitz direkt hinüber auf das gewaltige Haus, das den Namen Krupp wohl noch mehr verkörpert als die berühmten drei Ringe des Firmenlogos.
Indessen ist auch das Gebäude der Stiftung, errichtet ab 1914, ein respektgebietender Ort. Die Wirtschaftswoche bringt das 2009 auf einen sehr schönen Nenner: »Der Hügel in Essen, der Sitz der Stiftung und ihres Chefs Beitz, ist mitsamt seinen schallschluckenden Gobelins eine Tabuzone für lautes Lachen, monologisierende Einzelauftritte und andere Egotrips des Managements.« Man mag das korrigieren, was das laute Lachen betrifft, denn noch mit 97 Jahren ist Beitz ein humorvoller Gesprächspartner. Aber in der Tat atmet dieses Gebäude Geschichte und Würde, ja Autorität. Die schweren Sessel, die Ölgemälde mit Porträts der Familie Krupp, die hohen Bücherwände, die Bronzeplastik Alfrieds gleich vorn in der Halle, neben dem roten Treppenläufer, der hoch in den ersten Stock und zu Beitz’ Zimmer führt.
Dieser ist heute besorgt über den Zustand nicht allein des eigenen Konzerns, zu dem er immer noch »die Firma« sagt, sondern auch über den der gesamten deutschen Wirtschaft. Die Finanzkrise mit all ihren Auswirkungen ist ein bitterer Schlag für ihn und die Stiftung. Eben noch hat er geglaubt, zufrieden auf sein wirtschaftliches Lebenswerk blicken zu können: stolze Bilanzen, ein solide aufgestelltes Unternehmen, eine starke corporate identity. Und nun: Milliardenverluste, ungewisse Aussichten.
Und wie stets ist der alte Herr um starke Meinungen und einprägsame Bilder nicht verlegen. Er zeigt durch das Fenster seines Wohnzimmers hinaus auf den Baldeneysee, über den friedlich ein Ausflugsboot tuckert: »Die Finanzkrise ist wie ein See, dessen Wasserspiegel absinkt. Dann sieht man die Untiefen unter der schönen, glatten Oberfläche.« Die Untiefen des Finanz- und Wirtschaftssystems, der Marktwirtschaft eben.
Es war, vor dem großen Banken-Crash im September 2008, eine Welt, deren Manager versicherten, es sei nur im Interesse aller, wenn sie Arbeitsplätze aus Deutschland in die nördliche Mongolei verlegen. In der deutsche Landesbanken gleich spielwütigen Zockern am Roulettetisch mit Milliarden jonglierten und verloren. In der seelenlose Hedgefonds als Anlage gepriesen wurden und verwirrte Belegschaften gesunder Familienunternehmen erlebten, dass anonyme Finanzinvestoren, ob man sie nun Heuschrecken nennt oder nicht, den Laden kaufen und einfach dichtmachen. In dieser Welt wirkt der Patriarch vom Hügel bereits zu Lebzeiten wie ein Monument der ökonomischen Vernunft. Beitz will nicht die radikale Marktwirtschaft, deren Propheten noch bis in die Anfänge der globalen Krise hinein mit ihren einfachen Botschaften den Ton angaben: Der Markt wird es schon richten, zu viel Sozialstaat schadet nur, die Konsens-Gesellschaft erstickt die ökonomische Freiheit, die Gewerkschaften sind längst zu mächtig und eine Bremse im internationalen Wettbewerb.
Beitz, der Unternehmenslenker, der von den Wirtschaftsliberalen gern abschätzig zitierten »Sozialromantik« gewiss unverdächtig, sieht das anders. Sein Blick hat stets weiter gereicht als bis zum nächsten Pendeln der Börsenkurse. In gewisser Weise dient ihm sein Verhältnis zu Otto Brenner als Vorbild. Beitz hat niemals vergessen, wie Brenner die Macht der Banken offen herausgefordert hat: »Das hat er getan – weil Otto Brenner die Interessen der Firma vertreten hat.« Ein zu verbreiteter Typus des modernen Managers habe ein arrogantes Verhältnis gegenüber der Belegschaft. »Die Arbeitnehmer sind keine Sklaven, und die Firma ist nicht der Pharao, der den Knechten sagt: Jetzt baut ihr gefälligst die Pyramiden auf.«
Aus seiner Sicht sind viele Vorstände schlicht zu abgehoben: »Der Vorstand glaubt ja immer, er sei der Eigentümer der Firma. Aber nein. Er besteht aus sehr hoch bezahlten Angestellten. Sie verwalten Geld, das ihnen andere Leute anvertraut haben.«
Was hält die Gesellschaft noch zusammen? Diese Frage stellen heute, nach dem Ende der Ideologien und in der globalen Krise, nicht mehr nur Soziologen und evangelische Akademieseminare; sie ist zu einer Grundsatzfrage in einer Welt geworden, die sich rasch wandelt, zu rasch für viele. Die Vorzüge dieses Wandels sind unübersehbar: offene Grenzen, gemeinsame supranationale Institutionen, zumindest in Westeuropa der Sturz des Nationalismus in die Belanglosigkeit. Gleichzeitig aber, denkt Beitz, kann es nicht gut gehen, wenn Belegschaften nur noch das Gefühl haben, ersetzbare Nummern und Ziffern in den Kurstabellen zu sein.
Dass im Wirtschaftsleben etwas aus der Bahn geraten ist, der Common Sense verletzt wird, beklagen heute auch Konservative wie Wolfgang Schäuble (CDU), der 2009 – noch als Bundesinnenminister – in einer nachdenklichen Rede sagte: »Am Ende kommt es darauf an, dass wir uns ein Gefühl der Zugehörigkeit bewahren. … Teile der Eliten haben soziale Verantwortung ersetzt durch einen Freiheitsbegriff, der nur noch sie selbst begünstigt. Man kann das auch Maßlosigkeit und Gier nennen. Damit einher geht ein Vertrauensverlust nicht nur in Personen, sondern auch in die Ordnung, die von diesen Teilen der Eliten maßgeblich mitgestaltet wird.«
Auch Beitz hat als Unternehmensführer harte Konflikte geführt, auch gegenüber den Beschäftigten: in der Kohlekrise 1966, bei der Schließung Rheinhausens, beim Kampf um die Besetzung von Spitzenposten. Mit der feindlichen Übernahme von Hoesch haben er und Cromme sogar ein deutsches Grundgefühl, eine behagliche Scheingewissheit, so etwas gäbe es nur drüben in den USA, für immer erschüttert. Aber er hatte an sich den Anspruch, mit offenem Visier zu fechten und im Sinne einer Verantwortlichkeit für das Ganze, und er tat es, wenn er es im Interesse des Ganzen für geboten hielt. Doch er hat nicht vergessen, dass er selbst von sehr weit unten kam. Die Fähigkeit zum Konsens innerhalb des Betriebs ist für ihn kein Ballast aus Adenauer-Zeiten, sondern eine Frage des gesunden Menschenverstands; die Fähigkeit nicht zum Konsens um jeden Preis, sondern zum Versuch, im Guten etwas zu erreichen.
Es gibt einen Ausdruck im Grundgesetz, der die Beitz’sche Philosophie des Wirtschaftens auf den Punkt bringt. »Eigentum verpflichtet«, heißt es in Art. 14, Abs. 2. »Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«
Die Finanzkrise, ausgelöst durch die verantwortungslosen Kreditpraktiken auf dem US-Immobilienmarkt, wurde ursprünglich verursacht durch die Banken und deren Spekulationen. Sie bestätigten alles, was Beitz seit Jahrzehnten über sie gedacht hat: »Sie hatten nur noch das Geld im Sinn, sonst gar nichts mehr – dieses Verhalten ist eine Katastrophe.« Zum System der Boni, der Millionengehälter der Vorstände, der aufgeblähten Abfindungen sagt Beitz: »Ich halte es für sozial und moralisch verwerflich, wenn die Herren an der Spitze groß kassieren. Und bei den einfachen Leuten kommt der Mann nach Hause und sagt: Was soll ich bloß machen? Ich werde arbeitslos. Diese Menschen sind nicht als Barone geboren oder als Fabrikbesitzer.« Das Ergebnis könne nur eine Systemkrise sein: »Dieser Kontrast erzeugt doch automatisch Neid und Missgunst. Die Menschen bekommen sonst das Gefühl: Ich bin bloß zweite Klasse, ich werde von oben herab behandelt, ich kann nicht aufsteigen, auch wenn ich mich noch so bemühe.« Er verkörpert noch, wie früher, »die Firma« – und die Leute mögen das.
Ins späte 20. und ins 21. Jahrhundert hat sich das nur begrenzt übertragen lassen. Ökonomischen Zwängen ist Beitz anders, marktorientierter begegnet, als Alfried Krupp es tat. Dieser hatte sich lange schlicht geweigert, Krupp-Firmen zu schließen, und wenn sie noch so tiefrote Zahlen schrieben. Derlei konnte nur ein Alleininhaber durchsetzen – in einem Unternehmen, das rechenschaftspflichtig ist oder gar Aktionäre zufriedenstellen muss, geht das nicht mehr. Und dennoch, Beitz sieht sich in der Tradition dieses Denkens. Letztendlich, sagt er, »haben die Aktionäre doch dieselben Interessen wie die Arbeiter: dass das Geschäft läuft, dass es Arbeit gibt und Verdienst. Man kann das eine nicht dauerhaft ohne das andere haben.« Altkanzler Helmut Schmidt hat dies in seiner eindrucksvollen Rede zu Berthold Beitz’ 90. Geburtstag so umschrieben: »Natürlich darf man in einer stattlichen Villa wohnen und mit der Germania segeln. Jedoch keineswegs muss man danach streben, der größte global player zu sein … oder wenigstens nebenher sich das größte persönliche Einkommen zu verschaffen!« In Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Ralf Dahrendorf sprach Schmidt von einer Art »moralischen Kapitalismus« – ebendas Gegenteil jener »Vorstände und Aufsichtsräte, die sich ohne große Skrupel auf die Position verständigt haben: Wir erwirtschaften die Rendite. Aber für die Arbeitnehmer, die wir vorzeitig in Rente schicken, hat gefälligst der Staat zu sorgen.«
Manchmal geht Berthold Beitz mit einem seiner Personenschützer spazieren, dann unterhalten sie sich. Der Sohn des Mannes arbeitet gerade an seiner Habilitation, er hat es weit gebracht, er hat die Chancen zupackend genutzt; der Vater ist stolz, und welcher Vater wäre das nicht. »Wenn ich so etwas höre«, sagt Beitz, »dann freut mich das. Es ist wichtig, dass die Menschen ihren Kindern die Möglichkeit bieten können, aufzusteigen und weiter nach oben zu können. Und dazu gehört, dass man sie nicht von oben herab behandelt.« Es ist dies, in sehr persönlichen Worten, eine Art Vermächtnis.