Ein Kampf um Krupp: Die große Krise (1966–1972)
SCHULDEN UND SÜHNE: KONZERN IN NOT (1966/67)
»Gutaussehend, selbstbewußt und rauhbeinig hat Berthold Beitz Feinde gesammelt wie andere Leute Briefmarken«, schreibt der Spiegel 1966. Zu den Ersten, die sich offen gegen Beitz stellen, gehört Johannes Schröder, Veteran aus dem Krupp-Direktorium. Die Abneigung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Beitz hält Schröder für illoyal und selbstherrlich. Karl Wilhelm Graf von Finckenstein, dem Bevollmächtigten des Essener Privatbankhauses Burkhardt & Co., erscheint der Finanzdirektor »schlau und durchsetzungsfähig, machtbewusst und hinterlistig«. Nachdem Schröder sich 1953 vergeblich bemüht hat, seine Finanzautonomie gegen den neuen Mann zu wahren, versucht er es auf anderemWege, wie sich Beitz erinnert. »Schröder hat einmal zu mir gesagt: Herr Beitz, wenn wir beide hier zusammenhalten, dann können wir bei der Firma alles machen. Ich habe natürlich nein gesagt.«
Ein Schreiben, das sich Schröder persönlich vom Konzernherrn ausfertigen lässt, sagt eigentlich alles über das Verhältnis der beiden Männer: »Während meiner Abwesenheit darf Herr Beitz Herrn Schröder nicht entlassen.« 1961 muss Schröder trotzdem gehen. Später ist daraus die von diesem nur zu gern beförderte Legende geworden, Stahl-Hasardeur Beitz habe einen lästigen Mahner abgesägt, weil er die Wahrheit über den Zustand des Konzerns nicht ertragen konnte.
Freilich ist der Grund für die Kündigung 1961 ein gänzlich anderer. Es ist das Jahr der schärfsten politischen Spannungen nach 1945, und nicht wenige Vermögende schaffen größere Werte in die neutrale Schweiz – man weiß ja nie. Eines Tages jedenfalls erhält Beitz einen Anruf von der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich. Am Apparat ist der Chef persönlich, Eberhard Reinhardt, ein alter Bekannter. Beitz hält viel auf ihn und wird ihn später einmal ins Stiftungskuratorium berufen. Jetzt aber ist der Banker irritiert und fragt zögernd: »Herr Beitz, Ihr Finanzchef will hier zehn Millionen Mark auf ein Konto überweisen. Wissen Sie etwas davon?« Nein, Beitz weiß nichts davon. Offenbar hat Schröder ein Sonderkonto einrichten wollen, er selbst besitzt auch die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Beitz zitiert den Finanzdirektor zu sich. Ja, es stimme, muss Schröder zugeben. »Mensch, der Schröder war aber auch dämlich«, sagt Beitz heute. »Er hat wegen des Nummernkontos sogar einen Brief an die Schweizerische Kreditanstalt geschrieben.« Diesen Brief hat Reinhardt für Beitz kopiert, der ihn nun Schröder zeigt: »Warum haben Sie das gemacht?« Nach Beitz’ Erinnerung rechtfertigt sich Schröder damit, er habe das Geld gar nicht überweisen, sondern sich nur einmal über die Möglichkeiten informieren wollen. Beitz feuert ihn auf Alfried Krupps Wunsch, was nach außen hin gnädig als Frühpensionierung getarnt wird. Schröder behauptet später, er habe das Geld gar nicht für sich selbst, sondern für die Firma in Sicherheit bringen wollen.
Der Konzernherr hält den wütenden Beitz zwar davon ab, Schröder vor Gericht zu bringen. Aber auch Alfried Krupp verzeiht Illoyalität nicht. Wenige Jahre später treffen er und Beitz den Geschassten zufällig auf der Hannover-Messe. Auf dem Gang zieht Schröder den Hut: »Guten Tag, Herr von Bohlen.« Beitz: »Alfried hat ihn gar nicht gesehen. Er ging einfach an ihm vorbei und sah geradeaus.« Johannes Schröder ist für die Firma Krupp zur Unperson geworden.
Freilich verfügt Johannes Schröder, wie der Konzernherr bald schmerzlich feststellen muss, über wirksame Mittel und Wege, sich in Erinnerung zu bringen. Im Juli 1962 rechnet er im Handelsblatt mit der Unternehmensführung ab. Und obwohl er weder Firma noch Leitung namentlich nennt, kann es keinen Zweifel darüber geben, wer mit dem Beitrag »Der finanzielle Herzinfarkt« gemeint ist: die Firma Krupp, die Person Krupp und deren Generalbevollmächtigter. Scharf kritisiert Schröder den altmodischen Typus der Personengesellschaft – wie Krupp – und solche Firmen, über die nur ein einzelner Kopf herrsche – wie Krupp. »Er duldet niemand neben sich und betrachtet die finanzielle Seite als notwendiges Übel, das ihn aber in Anbetracht seiner bemerkenswerten Erfolge nichts angeht, selbst wenn das Geld aus allen Ecken zusammengekratzt werden muß. Er verwechselt Geld mit Kapital und ist starr vor Staunen, wenn er eines Tages trotz all seiner blendenden Erfolge feststellen muß, daß er am Rande des Ruins steht.«
Das ist boshaft, aber dennoch: Der Schuss ist gut gezielt. Krupp steht nach außen hin glänzend da, ein Phoenix aus Stahl, wiederauferstanden aus den Trümmern. Das Problem ist nur: Es fehlt an Eigenkapital, sprich an Liquidität. Das strikte Festhalten an der Kohle- und Stahlbasis kostete viel Geld.
Wie konnte es so weit kommen? Und was sagt die jäh einsetzende, hartnäckige Krise der sechziger Jahre über den Unternehmer Berthold Beitz aus? Das Bild ist hier nicht eindeutig, aber gewiss trifft nicht zu, was die Banken schließlich 1967 in der Kreditkrise als Devise ausgeben: Beitz sei der Hauptschuldige! Wohl hat auch er den Konzern wegen dessen ständig wachsender Exporte als zahlungsfähiger angesehen, als dieser es in Wirklichkeit war. Aber er hat die Gefahren früher erkannt als Alfried Krupp. Nur dringt er mit seinen Ideen nicht durch, zu fern liegen sie der Unternehmensphilosophie Alfried Krupps. Da sind etwa die Krupp’schen Maschinenfabriken und der Lokomotivbau – sie schreiben rote Zahlen ohne realistische Aussicht auf Besserung; man müsste sie schließen. Als Berthold Beitz seinem Chef diesen Vorschlag macht, lehnt der Firmeninhaber ab. »Da hat er gesagt: Herr Beitz, da arbeiten Leute, die früher in anderen Werkstätten beschäftigt waren. Jetzt sind sie durch Zufall in Betriebe gekommen, die gerade nicht Geld verdienen. Die kann man nicht auf die Straße setzen. Dann müssen die anderen Betriebe eben mehr verdienen.«
Schon in den fünfziger Jahren, als die alliierten Auflagen ohnehin den Verkauf der Stahl- und Kohleproduktion von Krupp forderten, hatte Beitz Krupp einen anderen Vorschlag gemacht. »Bundeskanzler Adenauer hatte 1955 mit den Pariser Verträgen die Verpflichtung übernommen, die Verkaufsauflage mit durchzuführen. Deshalb habe ich Alfried vorgeschlagen: ›Ich fahre nach Bonn und schlage der Regierung einen Tausch vor. Wir geben Stahl an die Regierung und übernehmen dafür Aktien des Volkswagenwerks.‹ Da hat er mich angeguckt und gesagt: ›Herr Beitz, Sie sind noch nicht lange genug bei Krupp. Ich bin durch die Firmentradition dem Stahl verpflichtet.‹ Das war seine Einstellung. Das Profitdenken empfand er teilweise sogar als unsozial.«
So betrachtet, ereilt Berthold Beitz 1966 der Fluch der guten Tat, einer doppelten guten Tat sogar. Er hat zum einen den Konzern erfolgreich vor den Zerschlagungs- und Teilungswünschen der Alliierten bewahrt. Und er hat zum anderen loyal zu Alfried Krupp gestanden und dessen Linie klaglos akzeptiert. Der Spiegel beschreibt dann 1967 kritisch die Folgen: »Krupps Hausmeier brachte dem alten Managertraum der Ruhr, Deutschlands stählernes Herz zwischen Hamm und Duisburg müsse immer stärker schlagen, kostspielige Opfer.« Die Zechen und Hüttenwerke schreiben Mitte der sechziger Jahre rote Zahlen. Die Kohlekrise beginnt schon 1958, die Stahlkrise folgt – nach einigen Schwankungen wie dem guten Jahr 1964 – ab 1965 mit voller Wucht. In der deutschen Metall- und Stahlindustrie gehen 1966 fast eine Viertelmillion Arbeitsplätze verloren. Der enorme Ausbau beider Industrien gleich nach dem Krieg führt nun weltweit zu Überkapazitäten: zu viel Kohle und Stahl, zu wenige Käufer, zu viele Arbeiter, zu hohe Kosten. Manche Konkurrenz im Ausland profitiert dabei von geringeren Lohn- und Arbeitskosten und noch mehr von gigantischen Subventionen der öffentlichen Hand.
Beitz und Alfried Krupp werden nun paradoxerweise zum Opfer der eigenen Erfolge. Sie haben ein Imperium aus Kohle und Stahl bewahrt, wiedervereint und ausgebaut, wie es jahrzehntelang und noch in den fünfziger Jahren ganz selbstverständlich als Basis gewaltiger industrieller Macht gegolten hatte. Aber jetzt sind dieser Stahl und diese Kohle das Problem, und zwar eines, das bleiben wird, anders als Alfried Krupp denkt: Er glaubt, bei der Krise handele es sich bloß um eine der konjunkturüblichen Schwankungen. Dass sich dahinter ein gewaltiger Strukturwandel abzeichnet, sieht er nicht.
Freilich kann sich auch die Habenseite sehen lassen. Unter Beitz’ Regie ist der Konzern aufgeblüht, er hat ein neues, ziviles Gesicht bekommen, beschäftigt über 100 000 Mitarbeiter, und das ohne die traditionelle Waffenproduktion. Er stellt nun eine Vielfalt von Produkten her und profitiert stark von dem Ostgeschäft und dem Handel mit den neuen Staaten rund um die Welt. Schaufenster dieser Krupp’schen Welt ist die jährliche Hannover-Messe, wo der Pavillon des Unternehmens die Erfolgsgeschichte des aus Ruinen neu geformten Konzerns in Szene setzt. Zeremonienmeister ist stets dessen Protokollchef Kurt Schoop. Beitz, so erinnert sich Schoop, kann dabei »sehr durchgreifend und fordernd sein. Er hat jeden Stand einzeln abgenommen. Da bangte jeder, vom Architekten über mich bis zu unserem Küchenchef Leo Imhoff.« Beitz persönlich schmeckt die Erbsensuppe mit Rebhuhn ab, er kümmert sich um jedes Detail. Ist ihm die Einrichtung zu kühl, verlangt er sofort den Umbau der Halle: »Ihr seid doch nicht ganz dicht – hier fehlt die Wärme, die Leute müssen sich hier wohlfühlen!«
Schoop beschreibt das Prinzip des Chefs so: »Für Berthold Beitz mussten wir jedes Jahr etwas Besonderes bieten, der Konkurrenz immer einen Schritt voraus sein.« Deshalb winkt einmal Box-Idol Max Schmeling von einem Krupp’schen Hochkran, unten ehrfürchtig bestaunt von der Menge. Ein andermal steht ein Flugzeug der Flugtechnischen Werke in der Halle, aufs Erfreulichste umrankt von schönen Hostessen. Als einmal Ludwig Erhard, noch als Bundeswirtschaftsminister, die Messe besucht, sieht man ihn auf den meisten Zeitungsfotos mit der Hochglanzbroschüre Krupp heute in der Hand, selbst da, wo er den Konkurrenten Hoesch und Thyssen seine Aufwartung macht. Beitz hat das selbst bei Schoop angeordnet: »Sorgt dafür, dass er Krupp heute dabeihat – dann trägt er es den ganzen Tag umher.«
Schoop lässt seinen jungenhaften Charme bei den Sekretärinnen der Messe spielen, bis er weit vor der Konkurrenz weiß, welcher Gast wann dort auftauchen wird. Denn wie hat ihm sein Chef gepredigt? »Die wichtigen Delegationen müssen alle zu uns in den Pavillon.«
Einmal holt Schoop Ruhrbischof Franz Hengsbach dorthin, begleitet von Firmeninhaber Alfried Krupp und einem größeren Pressetross. Leider lässt sich der Techniker, der Hochwürden durch die Halle führt, fortreißen von der Begeisterung am eigenen Werk, er erläutert jedes Kabel und jede Schraube und ist zur Gänze unzugänglich für die diskreten Zeichen und Fratzen, mit denen ihn Schoop bewegen will, doch bitte zum Schluss zu kommen. Strafend blickt Beitz auf seinen Protokollchef. Der Tross soll weiter, es gibt noch viel zu tun, die Presse, der Rundgang, das Essen. Zum Glück löst Hengsbach die Situation. Der Techniker ist gerade bei der Schilderung einer »Seele«, des Leiterbündels innerhalb eines Kabels, angelangt. Da dreht sich Hengsbach zu seinem Weihbischof um und fragt: »Herr Kollege, haben Sie jemals eine so reine Seele gesehen?« Gelächter, und geschwind lotst Beitz die Gruppe weiter.
Vom Wiederaufstieg, vom neuen, modernen Unternehmen Krupp soll auch ein anderes Projekt künden, das Beitz plant: der neue Unternehmenssitz, entworfen von dem Architekten Ludwig Mies van der Rohe, dem Pionier des Neuen Bauens. Beitz hat von jeher das Weite, Lichte, Großzügige geliebt, beim Bauen wie in der Kunst. Mies van der Rohe war Chef des Bauhauses und hat die Weißenhofsiedlung in Stuttgart entworfen; 1937 ist der Architekt vor dem NS-Regime nach Chicago geflüchtet. Architektur, lehrt er dort seine Studenten, sei eine Sprache mit der Disziplin einer Grammatik: »Man kann sie im Alltag als Prosa benutzen – und wenn man sehr gut ist, kann man ein Dichter sein.«
In Amerika wird Mies van der Rohe auch zum Doyen des Hochhausbaus – er errichtet die Seaside Apartments in Chicago und 1958 das Seagram Building an der Park Avenue in Manhattan, ein Kunstwerk aus Licht, Glas und Stahl, die Formensprache einer neuen Zeit. So etwas gefällt Berthold Beitz, und eben im Seagram Building lernt er den schon betagten Architekten 1959 bei einem Besuch in New York kennen, denn im 36. Stock residiert, mit weitem Blick über die Straßenschluchten, die US-Niederlassung von Krupp. Bei ihrer nächsten Begegnung, 1960 in Detroit, lädt Beitz Mies van der Rohe ein, nach Essen zu kommen: Krupp plant ein Verwaltungsgebäude für die Konzernleitung, und Mies van der Rohe scheint ihm der richtige Architekt zu sein, den Sitz eines Stahlunternehmens zu gestalten. Immerhin hat er den Einsatz von Stahl im Bauwesen revolutioniert.
Was Mies van der Rohe 1961 in Essen als Entwurf vorstellt, ist die Verkörperung des neuen Konzerns, den Beitz und Alfried Krupp geschaffen haben: ein flaches, dreistöckiges Gebäude mit zwei Höfen und offenem Erdgeschoss, Glas dominiert die Fassade. Es soll am oberen Eingang des Hügelparks stehen, von dort aus führt der Weg hinunter zur Villa; ein kurzer Weg entlang alter Buchen und schöner Wiesen, von der Gegenwart zur Vergangenheit. Beitz liebt solche Entwürfe, die den Ort gleichzeitig zum Symbol machen. Es ist ein Plan von schlichter und hoher Eleganz, ganz nach dem Motto Mies van der Rohes: »Weniger ist mehr.« Verglichen mit dem lichten Haus, mutet der alte Konzernsitz im und am Turmhaus an wie eine Geisterburg.
Mies van der Rohe baut dann doch nicht in Essen. Bei Krupp ist der Widerstand enorm, denn, so Beitz im Rückblick, an den Hügel-Park ziehen sollte allein die Konzernleitung, nicht etwa die allgemeine Verwaltung mit ihren etwa 1800 Angestellten. »200 Personen genügen, größer wollen wir das Haus nicht haben, die anderen haben ihre Büros woanders.« So gering die Begeisterung jener ist, die zurückbleiben sollen, so groß ist die Zahl der Bedenkenträger, die nun in Jahren, in denen bis dahin so unbekannte Begriffe wie »Sparmaßnahmen« und »Personalreduzierung« durch die Sitzungen des Direktoriums geistern, ein Argument auf ihrer Seite haben: die Kosten. Und gerade 1966, als Beitz mit einem Kraftakt das Projekt noch einmal angehen will, sind Kosten plötzlich seine Hauptsorge. »Es war wirklich schade. Da habe ich nicht genug aufgepasst.« Es reut Berthold Beitz noch heute, dass er sich damals nicht durchgesetzt hat.
Das Scheitern des Vorhabens ist ein unheilvolles Zeichen. 1966 steht ein Minus von 43 Millionen in der Bilanz, im Jubeljahr 1961 sind es noch über 115 Millionen Überschuss gewesen. 1966 beklagt Alfried Krupp auf der jährlichen Feier der Krupp’schen Firmenjubilare, dass »die starke Aufwärtsentwicklung des Umsatzes … deutlich nachgelassen hat«, nun seien »Strukturverschiebungen nicht zu vermeiden«. Ein Halbsatz, der ihn Herzblut kostet. Das stolze Schloss, das Alfried Krupp errichtet hat, beginnt zu bröckeln, die Hochburg der Montanindustrie wankt. Beitz hat endlich begonnen, die Notbremse zu ziehen, wie er 1966 in seiner Rede auf der Hauptversammlung der Krupp Hüttenwerke andeutet: »Ich halte eine drastische Verringerung der Förderquote des deutschen Steinkohlebergbaus für erforderlich.«
Neu ist freilich auch ein Umstand, welcher der deutschen Stahlindustrie ab den sechziger Jahren zu schaffen macht, der in Deutschland aber von Gegnern der staatlichen Subventionspolitik gern kleingeredet wird, 1966 ebenso wie vier Jahrzehnte später: Auf dem internationalen Markt gibt es keinen fairen Wettbewerb. Viele Staaten, etwa Frankreich und Italien, stützen ihre Stahlerzeuger mit schwindelerregenden Milliardensummen, überwiegend aus innenpolitisch motivierten Sorgen vor sozialen Unruhen. Bei der Kohle gilt Vergleichbares. Gleichzeitig drängen Konkurrenten aus den Entwicklungsländern auf die Märkte, deren Werke billig produzieren, weil die Unternehmen, anders als in Deutschland, kaum Geld in Umweltschutz, Arbeitssicherheit und soziale Absicherung der Beschäftigten stecken müssen. Es ist ein ungleicher Kampf. Auf der erwähnten Hauptversammlung sagt Beitz: »Die deutsche Stahlindustrie bekennt sich zwar zu einem fairen und offenen Wettbewerb, sie kann indessen nicht in Konkurrenz mit Industrien anderer Länder bestehen, die auf vielfältige Weise staatlich gefördert werden.«
Dem Stahl geht es dabei noch besser als der Kohle. Im Kern ist Krupp ein Stahlunternehmen, und zumindest hochwertiger Stahl hat Zukunft. Zu Golo Mann sagt Beitz: »Alfried Krupp hat klipp und klar entschieden, wir verkaufen die Kohle, aber beim Stahl bleiben wir.« 1965/66 schließt Krupp deshalb vier Kohlezechen, darunter die große Zeche Helene mitten in Essen. 10 000 Kumpel müssen gehen. Auch wenn der Konzern den meisten Betroffenen Ausgleichsstellen anbietet, bedeutet das Ganze für die traditionsbewussten Kruppianer einen Kulturbruch. Es kommt zu Demonstrationen in grauen Ruhrstädten, wilden Streiks, verzweifelten Protesten – Szenen, wie sie das Ruhrgebiet sehr lange nicht mehr gesehen hat, aber noch sehr oft sehen wird. Ab April 1967 müssen die Beschäftigten fünf Prozent Lohnkürzung hinnehmen. Alfried Krupp, der krank ist und sich mehr und mehr zurückzieht, leidet still. Seine Beschäftigten mögen aufbegehren, es nutzt nichts. Und es ist noch nicht genug – vor allem aber ist es zu spät, um die große Finanzkrise abzuwenden.
»WIR SIND BESCHEIDEN«:
DIE KRUPP-KRISE 1967
Auf den Bundespressebällen in der Bonner Beethovenhalle ist Berthold Beitz in den sechziger Jahren ein gern gesehener Gast. Zwar ist dies die Generation, für die Tanzstunden noch wie selbstverständlich zur Erziehung gehörten und der das Herumhüpfen zu schweren Bässen als neue Unsitte einer fehlgeleiteten Jugend gilt. Dennoch ist das Bonner Establishment nicht gerade mit feurigen Tänzern gesegnet. Noch im Rückblick amüsiert sich die Schauspielerin Rena Liebenow, die gut mit dem Ehepaar Beitz befreundet ist: »Berthold hat es verstanden, mit den Damen über die Tanzfläche zu schweben und sie dabei noch gut aussehen zu lassen. Und die Frauen liebten das – es war ja selten genug.« Die Klatschreporter sehen das Wirken des Generalbevollmächtigten auf dem Parkett ebenso: »Unbestrittener Star unter den Tänzern war Berthold Beitz. Nur mit Mühe vermochten Vizekanzler Mende und Bundesaußenminister Dr. Schröder seinem Beispiel zu folgen, von den ›gewichtigeren‹ Kabinettsmitgliedern ganz zu schweigen.« So schwärmt selbst die siebzigjährige Wilhelmine Lübke über den Mann, den die Boulevardzeitungen als »Deutschlands attraktivsten Manager« rühmen und den der sowjetische Dichter Jewgeni Jewtuschenko gar »den schönsten Kapitalisten, den ich je sah« nennt. Nachdem Beitz die Gattin des Bundespräsidenten zum Klang von »Eine Nacht voller Seligkeit« auf die Tanzfläche bat, gesteht sie den Klatschreportern: »Ach, von ihm lasse ich mich gern führen.« Und augenzwinkernd fügt die füllige Matrone hinzu »… oder auch verführen.«
Nach dem Presseball im November 1965 ist Berthold Beitz, untadelig gekleidet wie stets, wieder in allen Zeitungen zu sehen. Diesmal allerdings weniger in seiner Rolle als Beau aus dem Reich der Kohle und des Stahls. Beitz braucht eine Münze für die Tombola, und er leiht sich zur Freude der Fotografen ein 50-Pfennig-Stück bei Finanzminister Rolf Dahlgrün: »Männer, die ständig mit Milliardenwerten umgehen, können bei Kleingeld manchmal in Verlegenheit kommen«, witzelt die Stuttgarter Zeitung.
Eine Szene voll unfreiwilliger Symbolik. Beitz’ Verführungskünste auf dem Bonner Parkett verlieren rasch ihren Zauber. Denn schon bald steht Ungemach ins Haus, bei dem es um viel mehr als um Kleingeld geht, nämlich um die schiere Existenz von Krupp. 1966 ereilt die Krise das Unternehmen, schneller und härter, als es Beitz je für möglich gehalten hätte. Obendrein besitzt die Firma, immer noch ausschließlich in der Hand Alfried Krupps, »die Rechtsform eines Tante-Emma-Ladens« (so der Historiker Werner Abelshauser). Schon deshalb bietet sich Krupp als ideales Ziel für Wirtschaftsminister Karl Schiller an – als Sozialdemokrat kann er es den Kapitalisten am Exempel von Deutschlands größtem Privatunternehmen einmal zeigen, zumal es günstigerweise keinen Aufsichtsrat gibt, in dem verdiente Genossen sitzen würden. Und schließlich gereicht es Krupp zum Nachteil, dass die Firma, anders als ein Aktienunternehmen, ihre Bilanzen nicht offenlegen muss: Was im Konzern vorgeht, erscheint von außen betrachtet nebulös. Das erklärt zumindest teilweise das spätere Verhalten der Banken.
Auch Beitz selbst bekommt den Sturmwind zu spüren. Der Spiegel schreibt: »Wie Ratten aus den Löchern krochen nun die Neider aus der Deckung und fielen über Krupps Hausmeier her. Denn so inbrünstig wie niemand sonst sind die Deutschen fähig zur Schadenfreude.« Diese Rolle ist neu für Beitz, den Sieggewohnten. »Das war ein Intrigenspiel«, klagt er bis heute, »und ich war doch sehr down darüber, wie sie uns behandelt haben.« Und »sie« – das sind die Banken.
Das Beitz’sche Schreckensjahr 1967 beginnt im Januar mit einem Empfang an der Düsseldorfer Börse. Bei dieser Gelegenheit bittet der Aufsichtsratsvorsitzende der Dresdner Bank, Hans Rinn, den Bundeswirtschaftsminister um ein vertrauliches Gespräch. Während ein paar Meter weiter die Champagnergläser klirren, erfährt Sozialdemokrat Schiller Erschreckendes: Krupp kann nicht mehr zahlen. Die Dresdner Bank ist mit 53 anderen Banken an der AKA beteiligt, der deutschen Ausfuhr-Kreditgesellschaft, die üblicherweise Firmen Geld für die Finanzierung von Exporten bereitstellt. Das heißt, sie soll das auch in diesem Fall tun, doch jetzt lehnt sie ohne jede Vorwarnung ab. 1966 hat Krupp den Auftrag von der polnischen Regierung erhalten, dort eine chemische Fabrik für 300 Millionen Mark zu errichten – an sich eine prächtige Frucht des Osthandels. Krupp will das Ganze über einen Exportkredit der AKA – insgesamt 360 Millionen Mark – finanzieren. Von jeher ist es ein Problem des Ostgeschäfts, dass die kapitalschwachen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang zwar zuverlässig, aber mit großer Zeitverzögerung zahlen. Nur haben die Banken jetzt Verdacht geschöpft, Krupp könne am Ende seiner Liquidität sein, und drehen deshalb den Geldhahn zu. Immerhin würde Krupp mit einem so großen Kredit allein ein Fünftel ihres gesamten Kreditvolumens verschlingen. Das größte deutsche Privatunternehmen kann das Geld selbst nicht mehr vorstrecken. »Wir waren bis an die Grenze der Liquidität gegangen«, erklärt Beitz viel später in einem Spiegel-Interview. »Wir hatten ja kein Kapital von draußen, so wie die anderen Firmen alle, die an der Börse vertreten waren.«
Das Geld fehlt also, wie Beitz keine Woche nach dem erwähnten Börsenempfang Karl Schiller in Bonn gestehen muss. Es dürfte eines der unerfreulichsten Gespräche seiner Industriellenkarriere gewesen sein, im Rittersaal der Godesberger Burg, Teil eines avantgardistischen Betonensembles, vom Stararchitekten Gottfried Böhm in die alte Festung der rheinischen Kurfürsten hineingebaut. Weit reicht der Blick über den Rhein, das Siebengebirge und auf das Regierungsviertel, das Zentrum der Macht, wo nun sehr bald über Krupps weiteres Geschick bestimmt werden wird. Während die Gäste bei dem Empfang für den rumänischen Außenminister auf der Godesberger Burg die Aussicht bewundern, muss Beitz Farbe bekennen: Die AKA weigert sich zu zahlen, und insgesamt hat Krupp Verbindlichkeiten von über drei Milliarden Mark, mehr als die Hälfte der Bilanzsumme von 5,3 Milliarden. 1966 hat der Konzern 43 Millionen Verlust gemacht. Ohne weiteren Kredit sind die Rückzahlungen gefährdet. Die Firma ist, so viel ist klar, nach Jahren des eindrucksvollen Aufschwungs verschuldet.
Die Politik wird Krupp, dieses Symbol deutscher Industrie, nicht fallenlassen. Immerhin stehen 100 000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Organisiert wird die Hilfe von Schiller und Hermann Josef Abs, dem überaus mächtigen Vorstandschef der Deutschen Bank. Wie später auch Beitz gilt der Banker, der, persönlich nicht uneitel, gerne Spitznamen wie »König von Deutschland« über sich hört, bereits als Ikone des Wiederaufstiegs der Bundesrepublik. Er war enger Vertrauter und Berater von Adenauer; auf Erhard hingegen, den intellektuellen Ökonomen, sah er eher herab. Er ist auf deutscher Seite Architekt des Londoner Schuldenabkommens von 1952 gewesen, mit dem die junge Bundesrepublik aus dem Schatten des Dritten Reiches herauszutreten begann. Seine eigene Rolle als Vorstand der Deutschen Bank in der Nazizeit wird stets umstritten bleiben: Abs, ein gläubiger Katholik, war damals zwar nicht Mitglied der Partei, wohl aber als Banker an der Ausbeutung der besetzten Länder beteiligt. Außerdem gehörte er zum Aufsichtsrat der IG Farben. Was er dort über den Holocaust erfahren hat, ist bis heute unklar, ebenso wie »die Frage, wie weit sich Abs tatsächlich und faktisch mit dem NS-Regime eingelassen hat«, wie sein Biograph Lothar Gall 2004 schreibt. Ein Vierteljahrhundert später jedenfalls sitzt er in zahlreichen Aufsichtsräten, ist in Politik und Wirtschaft intensiv vernetzt, und allein sein Name bürgt dafür, dass Krupp noch nicht verloren ist. Der Preis aber, den er, die Banken und die Bundesregierung für ihre Hilfe verlangen, ist hoch, enorm hoch für Beitz und Alfried Krupp.
Am 21. Februar 1967 kommt Schiller in Alfried Krupps Privathaus und erläutert dem Konzernherrn und Beitz bis nachts um halb eins die Kapitulationsbedingungen. Noch zehn Jahre später wird Beitz zornig sagen: »Der Schiller hat sich gegenüber Herrn von Bohlen ganz übel benommen … wie ein übler Prolet. Schiller hat gesagt: Wenn Sie das nicht machen, geht es mit Ihnen den Bach runter.« Schiller sei erregt gewesen, zornig und bedrängend, Alfried Krupp provozierend kühl: »Wir haben schon schlimmere Zeiten erlebt, wir werden auch das überstehen.«
Aber Niederlage bleibt Niederlage. Der Bund gewährt im Zusammenspiel von nicht weniger als 28 Banken dem Essener Großkonzern eine Bürgschaft von 300 Millionen Mark, das Land Nordrhein-Westfalen noch einmal 150 Millionen. Die Banken geben außerdem einen Exportkredit über 100 Millionen Mark und bekräftigen bestehende Kreditlinien. Mit diesem gewaltigen Paket sind die Finanzierung von Exportaufträgen und eine Umwandlung gefährlich kurzfristiger Verbindlichkeiten in mittelfristige sichergestellt. Das alles ist für diese Zeit sehr viel Geld – aber am Ende wird Krupp die Bürgschaft gar nicht in Anspruch nehmen.
Das Ganze ist eine bittere Stunde für Beitz, der all die Details mitverhandelt hat. Und er muss Schiller ertragen, dem die Kunst der Selbstdarstellung im Übermaß gegeben ist, wie sich Helmut Schmidt erinnert: »Schiller war ein hochintelligenter, sehr tüchtiger Mann – aber so etwas von arrogant! Und noch empfindlich dazu. Er hat es verstanden, wirklich jeden gegen sich aufzubringen. Schiller war ein schwieriger Verhandlungspartner – aber das war Beitz wahrscheinlich auch.« Wenig erstaunlich, dass der Minister Gefallen daran findet, den Krupp-General den Kelch der Niederlage bis zur Neige austrinken zu lassen. Beitz soll nach dem Willen des Ministers verlieren, was er doch am meisten liebt: die Freiheit des Handelns. Alfried Krupp weilt fern auf einer Afrikareise, als sein Generalbevollmächtigter am 7. März 1967 zur Präsentation des Krupp-Rettungsplanes im Bonner Bundeswirtschaftsministerium zu erscheinen hat.
Schiller demonstriert dort, wer Herr im Haus ist. Der Minister sitzt mit Finanzminister Franz Josef Strauß am Tisch, daneben die Banker Hermann Josef Abs und Werner Krüger von der Dresdner Bank. Für manchen Beamten sind Plätze reserviert, für Beitz nicht. Der soll sich das Spektakel von der Seite ansehen müssen, bei den Zuschauern, umlagert von Journalisten. Auf Beitz’ Meinung, das will Schiller vorführen, kommt es in diesem Haus nicht mehr an. Aber es braucht mehr als solche Spielchen, um Beitz aus der Fassung zu bringen. Der drängt sich mit einem Stuhl bis zum Tisch durch, hockt sich an einer Ecke an der Stirnseite einfach neben die Banker und sagt sarkastisch: »Wir sind bescheiden.« Die Herren Abs und Krüger schauen an ihm vorbei.
Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben als Bescheidenheit. Karl Schiller erhebt sich mit einem Manuskript in der Hand, und was er nun vorliest, bedeutet nicht weniger als das Ende des alten Hauses Krupp. Nein, die Firma wird nicht untergehen, aber sie wird sein müssen wie alle anderen. Sie wird einen Vorstand haben und einen Aufsichtsrat, sie muss rationalisieren und ihre Bilanzen offenlegen. Der Spiegel schreibt: »Im schneidigen Stil eines selbstgefälligen Staatsanwaltes verkündete SPD-Wirtschaftsminister Schiller vor den Fernsehkameras seine Bedingungen.«
Krupp erhält also einen Aufsichtsrat; die Firma benötigt nun auch einen Vorstand für das operative Geschäft und darum eine neue Galionsfigur als dessen Vorsitzenden. Beitz schlägt Alfried Krupp einen Mann vor, der einst zu seinen getreuen jungen Leuten an der Altendorfer Straße gehörte, inzwischen aber auf eine eigene, eindrucksvolle Karriere bei Mannesmann zurückblickt: Günter Vogelsang, dessen »fachliche Qualifikation« er »von seiner früheren Tätigkeit im Hause Krupp her kannte« und den er »daher für den richtigen Mann hielt«, mitsamt der nötigen Härte und Durchsetzungsfähigkeit. Ein früheres Angebot von Alfried Krupp, Vorsitzender des Krupp-Direktoriums zu werden, hatte Vogelsang abgelehnt. »Der Geist des Hauses Krupp war: Der Inhaber hat das Sagen«, erinnert er sich. »Wer aber in der Verantwortung für das laufende Geschäft steht, muss die Impulse geben können.« Er wird noch daran denken. Im Juli 1967 wird Vogelsang nominiert, und bald darauf tritt er sein neues Amt an.
Beitz seinerseits hat in diesem ersten Halbjahr 1967 schwer zu kämpfen, kann er der Macht der Banken doch kaum etwas entgegensetzen: »Die wären mit mir Schlitten gefahren, wenn Herr von Bohlen nicht dagewesen wäre. Drei Monate hätten sie mir vielleicht gegeben.«
Der Firmeninhaber verzichtet auf jede Form der Schuldzuweisung, des Blame Game, das in solchen Lagen sonst mit der Wucht eines Naturgesetzes einsetzt, bei dem die faktische Schuld wenig zählt und ihre erfolgreiche Zuweisung umso mehr. Derlei ist unter Alfried Krupps Würde. Er hat die alten Industrien bewahren wollen, und er wird jetzt nicht ausgerechnet den Mann bezichtigen oder als Sündenbock opfern, der an diesem Kurs Zweifel geäußert und ihn dann doch loyal mitgetragen hat. Immerhin gelingt es beiden noch kurz vor Alfried Krupps Tod, die Stiftungslösung durchzusetzen, die schon lange geplant war, und damit eine mögliche Abhängigkeit von Aktionären fürs Erste zu vermeiden. Was immer Krupp besitzt, wird der Stiftung gehören, insofern bleibt die Tradition des Alleinbesitzers durchaus erhalten, eine Tatsache, die 1967 viele übersehen. Zu Beitz sagt Alfried Krupp in den bewegten ersten Monaten des Jahres 1967: »Warum regen Sie sich eigentlich so auf? Das ist doch gar nicht so schlimm. Warum schlafen Sie denn nicht? Da haben wir schon andere Sachen erlebt.«
TOTENWACHE AUF DEM HÜGEL:
ALFRIED KRUPPS TOD
Alfried Krupp wird bald schon nicht mehr da sein, um Beitz beizustehen. Er ist sein Leben lang ein starker Raucher gewesen, so hat man ihn oft gesehen, schweigend, etwas abseits, die Zigarette in der Hand. Seine Gesundheit ist zuletzt angeschlagen, aber erst im Jahr vor seinem Tod wirkt er schwächer, als man ihn kannte. Alfried Krupp zieht sich zurück – auch vor der großen Krise. Er ist nicht einmal an dem Tag in der Firma, als Günter Vogelsang sein Amt als Vorstandschef antritt. Wie schlecht es wirklich um ihn bestellt ist, ahnt indessen niemand, auch sein engster Vertrauter nicht. Vier Wochen vor seinem Tod sind er und Beitz noch einmal zum Segeln auf der Ostsee, am Steuerruder der Germania VI steht Alfried, wie immer. Die Luft ist kühl, erinnert sich Berthold Beitz, »und Alfried stand da im Hemd an Bord, er fröstelte. Ich sagte zu ihm, Mensch, Herr von Bohlen, Sie müssen etwas drüberziehen! Aber er hatte nichts dabei. Ich hatte einen ganz neuen Pullover und sagte: Den schenke ich Ihnen, Sie sind ja ein armer Mann.« Eigentlich ist Beitz aber nicht nach Scherzen zumute, er macht sich Sorgen, und die Germania kehrt um.
Ein Arzt schickt den stark hustenden Firmenchef sofort ins Krankenhaus – und die Diagnose lautet: Lungenkrebs. Alfried Krupp hat nun den Wunsch, sein Haus zu bestellen. Nur neun Tage vor seinem Tod, am 21. Juli 1967, empfängt er Beitz und Paul Mikat und billigt die Satzung der Stiftung. Dabei streicht er, wie schon beschrieben, eigenhändig jenen Passus, welcher der Familie von Bohlen noch Mitwirkungsrechte eingeräumt hätte. Die beiden Besucher am Krankenbett ahnen jedoch noch immer nicht, dass der Mann, der ihnen so energisch dreinfährt, bereits dem Tode geweiht ist. Beitz will seinen Sylt-Urlaub absagen und bei ihm bleiben, aber Alfried Krupp winkt ab: »Nein, Herr Beitz, lassen Sie mal«, so schlimm sei es auch wieder nicht.
Beitz ist wenige Tage später also in Kampen, alte Freunde sind zu Besuch sowie Arndt und Annelise von Bohlen. Da klingelt, abends um halb elf, das Telefon. Es ist Alfried Krupps Arzt, Gerhard Moschinski: »Herr Beitz, Alfried Krupp ist soeben gestorben.« Beitz kann einen Moment nichts sagen, und Moschinski fährt fort: »Es war das Herz, es hat nicht mehr mitgemacht. Ich habe ihm noch eine Infusion gegeben, aber es war nichts mehr zu machen.«
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach stirbt am 30. Juli 1967 in seinem Haus, einsam im Tode wie im Leben. Berthold Beitz, sein Vertrauter, und Arndt, der Sohn, der das Vertrauen des Vaters niemals gefunden hat, eilen nach Essen zurück. Beitz lässt das Haus Alfrieds bewachen, nichts soll angerührt, nichts fortgenommen werden. Außerdem holt er Kurt Schoop auf den Hügel zurück, seinen alten Protokollchef, der erst kurz zuvor an die Spitze der Düsseldorfer Messe gewechselt ist. Beitz bittet Schoop, für eine würdige Trauerfeier zu sorgen.
Der herbeigeeilte Schoop begleitet Beitz in die untere Halle der Villa Hügel, wo der Leichnam aufgebahrt ist. Über Stunden steht Berthold Beitz in der Nacht am Sarg, eine einsame Totenwache. Er denkt an den Mann, den er so sehr geschätzt hat, und an dessen von Traurigkeit und Tragik überschattetes Leben. Er weiß, was er dem Verstorbenen verdankt. Und nun wird er das Erbe des letzten Krupp antreten – in ideeller Hinsicht als Hüter des Konzerns im Sinne des alten Patriarchen, in juristischer Hinsicht als Testamentsvollstrecker, in hierarchischer Hinsicht als Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung, die nun Inhaberin des Großunternehmens Krupp ist. Eben das war Alfried Krupps letzter Gunstbeweis für seinen Weggefährten gewesen, festgelegt in seinem letzten Willen: die Verfügungsgewalt über die Stiftung, daran kommt niemand vorbei. Und Kurt Schoop denkt in dieser Nacht, als er ihn regungslos vor dem Sarg stehen sieht: »Nun ist Beitz ein Krupp geworden.«
Der Spiegel entsendet Gerhard Mauz, einen seiner besten Reporter, zur Trauerfeier. »Einmal nur«, berichtet er, »zu Beginn der Feier, war Schmerz, war ein Gefühl zu spüren. Berthold Beitz, der Generalbevollmächtigte, der Freund hatte gesprochen, überlaut, mitunter eine Silbe, einen Buchstaben verlierend oder zerquetschend, in der angestrengten Mühe, Fassung zu wahren, und gequält davon, sprechen zu müssen, wo er nur schweigen mochte.« Berthold Beitz setzt dem Vertrauten einen Epitaph, ein letztes Wort aus vollem Herzen: »Die tiefe menschliche, freundschaftliche Verbundenheit, die er mir schenkte, macht mir das Reden schwer … Ich habe mit Alfried Krupp von Bohlen und Halbach einen Freund verloren … Alfried Krupp wird auch Leitbild für meinen künftigen Weg sein. Sein Wille, die Einheit der Firma zu wahren, ist sein Vermächtnis an uns. Wir nehmen es an als bleibende Verpflichtung.«
Das wird nicht jeder gern hören, der dabei ist. Unter den vielen Trauergästen aus Politik und Wirtschaft befinden sich auch Abs und Sohl. Und da ist natürlich die Familie, die noch nicht begreift, wie endgültig dieser Abschied der von Bohlen und Halbachs vom Unternehmen sein wird.
DER BUND:
BERTHOLD BEITZ UND ALFRIED KRUPP
Es war ein ungewöhnlicher Bund, den diese so ungleichen Männer geschlossen hatten: Alfried Krupp war Spross der mächtigsten Industriellenfamilie des Deutschen Reiches, Beitz ein Kind aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Der eine wuchs auf im Herzland industrieller Macht, der andere in der tiefsten Provinz am Meer. Krupp war von der Wiege an bestimmt, ein bedeutsamer Mann zu werden – ein Privileg und eine Bürde zugleich; Beitz trug solche Bürden nicht und nutzte die Chancen, die sich ihm boten. Der Firmenchef war schwermütig, einsam, verborgen hinter einem Wall aus Schweigen, den er selbst errichtet hatte; sein Generalbevollmächtigter war heiter, charmant, ein Mann von gewinnender Beredsamkeit. Der eine kam in seinen besten Momenten mit dem Leben zurecht, der andere wusste es selbst in schlechten Zeiten noch zu genießen. Dem Älteren waren die Menschen wenig recht und eine Last; der Jüngere liebte die Familie und die Geselligkeit. Und natürlich verkörperte Alfried Krupp für sehr viele Kritiker die dunkle Seite Deutschlands. Berthold Beitz hingegen hätte für sehr viele Menschen und sehr zu Recht das bessere Deutschland verkörpert, doch wollte er diese Rolle nicht spielen und behielt seine Geschichte für sich.
Das sind gewaltige Unterschiede. Und doch gab es manches, was sie verbunden hat.
Beide waren von der Zeit des Krieges und schlimmen Erfahrungen geprägt, vielleicht sogar traumatisiert, obwohl keiner von ihnen das jemals so genannt hätte. Alfried Krupp erlitt die Kälte des Elternhauses, die Fremdbestimmung in einer Familie, die alles besaß außer dem wärmenden Gefühl der Geborgenheit, er büßte in Nürnberg anstelle des Vaters. Die Folge waren Distanz zu anderen Menschen und vor allem ein tiefes Misstrauen. Berthold Beitz wiederum war Alfried Krupp von Bohlen und Halbach in dieser Hinsicht verwandter, als ihre Umwelt ahnen mochte: Nach Boryslaw traute er den Menschen nicht mehr. Wer sein Vertrauen wollte, der musste es erwerben, und leicht war das nie. Vertrauen war und ist für ihn ein hohes und seltenes Gut. Nur so lässt sich begreifen, wie überaus bedeutsam für Berthold Beitz das Vertrauen war, das Alfried Krupp, der mächtige Konzernherr von der Ruhr, in ihn setzte, ihn, den Fremden, den er 1952 ganz allein auswählte und nach Essen holte. Beitz war dort ein Außenseiter, aber Alfried Krupp war es auch. Als Generalbevollmächtigter regierte Beitz ein privates Imperium. Es gab in der Wirtschaft ganz Westeuropas wohl keinen anderen Posten, der so viel Macht und Verantwortung bot. Beitz war niemandem verantwortlich außer seinem Gewissen und Alfried Krupp. Für ihn war es, als habe er das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale gelegt – und sei für schwer genug befunden worden: »Er [Alfried Krupp; J. K.] vertraute mir zu hundert Prozent. Hätte ich ihn einmal hintergangen oder dieses Vertrauen enttäuscht, wäre das vorüber gewesen.«
Ein solcher Bund hätte nur einen Feind haben können, von dem wirklich Gefahr ausging – sich selbst. Nicht wenige Bündnisse zwischen zwei Männern sind daran zerbrochen, dass beide insgeheim doch überzeugt waren, es könne nur einen geben; dass die Fliehkräfte zu stark wurden, der Raum zu klein für beide, das Maß an Macht nicht genug; dass der Höhergestellte dem anderen misstraute und das an ihm zu fürchten begann, was er selbst nicht besaß. Und dass der andere wiederum nach dem Ganzen zu greifen begann oder sich dies doch insgeheim wünschte. Weil das so ist, gibt es in Wirtschaft und Politik viele Führungspersönlichkeiten, die es vermeiden, einen Nachfolger aufzubauen.
Aber nichts davon ist eingetreten. Das Bündnis zwischen Alfried Krupp und Berthold Beitz hielt so fest, dass an ihm alle – undes gab viele – Versuche zerbrachen, den einen gegen den anderen auszuspielen. Beitz erlaubte keine Illoyalität dem Alleininhaber gegenüber, Krupp deckte ihm den Rücken. Beitz bringt das noch heute auf den Nenner: »Alfried Krupp stand nicht hinter mir, er stand vor mir.« Nirgendwo war schriftlich fixiert, wo die Grenzen der Generalvollmacht lagen – denn sonst wäre es ja keine gewesen – und bei welchen Entscheidungen Beitz den Alleininhaber vorab zu konsultieren habe. Es war also eine Frage der Intuition, des Verstehens. Tilo von Wilmowsky hat das besondere Verhältnis der beiden Männer begriffen, als Einziger in der Familie von Bohlen, die sonst nur zu geneigt war, Beitz zu unterstellen, er wolle der letzte Krupp werden und Alfrieds Platz einnehmen. Der alte Freiherr wusste es besser. Noch im hohen Alter schrieb er Beitz 1963, »innerlich bewegt: Lange Erfahrung hat mich gelehrt, wie selten ein solch gegenseitiges Verständnis in Lebenslagen ist.«
Die anderen mochten sich ereifern über Beitz’ handgenähte Anzüge, seinen fremdländischen Musikgeschmack, seine anfängliche Unkenntnis in Sachen Stahl, den fehlenden »Stallgeruch«, seine bis zum Groben reichende Direktheit, die der britische Observer als »bald von schockierender Taktlosigkeit, bald von rührender Herzensgüte« beschrieb, und noch über vieles mehr. Alfried Krupp jedoch hielt stets an Beitz fest, denn er erkannte in ihm etwas Vertrautes, wenn auch in völlig anderer Form: Kraft, Durchsetzungsstärke, innere Freiheit vom Urteil anderer, Entschlossenheit selbst zu einsamen Entscheidungen, auch das menschliche, humane Maß – einen Mann, der entscheiden und durchgreifen, zugleich aber auch integrieren und Konsens herstellen kann. Diesen Mann an sich zu binden, war eine so einsame wie richtige Entscheidung. Sie zeugt von Menschenkenntnis.
Graf Finckenstein, der als Essener Privatbankier viel mit beiden zu tun hatte, beschreibt dies so: »Alfried Krupp hatte die Fähigkeit verloren, Vertrauen zu schenken – bis er Beitz traf.« Er verließ sich fortan auf ihn, und der dankte es ihm mit Loyalität. Durch Alfried Krupp erhielt Beitz etwas, was er in seinem Leben und zumal nach Polen immer angestrebt hatte – die Freiheit des Handelns: »Ich bin ein Mann, der seine Freiheit liebt. Ich wollte stets über mich selbst bestimmen.« Er blieb unabhängig von Werksseilschaften, Parteien, dem Ränkespiel der Verbände.
So bestimmend war diese Loyalität für das beiderseitige Verhältnis, dass sie sogar stärker war als Beitz’ Instinkt als Unternehmenslenker. Als Krupp in der Stahl- und Kohlekrise weiterhin auf die Schwerindustrie setzte, trug Beitz seine anderslautende Meinung vor, akzeptierte dann aber Krupps Entscheidung. Er trug sie fortan mit, ohne im Konzern jene Haltung zur Schau zu tragen, mit der die zweiten Männer gern ihrem Umfeld signalisieren: »Ja, wenn ich nur könnte, wie ich wollte …« Als dann die Presse das Duo heftig für seine Fixierung auf die Schwerindustrie kritisierte, stand Beitz zu seinem Chef: »Sein Vertrauen ist mir wichtiger als alle Zeitungsartikel der Welt.«
Vielleicht liegt ein Geheimnis dieses Bundes zweier Männer in ihrem besonderen Verhältnis zur Macht. Alfried Krupp besaß sie und war sich ihrer bewusst, doch machte es ihm keine Freude, sie auszuüben. Beitz verfügte über geliehene Macht, und in einer feinen Beobachtung schrieb der Publizist Erich Kuby schon 1963: Vielleicht sei auch der Generalbevollmächtigte »ein gleichfalls scheuer, mißtrauischer Mann, dem die Macht selbst nichts bedeutet, um so mehr aber das Bewußtsein und die Ausübung von Macht, die eine fortwährende Bestätigung mit sich bringt, daß man schneller, heller, zielbewußter und instinktsicherer ist als diejenigen, mit denen man es zu tun hat«. Hier also der Besitz und dort die Ausübung von Macht: So betrachtet, gab es zwischen den beiden Männern keinen Kampf um Macht, kein Gerangel, kein Alphatier-Gehabe auf Kosten des jeweils anderen. Sie ergänzten sich einfach hervorragend.
Berthold Beitz war nicht der Kronprinz, der mit leiser Ungeduld auf die Nachricht wartet, dass der König endlich tot sei. Bei der Trauerfeier auf dem Hügel 1967 gab es nur sehr wenige, die von Herzen um Alfried Krupp trauerten. Berthold Beitz stand am Sarg und weinte, und in seiner Ansprache sagte er: »Diese Freundschaft hat mein Leben geprägt.«
Aber welche Art von Freundschaft war das?
Heute sagt Berthold Beitz: »Nein. Freunde im engen persönlichen Sinne waren wir nicht.« Da war die Hierarchie, die Beitz stets bewusst war und gegen die er eben nicht aufbegehrte. Er selbst vergleicht ihr Verhältnis mit dem »eines mittelalterlichen Königs zu seinem ersten Mann am Hofe, der diesem die Macht überträgt und Treue erwarten kann. Ich habe ihn als Chef immer respektiert, und er hat mir immer freie Hand gelassen.« Sie waren Lehnsherr und erster Ministerialer, Sultan und Großwesir, Präsident und Kanzler. Nicht Freunde, die durch dick und dünn gehen, alles miteinander teilen und über alles sprechen. Dazu war Alfried Krupp zu zurückgezogen in sich selbst, zu entfernt, zu menschenscheu. »Er war auf Distanz«, sagt Beitz, »immer auf Distanz« – ein Leben lang: »Er war ein sehr einsamer Mann.«
Und Beitz, der die Einsamkeit in Polen unter ganz anderen Umständen sehr wohl erfahren hatte, verstand den anderen trotz dieser Distanz.
Eine Vater-Sohn-Beziehung also? Dazu fehlten die emotionalen Abhängigkeiten, dazu war Alfried Krupp zu entfernt und Berthold Beitz zu eigenständig. Beitz mochte Dankbarkeit, ja Verehrung und sehr hohe Achtung für den nur sechs Jahre älteren Mann empfinden. Doch devot trat er ihm nicht gegenüber. Der Ton zwischen beiden war freundlich, entspannt und unterfüttert von jenem Humor, der Berthold Beitz so auszeichnet und den er umgekehrt aus der Tiefe des Krupp’schen Schweigens hervorzulocken verstand.
Es war ein freundschaftliches Verhältnis, von tiefem gegenseitigem Respekt und ebenjenem Vertrauen getragen, das sie kaum jemandem außerhalb ihrer Gemeinschaft schenkten. Enzio Graf von Plauen, der Freund aus jungen Jahren, hat Alfried Krupp einmal offen gefragt, was viele dachten: »Fühlen Sie sich durch Berthold Beitz eigentlich nicht überfahren?« Schließlich war es Beitz, der dem Unternehmen Krupp das Gesicht gab, in den Schlagzeilen stand, einsame Entscheidungen traf – das alles im Namen des Mannes, dem Krupp gehörte, der Krupp war. Hatte er, das wollte von Plauen damit sagen, den Generalbevollmächtigten eigentlich noch unter Kontrolle? Alfried Krupp aber antwortete darauf gelassen und mit typischem Understatement: »Ich übersehe den Betrieb noch zur Genüge.«
Günter Vogelsang hat selbst erlebt, wie empfindlich Beitz reagieren konnte, wenn er glaubte, jemand dränge sich zwischen ihn und Alfried Krupp. Einmal etwa glaubte er, Vogelsang sei beim Konzernherrn vorstellig geworden, um Vorstand der Rheinhausener Hüttenwerke zu werden; dabei hatte Alfried Krupp Vogelsang selbst gefragt. Vogelsang: »Er fühlte sich übergangen, aber dann hat er gemerkt, dass das keine abgekartete Sache war.« Vogelsang wäre niemals hinter Beitz’ Rücken zu Krupp gegangen, weil er wusste: »Alle Probleme hat er mit Beitz besprochen und umgekehrt. Das haben alle gesehen und bewundert. Für Berthold Beitz war das ja eine große Entscheidung: Er hat die Führung von Alfried Krupp stets akzeptiert und gefördert, damit hat er sich selbst zurückgenommen.«
Manches setzten die beiden Männer stillschweigend voraus, so erstaunlich das nach außen hin scheinen mag. So war die Vergangenheit kein Thema, das sie ausführlich debattiert hätten. Alfried Krupp wusste, dass sein Generalbevollmächtigter mit weißer Weste aus dem Krieg gekommen war. Es wird zu dem Respekt beigetragen haben, den er für Beitz empfand. Beitz wiederum wollte, dass Alfried Krupp ihn um seiner selbst willen respektierte. Und er schätzte an Krupp, dass dieser sich nicht als Opfer gerierte. »Er sprach niemals schlecht über die Briten und Amerikaner, obwohl sie ihn verurteilt hatten«, sagt er im Rückblick. »Und er hat nie geklagt über seine Jahre in der Haft.« Für Beitz genügte es, dass sie die Gegenwart nicht länger bestimmte. Beitz, der Unbelastete, war der Architekt des neuen, gewendeten Krupp-Konzerns, aber ohne das Einvernehmen mit dessen Inhaber hätte er dies niemals sein können.
Alfried Krupp brauchte Beitz auch, weil er wohl instinktiv wusste, wie sehr ihm die eigene Persönlichkeit als Unternehmenslenker im Wege stand. Er rauchte lieber Kette, als lange zu sprechen, fühlte sich sichtbar unwohl in größeren Gruppen. Und doch war gerade Alfried Krupp derjenige, der die soziale Verantwortung für seine Kruppianer als Leitmotiv seiner Unternehmensplanung begriff. Das Geschäft, das Reden und Kommunizieren, das Ertragen und Austragen so vieler Konflikte, das Führen von so vielen Menschen lagen ihm nicht. »Er ließ mich machen«, sagt Beitz heute, um nachdenklich hinzuzufügen: »Er war innerlich gar nicht bereit, die Firma zu führen.«
Der junge Generalbevollmächtigte erfuhr bald, was die alte Bertha Krupp bei jener Teestunde mit der Bemerkung gemeint hatte, »unangenehme Sachen« lägen Alfried nicht. Die waren von nun an sein Job. Berthold Beitz leitete die Sitzungen des Direktoriums und setzte dort den Willen des Alleininhabers gegen alle Widerstände durch; er kümmerte sich, wie im Fall Harald von Bohlens, sogar um heikle Familienangelegenheiten. Berthold Beitz entließ unliebsame Mitarbeiter, während der Chef im Ausland weilte. Berthold Beitz kreuzte die Klingen mit Bundeskanzler Adenauer im Streit um die Verkaufsauflage und die Versöhnung mit Polen. Berthold Beitz warb in den USA für die neue Firma Krupp, die aus dem Schatten der Kanonenkönige getreten war – und wer, wenn nicht er, konnte das glaubhaft tun?
Diese Nähe, die es Beitz erlaubte, dem stillen Mann die »unangenehmen Dinge« abzunehmen, ging tief ins Private hinein. Es war Berthold Beitz, der den unglücklichen Arndt von Bohlen und Halbach vom Sinn des Erbverzichts überzeugte und so das Großunternehmen für die Zukunft bewahrte. Es war Beitz, der Alfried davon abhielt, dessen Exfrau Annelise, Arndts Mutter, in Mittellosigkeit sitzen zu lassen. Und es war Beitz, der ihn überredete, die Villa Hügel, das verhasste Elternhaus, 1953 nicht einfach für eine Mark an die Stadt Essen zu geben, sondern eine Kultureinrichtung daraus zu machen: »Herr von Bohlen, Sie können doch nicht einfach Ihr Elternhaus verkaufen!«
Nach Alfried Krupps Tod gab es keinen solchen symbiotischen Bund mehr. Niemals im langen Leben von Berthold Beitz sollte er sich wiederholen, auch dann nicht, als er selbst der Ältere, Mächtigere war. Eine Nähe wie zwischen dem einsamen Konzernherrn und seinem Generalbevollmächtigten stellte sich nicht wieder ein. Nach 1967 ging Berthold Beitz seinen Weg allein.
Die Beziehung zwischen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und Berthold Beitz gehorchte eigenen Regeln, die beide Männer Distanz wahren ließen und sie doch so eng zusammenführten, dass niemand das Bollwerk ihres Vertrauens zu erschüttern vermochte. Wäre, wie in Friedrich Schillers Ballade »Die Bürgschaft«, einer gekommen wie Dionysos, der Tyrann von Syrakus (»Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte«), so hätte er keinen Platz gefunden. Zwischen dem Firmeninhaber und seinem Generalbevollmächtigten war eine Nähe entstanden, die größer war als vieles, was andere Menschen Freundschaft nennen.
DER VERBANNTE VOM HÜGEL
In den zwei Tagen vor der Beisetzung von Alfried Krupp 1967 haben insgesamt 18 000 Menschen Abschied genommen von dem Mann, mit dem ein Zeitalter zu Ende gegangen ist. Der Patriarch, dem seine »Kruppianer« wichtiger gewesen sind als die kalte Ratio der Zahlen, lebt nicht mehr. Für Berthold Beitz beginnt nun eine neue Ära – die des Kampfes um Krupp.
Und sie beginnt nicht gut. Im Konzern haben Abs und Vogelsang das Sagen, sprich: die Banken und der Vorsitzende des neu geschaffenen Vorstands. Die Banken wollen nicht Beitz als Aufsichtsratsvorsitzenden, sondern jemanden, der unabhängig von der Stiftung ist. Abs übernimmt den Vorsitz kurzerhand selbst. »Darüber war Beitz sehr enttäuscht«, meint Vogelsang im Rückblick. »Die Banken hatten ihm keine Führungsverantwortung übertragen, das war für ihn nicht leicht zu ertragen.« Abs ist Sieger – für den Moment.
Der mächtige Industrielle und der einflussreichste Banker, das ist fast eine »Hassliebe«, so hat Berthold Beitz selbst einmal ihr Verhältnis beschrieben. Hermann Josef Abs, erzählt er Golo Mann, sei jemand, »der im Mittelalter als Papst oder Kardinal die Puppen an den Fäden gezogen hätte«. Unter den deutschen Bankern sei er »die brillanteste Figur, die ich je gesehen habe«. Der so Beschriebene wiederum hat einmal und wohl keineswegs ohne Bedauern gesagt: »Beitz ist wie eine Katze, er fällt doch immer wieder auf die Beine.« Genau das wird der Banker bald selbst erfahren.
Als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender und als Leiter der Stiftung verfügt Beitz vorerst jedoch über kein ausreichendes Gegengewicht, zumal die Stiftung durch die schlechte Finanzlage nur einen Jahresetat von zwei Millionen Mark hat. Wenn Beitz in dieser Zeit dem geplanten Schulfernsehen 1000 TV-Apparate stiftet und einige »künstliche Nieren«, also Dialysegeräte, an Krankenhäuser gibt, sind das schon die größten Zuwendungen, zu denen er anfangs in der Lage ist. »Der ist weg vom Fenster«, meinen nicht wenige Ruhrmanager zufrieden.
Unter Vogelsang gelingt die Sanierung des Konzerns in überraschend kurzer Zeit. Sein Vorteil: Er war lange genug bei Krupp, um die Firma in- und auswendig zu kennen. Zugleich ist er lange genug fort gewesen, um ohne falsche Rücksichten handeln zu können. »Das ist wie mit den Zutaten zu einer guten Suppe«, sagt Vogelsang heute bescheiden über die Einzelheiten seines Sanierungswerks. Eine dieser Zutaten ist gewiss die allgemeine Erholung der Wirtschaft nach 1968, die ihm sehr zugutekommt. Freilich geht Vogelsang 1967 mit Umsicht und nicht ohne Härte vor. Er stößt Beteiligungen ab und verkauft, anders als es Alfried Krupp geduldet hätte, Verlustbringer. Als Erstes muss die Lastwagenfabrik dran glauben, in der 3200 Beschäftigte nur noch 1500 Fahrzeuge im Jahr herstellen; die Marktführerschaft haben längst andere, wie MAN und Daimler-Benz. Bald wird es die traditionsreichen Konsum-Läden treffen, die konzerneigene Supermarktkette, die es den Angestellten ermöglichte, mit einer Vielzahl von Rabatten und Sondermarken beim eigenen Arbeitgeber einzukaufen. Die ohnehin nicht mehr heile Welt des bis zu Alfried Krupps Tod patriarchalisch, aber großzügig geführten Konzerns verändert sich nun sehr rasch. Dafür macht Krupp schon 1969 wieder 63 Millionen Mark Gewinn und trägt Bankschulden ab.
Letztere sind zum Glück doch nicht so hoch, wie befürchtet, denn am Ende hat man die Bürgschaft von 300 Millionen D-Mark, die 1967 in jener theaterreifen Inszenierung von Schiller verkündet worden ist, dank des Wiederaufschwungs überhaupt nicht in Anspruch nehmen müssen. Das ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, dass die Banken 1967 die Lage übertrieben schwarz gesehen haben – oder sehen wollten. Ende 1969 gibt die AKA das für Krupp vorgesehene, letztlich aber nicht benötigte Geld an die Bundesrepublik zurück und verzichtet auf weitere Sondersicherheiten. Entsprechend stolz verkündet die Firma: »Eine Inanspruchnahme des Bundes aus der Bürgschaft und damit der Einsatz öffentlicher Mittel für das Unternehmen ist nicht erfolgt.«
Im Grunde stehen sich nun mit Vogelsang und Beitz zwei Männer gegenüber, die, was die Führung des Unternehmens angeht, von der Devise überzeugt sind: Es kann nur einen geben, und das bist nicht du. Darüber hinaus trennen die beiden grundsätzliche unternehmenspolitische Überzeugungen. Vogelsang verteidigt das Prinzip, wonach die Arbeit des Vorstands frei sein müsse: »Nur bei großen Entscheidungen, aber sonst nicht, braucht er die Zustimmung des Aufsichtsrates.« So versucht er gleich zu Beginn – allerdings vergebens –, sich ein Vetorecht bei der Vergabe von Vorstandsposten durch den Aufsichtsrat zu sichern. »Auf diese Weise«, lässt ihn Beitz daraufhin wissen, »würde eine der wesentlichen Kompetenzen des Aufsichtsrats ausgehöhlt und materiell auf den Vorstandsvorsitzenden übertragen, in dessen Hand es praktisch liegen würde, die Zusammensetzung des Vorstands zu bestimmen.« Beitz wiederum, von Krupp geprägt, will keine zu große Autonomie der Vorstände, damals in den sechziger Jahren genauso wenig wie vierzig Jahre später. »Die Vorstände«, so Beitz 2009, »denken ja gerne, ihnen gehöre das Unternehmen. Das stimmt aber nicht. Sie sind nicht Eigentümer, sondern Angestellte, sie verwalten fremdes Geld. Und ich habe immer gesagt: Ich vertrete den Eigentümer, Alfried Krupp, der mir bis an mein Lebensende die Vollmacht dazu gegeben hat.«
Was ihm Vogelsang und Abs anfangs zugestehen, wirkt wie eine Fortsetzung der Demütigungen, die er schon hat erfahren müssen: »Bei bedeutenden ausländischen Persönlichkeiten des politischen Lebens soll es Anliegen des Vorstandes der Fried. Krupp GmbH sein, auch eine Begegnung mit Herrn Beitz herbeizuführen und seine Teilnahme bei etwaigen Einladungen zu berücksichtigen.« Das soll wohl heißen: Auf Empfängen bella figura machen, das kann er ja – falls wir daran denken, ihn einzuladen.
Dabei unterschätzen Abs und Vogelsang seine Bedeutung als Vertreter des alleinigen Eigentümers, nämlich der Stiftung. Schon Ende 1968 setzt er durch, »daß Herr Vogelsang Herrn Beitz in regelmäßigen Zusammenkünften über alle wesentlichen unternehmenspolitischen Planungen und geschäftlichen Vorgänge unterrichtet«. Von einer solchen Unterrichtungspflicht des Vorstands gegenüber Beitz ist anfangs nicht die Rede gewesen.
DER FREUND VON DER ANDEREN SEITE:
OTTO BRENNER
Beitz hat inzwischen Verbündete in jenem Lager gefunden, das er stets sehr pfleglich behandelte: bei den Arbeitnehmern, und dort sogar einen Freund – Otto Brenner (1907–1972), den Vorsitzenden der IG Metall. Brenner und Beitz kennen sich ursprünglich aus dem Aufsichtsrat des Bochumer Vereins, wo sie sich nach den Erinnerungen des Gewerkschafters und Kruppianers Heinz Sohn gleich sympathisch waren: »Es sprang sofort ein Funke von Beitz zu Brenner über und umgekehrt. Das war mehr persönlich als sachbezogen.« Brenner hat Beitz schon während der Kreditkrise 1966 zur Seite gestanden, als die Gewerkschafter ein »informelles Netzwerk« genutzt haben, um innerhalb der SPD Hilfe für Krupp zu mobilisieren. Dazu gehören seinerzeit, im Kontakt mit Brenner, Walter Hesselbach als Chef der Bank für Gemeinwirtschaft und SPD-Schatzmeister Alfred Nau. Hesselbach hat schon Anfang 1967 die »Jagd auf Beitz« beklagt. Ihre Beziehungen zu Schiller und vor allem zu der sozialdemokratischen Landesregierung unter Heinz Kühn haben nicht unwesentlich zu dem Rettungswerk beigetragen.
Brenner bleibt anschließend – was Beitz sehr für ihn einnimmt – gleichwohl überzeugt, dass Bund und Banken im Umgang mit Krupp überreagiert haben. Schon das Wort »Krise« lehnt er ab, ebenso Schuldzuweisungen an Alfried Krupp und Berthold Beitz. Für ihn ist die »Krupp-Krise« ein lösbares Problem, bedingt durch die Besonderheit des Ostgeschäfts. Da hier die Zahlungen sehr langfristig erfolgen, müsse der Staat dies eben durch Garantien überbrücken. »Wenn die Kreditgarantie in der Bundesrepublik genauso gehandhabt würde wie in manchen Nachbarländern«, so Brenner in einem Interview von 1967, »dann hätte es in Essen bestimmt keine Liquiditätsprobleme gegeben.«
Beitz und Brenner verbindet jenseits dieser Überzeugung vieles: Beitz verabscheute die Nazis und wurde in Polen zum Retter vieler Verfolgter. Brenner stammt aus dem Arbeiterwiderstand gegen Hitler, in Hannover hat er für die linke Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) im Untergrund gearbeitet und deshalb von 1933 bis 1935 im Gefängnis gesessen. »Wir verstanden uns beide sehr gut«, erzählt Beitz in einem Interview mit Brenners Biographen Jens Becker und Harald Jentsch, »jeder wusste vom anderen, was er 1933 bis 1945 getan hat. Das hat den gegenseitigen Zugang sicher erleichtert. Ich mochte ihn sehr gern.« Er sieht in dem anderen, bei allen Unterschieden, so etwas wie eine verwandte Seele, und er weiß, wie rar solche Verwandtschaften sind. »Er war«, so Beitz, »ein bescheidener, zuverlässiger, ehrlicher Mann.«
Und ein Mann von der anderen politischen Seite. In einer Bombennacht Anfang 1945 hat Otto Brenner an seine Frau Martha geschrieben, er sehne den Frieden zwar herbei: »Aber was heißt schon Frieden? Wir können uns zunächst nur das Kriegsende wünschen. Denn wahren Frieden wird es im Kapitalismus für uns nicht geben.«
Der Sozialist von damals wird nun also ein Freund des Kapitalisten vom Hügel, übrigens mit Wohlwollen des alten Krupp, wie sich Beitz erinnert: »Er hat nicht gemeckert, dass ich eine gute Verbindung zu Otto Brenner und überhaupt zu den Gewerkschaften hatte.« Brenner ist oft zu Gast in Beitz’ Haus. Einmal warnt die Sekretärin des IG-Metall-Chefs Beitz vor: »Dem Herrn Brenner geht es nicht so gut, den tragen sie bald mit beiden Beinen voran zur Tür heraus!« Und tatsächlich erscheint Brenner blass und krank, er leidet an Herzproblemen und Kreislaufschwäche, ist aber nicht bereit, seinen erschöpften Körper zu schonen. Beitz lässt ihn nicht gehen: »Sie müssen etwas tun und sich vor allem einmal schonen.« Er überredet den Freund, sich vier Wochen in die Krupp-Klinik zu begeben.
Bei aller Freundschaft verbinden die zwei Männer 1966/67 gemeinsame Interessen: Beide wollen Krupp über Wasser halten und vor dem Zugriff der Banken retten: Beitz als Vertreter des Eigentümers, Brenner als jener der Arbeitnehmer, die um Zehntausende Jobs und um die Montanmitbestimmung bei den Fried. Krupp Hüttenwerken fürchten. »Die vorbildliche soziale Betreuung der Arbeitnehmer, die stets ein besonderes Kennzeichen des Namens Krupp war, muss erst recht in ernsten Zeiten erhalten bleiben!«, mahnt Brenner 1967.
Beitz handelt rasch. Er beruft Otto Brenner – »da Sie für die vielfältigen Probleme des Konzerns, besonders in letzter Zeit, stets besonderes Verständnis gehabt haben« – in den 1968 gebildeten Aufsichtsrat der Fried. Krupp GmbH, und zwar auf die Eigentümerseite. Das ist unerhört, jedenfalls in den Augen des Arbeitgeberlagers, das nun Beitz wie einen Verräter mit wütender Kritik bombardiert. Beitz freut sich noch heute über seinen Coup: »Als ich den Otto Brenner in den Aufsichtsrat hereinnahm – was haben die sich alle aufgeregt, Herr Sohl, Herr Berg und die anderen vom Bundesverband der Deutschen Industrie. Die hätten mich am liebsten aufgehängt, die haben gesagt: Der Beitz ist verrückt! Die fühlten sich eine Etage höher als die Arbeitnehmer. Aber das merken die Leute, wenn man ihnen das Gefühl geben will, ich bin der Herr und du bist der Knecht.« Klassendünkel stoßen ihn ab: »Für mich war die gute Verbindung zu Otto Brenner ganz selbstverständlich.«
Der Coup zeigt Beitz’ Gegnern jedenfalls, dass sie noch mit ihm zu rechnen haben. Die Mehrheitsverhältnisse und die Machtbalance im Aufsichtsrat sind nur schwer berechenbar, wenn mitten unter den Vertretern der Eigentümer der »eiserne Otto« sitzt. So nennt man den überzeugungsstarken Brenner bei der IG Metall. Beitz hat, wie so oft, den Instinkt, den richtigen Menschen zu vertrauen. Und wenn er genug Vertrauen gefasst hat, handelt er ohne Scheu vor Tabus und völlig unideologisch. In einer Zeit, in der sich noch viele Industrielle gebärden, als seien die Gewerkschaften von Lenins roten Garden durchsetzt, verbündet er sich mit einem linken Gewerkschaftsboss. Und der Tag ist nicht fern, an dem sich der Pakt auszahlen wird.
»WIR WÄHLEN SIE JETZT AB«:
DER AUFSTAND GEGEN ABS
Denn die Konflikte reißen nicht ab. In einem persönlichen Brief vom 25. September 1968 rechnet Abs mit Beitz ab. Es sei müßig, »erneut darüber Gedanken anzustellen, worauf letzten Endes die kritische Entwicklung des Hauses Krupp … zurückzuführen ist«, schreibt der Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, um dann ebendiese Gedanken ausführlich auszubreiten. Alfried Krupp habe »als an der täglichen Geschäftsführung nicht beteiligter Inhaber Verantwortungen [getragen], die er eigentlich nicht tragen konnte«. Dies stehe »Ihnen wie mir deutlich vor Augen«. Schließlich habe Beitz durch die Umwandlung des Konzerns und die Berufung Vogelsangs, »einer Persönlichkeit, die der Schwierigkeit der Aufgaben gewachsen erscheint, die entscheidende Folgerung aus der von Ihnen nicht verkannten Lage, wie sie sich um die Jahreswende 1966/67 stellte, gezogen«.
Das ist schierer Sarkasmus, der im Klartext bedeutet: Beitz selbst sei diese Persönlichkeit nicht, sondern trage ganz im Gegenteil die Schuld an der Krise des Konzerns. Abs schließt mit der Warnung, den Vorstand in Ruhe zu lassen: »Ein Konzern, dessen Bilanzsumme praktisch nur noch zum zehnten Teil aus Eigenmitteln besteht, hat noch einen weiten Weg zur Konsolidierung vor sich, der den vollen Einsatz der berufenen Hauptverantwortlichen im Vorstand nötig macht. Das erfordert … ein gutes Verhältnis zu Ihnen und zum Aufsichtsrat.« Es werde daher »eine Aussprache mit Ihnen und Herrn Brenner im Präsidium des Aufsichtsrats nötig sein«.
Es ist eine Demonstration der Macht: Beitz, so die Botschaft, müsse lernen, sich zu fügen. Kurz vor Weihnachten 1968 schlägt der so harsch Kritisierte jedoch zurück. Umrankt von den üblichen Höflichkeitsfloskeln, stellt der Stiftungsvorsitzende Berthold Beitz die Machtfrage: »Die Stiftung steht der Fried. Krupp GmbH nicht nur als eine an jährlichen Ausschüttungen interessierte Gesellschafterin gegenüber. Sie ist dem Unternehmen vielmehr – um im Bilde zu bleiben – wie eine Mutter verbunden, die über das Wohl ihrer Tochter zu wachen hat.«
Und diese Mutter folgt strengen Prinzipien, die nicht einfach durch die Macht des Geldes und der Geldgeber, der Banken, zu brechen sind. »Sehr am Herzen liegt mir«, so Beitz weiter, »daß in der Fried. Krupp GmbH jener Geist erhalten bleibt, aus dem sich der Begriff des ›Kruppianers‹ entwickelt und der durch Generationen hindurch alle Mitarbeiter des Hauses Krupp erfüllt hat. Ohne diesen Geist wäre es nicht möglich gewesen, das Unternehmen aus den Trümmern des Jahres 1945 heraus wieder aufzubauen. Ich muß daher nicht nur die äußere, sondern auch die innere Entwicklung des Unternehmens aufmerksam verfolgen. Denn die Stiftung soll … die Einheit des Unternehmens, dem Willen der Vorfahren des Stifters entsprechend, auch für die fernere Zukunft wahren.« Dies habe »Herr von Bohlen in seinem Testament wörtlich verfügt«.
Der Testamentsvollstrecker und Stiftungsvorsitzende Beitz als Erbe Alfrieds, als Lordsiegelwahrer der Krupp’schen Version eines Kapitalismus mit menschlichem Angesicht, dazu Brenner, der den Kapitalismus domestizieren will – das ist nichts, was Abs hinnehmen kann. Er betrachtet sich als den Retter und Beitz als Mann von gestern. Die Spannungen verschärfen sich. Beitz’ ohnehin wenig ausgeprägte Neigung zur Nachgiebigkeit wird keineswegs größer, als er Ende 1969 im Aufsichtsrat auf sein Drängen hin erfährt, dass »die vor dem AKA-Finanzierungsstopp im Dezember 1966 erhaltenen größeren Aufträge im Anlagengeschäft für Ost-Länder mit sehr guten Ergebnissen von etwa 20 % Gewinn abgeschlossen« haben. Das lässt die Finanzschwäche und die Konzernführung des Jahres 1966 in neuem Licht erscheinen: Das Polen-Geschäft von 1966 – jene Lieferung eines Chemiewerks, an der sich die große Krupp-Krise entzündet hatte – hat unter dem Strich einen soliden Gewinn erbracht.
Schon Ende 1968 schreibt Werner Krüger, nunmehr ausgeschiedener Chef der Dresdner Bank, der keine zwei Jahre zuvor noch zu seinen Gegnern gezählt und am Bonner Konferenztisch so grimmig dreingeblickt hat, an Beitz: »Eine der schwierigsten Zeitspannen, die das Haus Krupp zu überwinden hatte, kann als im Wesentlichen beendet angesehen werden.« Der Kreditbedarf sei »sichergestellt«, »für die Exportfinanzierungen über die AKA giltkünftig wieder das normale Schema«. Überraschend offen kritisiert der immer noch mächtige Banker schließlich »die Einstellung und Verhaltensweise fast aller mit dem Hause Krupp verbunden gewesenen Kreditinstitute« in »der damaligen Situation«.
Der Brief ist eine erste Abbitte aus berufenem Munde, nur zwei Jahre nach der Krise. Es sei falsch gewesen, so Krüger, dass sich diese Institute den neuen Krediten verweigerten und dass »man versuchte, oft mit allen Mitteln, aus bestehenden Kreditvereinbarungen herauszukommen. Das ging so weit, daß frühere, mündlich gegebene Zusagen mit dem Hinweis auf die fehlenden schriftlichen Bestätigungen als gegenstandslos erklärt wurden.« Für diese Haltung der Banken macht Krüger die AKA verantwortlich, die Ende 1966 beschlossen habe, »die Bearbeitung von Exportfinanzierungsanträgen generell von der Übernahme der 100%igen Vorhaftung der einbringenden Bank abhängig zu machen«. Das heißt: Das Risiko wurde von der AKA auf die einzelnen Banken verlagert, was eine Art Panik auslöste. »Wir waren überrascht und schockiert«, schreibt Krüger, und so sei es zur Krupp-Krise 1967 gekommen, obwohl sich gerade »gewisse Möglichkeiten der Konsolidierung ergaben«. Die Dresdner Bank »und auch einige andere Banken« seien zwar dennoch bereit gewesen, notfalls selbst zu haften, das habe aber nichts mehr geändert.
Beitz empfindet diese offenherzigen Aussagen als eine Art Freispruch. Sie bedeuten ja nichts anderes, als dass Panik im Bankenlager und nicht primär hohe Firmenschulden der eigentliche Auslöser für die »Krise Krupp« waren – dass also, wie er Krüger ein wenig grimmig antwortet, »die damaligen Finanzierungsprobleme auch Ihrer Auffassung nach anders hätten gelöst werden können … und daß der Öffentlichkeit gegenüber in unnötiger Weise der Eindruck erweckt wurde, der Staat habe intervenieren müssen«. Beitz fühlt sich in seiner Vermutung bestätigt, dass er und Alfried Krupp in der Krise Opfer eines unlauteren Spiels um Macht und Geld geworden sind, in dem die Banken die Regeln diktiert haben. Ausgerechnet deren Frontmann sieht er nun jedes Mal am Kopfende des Konferenztisches sitzen, sobald der Aufsichtsrat der Fried. Krupp GmbH zusammentritt: Hermann Josef Abs.
Der Bankier hat zwar nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den Aufsichtsrat von Krupp nicht dauerhaft leiten wird. Er will eines Tages abtreten, wenn sein Reformwerk vollbracht ist, aber diesen Tag möchte er selbst bestimmen. Er wird die Dinge später gern so darstellen: Demnach kam er, Abs (denn es brauchte einen großen Mann zur Rettung von Krupp), sah (ordnete die Dinge) und siegte (und ging nach vollbrachter Tat).
Tatsächlich aber wird er vor der Zeit gestürzt – von Berthold Beitz und Otto Brenner. Dem Stiftungschef kommt zu Beginn des Jahres 1970 etwas zu Ohren, was ihm gar nicht gefällt: dass nämlich »Herr Abs nicht die Absicht habe, jetzt schon sein Amt des Vorsitzenden des Aufsichtsrates niederzulegen. Er habe vielmehr die Absicht, den Vorsitz bis Ende 1971 wahrzunehmen.« Beitz aber hat eine Aktennotiz 1967 gut aufbewahrt, in der er schrieb: »Herr Abs [hat] erklärt, daß er jederzeit bereit sei, von seinem Amt als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Fried. Krupp GmbH zurückzutreten, wenn ich ihn darum bitte.« Auch habe, wie er später sagt, Abs ihm versprochen, nach drei Jahren den Führungsposten freizumachen. Abs will davon, als die Stunde schlägt, jedoch wenig wissen. Am 5. März 1970 beginnt deshalb der Putsch gegen den mächtigen Bankchef. Brenner und Beitz bitten Abs zu einer Sitzung des Präsidiums des Aufsichtsrats, das nur aus ihnen dreien besteht. Beitz wie Brenner halten die Geschehnisse anschließend schriftlich fest.
Abs ist überrascht, als ihn Beitz zum Rücktritt auffordert. Sie haben ihn kalt erwischt. »An unsere Verabredung … auf meinen Wunsch hin jederzeit zurückzutreten, wollte Herr Abs sich nicht genau erinnern und versuchte auszuweichen«, notiert Beitz. Abs lehnt eine vorzeitige Demission ab.
Otto Brenner führt nun den zweiten Streich und eröffnet Abs: »Dann werden Sie in der Sitzung des Aufsichtsrates gleich abgewählt.« Der Noch-Vorsitzende kontert: »Ich lasse mich nicht auf diese Weise unter Druck setzen, und ich empfinde Ihr Vorgehen als Pression!« Als gewiefter Taktiker verweist er auf die Tagesordnung. Aufsichtsratspersonalien sind darin nicht vorgesehen; und kann man Beschlüsse zu Dingen fassen, die gar nicht behandelt werden? Wohl kaum. Außerdem lasse sich das Programm nur durch einhelligen Beschluss ändern, und einem solchen Beschluss werde er, Abs, nun gewiss nicht zustimmen. Beitz bleibt hart: »Wenn Sie widersprechen, womit ich gerechnet habe, dann wird es auf der nächsten Sitzung des Aufsichtsrates in acht Tagen nur einen einzigen Punkt geben: die Neuwahl des Vorsitzenden.«
Beitz wird hinaus zum Telefon gerufen, Brenner setzt drinnen nach. Abs solle doch in der folgenden Sitzung des Aufsichtsrats erklären, er werde bald zurücktreten: »Das ist doch auf jeden Fall besser, als sich der Peinlichkeit auszusetzen, unter Umständen abgewählt zu werden.« Abs hat das Spiel verloren.
Vorstandschef Vogelsang, der zu den Aufsichtsräten sprechen soll, hört vor Beginn der anschließenden Sitzung zu seinem nicht gelinden Erstaunen, wie die Vertreter des Beitz-Lagers den Ihren am Konferenztisch zuflüstern: »Heute nicht, heute nicht!« Der Showdown einer offenen Abwahl ist juristisch wegen der Tagesordnung nicht möglich, aber auch nicht mehr nötig. Es geht nur noch um das Wie, nicht mehr um das Ob. Es geht für Abs nur noch um einen würdevollen Abgang, nicht mehr darum, den Vorsitz zu behalten. Abs erklärt auf der Sitzung, beim nächsten Treffen einen Punkt »den Aufsichtsrat betreffende Fragen« zu behandeln. Damit, so Beitz, »war allen klar, daß er den Vorsitz im Aufsichtsrat meinte, auch wenn er dies nicht ausdrücklich gesagt hatte«. Tatsächlich verlässt Abs den Aufsichtsrat im Juni 1970, sein Nachfolger wird – Berthold Beitz. Er hat den Konzern, wie er es sieht, zunächst personell »aus den Klauen der Banken befreit«.
Zwei Jahre später geht auch die Ära Vogelsang zu Ende. Dessen Ruf als Sanierer ist zwar bestens, aber dennoch gibt es nun immer wieder Konflikte mit Beitz. Es sind keine, die zum Bruch führen müssen, aber es werden immer mehr. Hämisch schreibt der Spiegel 1970 über die Rivalen: »Beitz hielt die schulterwattierten Anzüge des Vorstandsbosses für gewöhnlich; Vogelsang empfand die taillierte Garderobe des Stiftungs-Chefs als feminin. Beitz spöttelte über die Vertreter-Witze von Vogelsang, dieser wiederum sah in Beitzens Witz nur Bosheit.« Die beiden Männer respektieren sich freilich weit mehr, als es hier den Anschein hat. Und es geht ihnen um viel mehr als um Äußerlichkeiten.
Auch Krupp-Arbeiter beteiligen sich an den wilden Streiks Ende der sechziger Jahre, bei denen es vor allem um den Erhalt der Montanmitbestimmung geht, also die erweiterten Mitspracherechte der Arbeitnehmer bei Kohle und Stahl. Im September 1970 lehnt es Vogelsang ab, auf einer Belegschaftsversammlung der Bochumer Hütte mit dem Betriebsrat und Otto Brenner zu diskutieren. Er kommt erst gar nicht. Die Kruppianer johlen, als schließlich eine entsprechende schriftliche Erklärung Vogelsangs in den Saal gereicht wird. Ausgerechnet Brenner muss das Papier des Vorstandsvorsitzenden vorlesen und sich rüde Zwischenrufe von wütenden Arbeitern anhören. Was er Beitz über den Vorfall berichtet haben wird, ist nicht schwer zu ergründen. Derlei Erregung unter Gewerkschaftern mag einen selbstsicheren Sanierer wie Vogelsang kühl lassen. Beitz aber sorgt sich um das Verhältnis zu den Arbeitnehmern. Gegenüber Dresdner-Bank-Chef Krüger beklagt er kurz darauf, der Vorstand behandle die Umstrukturierungsfragen auf eine Weise, dass das Resultat »eine Verschlechterung des Verhältnisses zur Belegschaft und zu den Gewerkschaften« sei.
Darüber hinaus kritisiert Beitz den Führungsstil im Konzern, sprich Vogelsangs Stil. Keine zwei Jahre nach dessen Antritt haben zehn Direktoren und Geschäftsführer von sich aus das Handtuch geworfen. Andererseits, was soll der neue Mann tun, wenn er nicht ausmisten darf? Beitz stört sich dennoch an der rauen, wenig gewinnenden Art Vogelsangs. Nachdem er den Thron an der Konzernspitze zurückerobert hat, zögert Beitz als Aufsichtsratschef nicht, seine Vorstände direkt anzugehen. Bei einem Mittagessen im Herbst 1971 antwortet er auf den Vorwurf, er nehme »die Stellung eines Chefs des Vorstands« für sich in Anspruch. Das folgende Donnerwetter ist allerdings kaum geeignet, den Vorwurf zu entkräften. »Ich habe immer betont«, sagt Beitz, »mir liegt nichts daran, in die laufenden Geschäfte einzugreifen oder Weisungen zu erteilen, wie dies Herr Vogelsang in Konzernunternehmen, deren Aufsichtsräten er vorsitzt, praktiziert. Ich lege jedoch Wert auf die Berücksichtigung und Achtung der Rechte der Alleineigentümerin« – eben der Krupp-Stiftung. »Ich bin nicht bereit zuzusehen, wie die Stiftung, das Vermächtnis des früheren Alleininhabers Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, durch Mißachtung ihrer Rechte und Ansprüche, auch finanzieller Art, lächerlich gemacht wird.« Hier wird nun ein weiterer Konfliktherd deutlich: Wie viel Dividende darf die Stiftung verlangen, nach den vergleichsweise geringfügigen zwei Millionen D-Mark pro Jahr aus der Krisenzeit? Die Höhe der Ausschüttung steigt zwar, bleibt aber dennoch ein Streitpunkt zwischen den Chefs des Vorstands und des Aufsichtsrats. Vogelsang hat über einen »Bindungsvertrag« dafür gesorgt, dass die Dividende für die gemeinnützige Stiftung streng abhängig von der Kapitallage des Konzerns ist.
Auch über die Unternehmenspolitik an sich herrscht zunehmend Dissens, so über die Frage von Investitionen in die Nukleartechnologie, die Anfang der siebziger Jahre einen kometenhaften Aufstieg erlebt. In den sechziger Jahren baut Krupp in der Eifel einen Versuchsreaktor für die Kernforschungsanlage in Jülich, den der Konzern gemeinsam mit der Firma Brown Boveri entwickelt hat. Die Atomtechnik gilt vielen als Zukunftstechnologie, auch Beitz. Ihm schwebt der Bau und Verkauf von Hochqualitätsreaktoren Marke Krupp vor, und er will in ein Geschäft einsteigen, das in der Tat bald ein sehr lukratives sein wird. Zweifel an der Nukleartechnik sind einer späteren Generation vorbehalten. Vogelsang lehnt den Vorschlag solcher Investitionen rundheraus ab – derlei bestimme der Vorstand, und er sei dagegen. Noch 1977 wird Beitz sagen: »Damit haben wir eine große Chance vertan, in eine moderne Technik hineinzukommen. Das wäre doch in der heutigen Zeit eine unerhörte Beschäftigung für uns gewesen.«
Vogelsang erlebt, was Beitz selbstkritisch in einem Interview mit der New York Times 1972 so beschreibt: »Es ist schwierig, mit mir auszukommen. Ich bin ein Außenseiter im deutschen Geschäftsleben, und das war ich immer.« Aber trotz aller Reibereien: Vogelsang hat den Konzern mit Erfolg saniert, und Beitz’ Stellung – Vertreter der Stiftung als Eigentümerin – ist dadurch umso stärker geworden. Insofern hat er gar kein Interesse, den alten Weggefährten und Kontrahenten nun loszuwerden, ganz im Gegenteil. 1972 steht die Verlängerung des fünfjährigen Vertrags als Vorstandschef an. Der Aufsichtsrat tagt im Stiftungsgebäude auf dem Hügel, im Anschluss werden Cocktails gereicht. Draußen wartet in grimmiger Stimmung Günter Vogelsang, der schließlich erfährt, man habe soeben seinen Vertrag verlängert. Keiner aber habe ihn gefragt, ob er zustimme, so erinnert er sich; keiner habe wissen wollen, ob er das Amt überhaupt annehme. Einen Tag später geht er in Beitz’ großes Arbeitszimmer und sagt: »In einem Unternehmen, das aktienrechtlich ordentlich organisiert ist, muss der Aufsichtsrat seine Vorstände fragen, ob sie das Amt annehmen. Das haben Sie nicht gemacht.« Beitz ist irritiert: »Nun sind Sie mal nicht so pingelig.«
Pingelig oder nicht, Günter Vogelsang nimmt seinen Abschied, »mit großem Bedauern«, wie er sagt. Und natürlich geht es ihm nicht um Formalien, sondern ums Prinzip. »Das ist der Stil des Hauses Krupp«, habe er Beitz damals gesagt, »dieser Mann wird dieses, jener jenes, und gefragt wird keiner.« Und dieser Stil ist Ausdruck von Macht, einer Macht, die Beitz zurückerobert hat und die Vogelsang nicht hinnehmen will. »Berthold Beitz hat signalisiert: Der Chef hier bin ich«, so Vogelsang im Rückblick. »Mein neuer Vertrag nahm mir eine Reihe von Zuständigkeiten, was ich nicht akzeptieren konnte: Nichts sollte ohne Berthold gehen.«
Genauso ist es. Nichts geht mehr ohne ihn. Beitz ist zurück.
SPÄTE ABBITTE IN ESSEN: ABS’ LETZTES GESCHENK
Die sanften Hänge des Taunus, nicht weit von Frankfurt entfernt, sind von jeher ein beliebter Rückzugsort der Reichen und Prominenten aus der Bankenstadt gewesen. Beschauliche Kleinstädte, wohlrestaurierte Fachwerkhäuser unter Burgruinen, und etwas außerhalb stehen unter großen Bäumen die Villen und Sommerhäuser der Betuchteren. Hier lebt Ende der siebziger Jahre Hermann Josef Abs, und hier stattet Beitz dem einstigen Gegner einen Besuch ab. Er hat dienstlich in der Region zu tun, und er findet den Mann, der einst der mächtigste Banker des Landes war, ganz allein in seinem Haus vor. An den Wänden hängen kostbare Gemälde, die Rollläden sind halb herabgelassen, um die Bilder vor dem Sonnenlicht zu schützen. Abs, so scheint es Beitz, ist nicht glücklich, er klagt über Probleme mit der Gesundheit, mit der Familie. Am Gürtel trägt er einen Piepser, so kann er jemanden herbeirufen, wenn er etwas braucht. Berthold Beitz tut er leid: »Er war ein großer Mann – aber so einsam.«
»Liebling der Götter« – so hat der Banker Berthold Beitz einmal genannt. In dieser Bezeichnung schwingt vieles mit: Achtung und ein wenig Neid, Anziehung und gewiss Abstand. Wen die Götter lieben, der ist ein glücklicher Mann, aber damit ist noch nicht beantwortet, ob er sich zu Recht in ihrer Gunst sonnt. Zur Zeit des Besuchs steht die Frage noch im Raum: Wer hatte recht, damals, 1967? Das beschäftigt Beitz noch, als er Golo Mann nicht ohne Bitterkeit ins Tonband diktiert: »Abs ist ein Mann, der sich hervorragend benimmt, wenn es um sein persönliches Prestige geht. Abs tut alles, was Abs guttut.«
1993, kurz vor Berthold Beitz’ 80. Geburtstag, besucht ihn der greise Abs in Essen und äußert eine Bitte: »Ich möchte gern auf Ihrer Geburtstagsfeier reden.« Der Jubilar ist überrascht, stimmt aber zu. Abs soll noch vor Bundeskanzler Helmut Kohl sprechen, der sich ebenfalls angesagt hat. Als Hermann Josef Abs in der festlich geschmückten Villa Hügel schließlich ans Rednerpult tritt, wird es ganz leise im Saal. Als der 91-Jährige in seiner Rede zum Jahr 1967 kommt, sagt er: »Die sogenannte ›Krupp-Krise‹ des Jahres 67 [war] eine Liquiditätskrise, seltsamerweise nicht des Hauses Krupp, sondern einiger Banken, die nicht Herr der Lage waren und daher die Hilfe der Bundesbank suchten und Gehör fanden … Es war keine Krise Krupp, sondern eine Krise in der Bankenstruktur jener Zeit.« Die Banken der AKA, so Abs sinngemäß, seien nämlich nervös geworden und hätten gefürchtet, wenn sie Krupp weitere Kredite gäben, könnte das Geld sehr wohl verloren sein. Das Gleiche hatte der frühere Dresdner-Bank-Chef Krüger Beitz schon 1970 geschrieben, aber aus dem Mund von Abs ist es eine Entschuldigung von historischer Größe.
Nach dem Essen von erstaunten Gästen befragt, reagiert Beitz zunächst mit einem Scherz. »Ich glaube, es gibt eine ganz einfache Erklärung. Herr Abs wusste, er würde nicht ins Himmelreich kommen, bevor er nicht etwas erledigt hatte. Denn Petrus war zu ihm gekommen und hatte gesagt: Da ist noch etwas zu tun. Du hast Beitz schlecht behandelt – der hat doch so viel Gutes getan.«
Er hat die Lacher auf seiner Seite, und doch spürt er eine tiefe Genugtuung, ja Freude. Der Kampf mag lange zurückliegen, ein Vierteljahrhundert schon. Und doch weiß fast jeder im gebannten Auditorium, was diese Worte von Hermann Josef Abs bedeuten. Klaus Bölling, der ehemalige Regierungssprecher Helmut Schmidts, empfindet sie beim Zuhören als »ein pater peccavi, eine Abbitte«. Es ist die Abbitte des Mannes, der Berthold Beitz eine der größten Niederlagen seines Lebens beigebracht hat und der jetzt erklärt: Ich war im Unrecht, wir Banker waren es.
Was Abs zu diesem späten Eingeständnis bewogen hat, ist nicht überliefert; er selbst hat sich dazu bis zu seinem Tod im Jahr 1994 nicht mehr erklärt. Die Deutungen gehen weit auseinander: Vogelsang, von 1967 an der Sanierer von Krupp, hält die Geburtstagsrede für Beitz heute »für einen großen Fehler. Abs war so, er wollte oft etwas Freundliches sagen. Aber er hatte 1993 nicht recht: Es war sehr wohl eine Krise Krupp.« Es überrascht nicht, dass Beitz die Sache gänzlich anders sieht. Aber Gedanken über die Motive von Hermann Josef Abs hat er sich natürlich auch gemacht: »Ich hatte ihn ja nicht gedrängt, auf der Feier zu sprechen. Er kam mit diesem Wunsch zu mir, und ich war sehr erstaunt darüber.«
Berthold Beitz glaubt, die Antwort in der Einsamkeit zu finden, die Abs in den späten Jahren umgab. »Als er dann nicht mehr Chef der Deutschen Bank war, war er recht allein. Viele Freunde aus dem Bankgewerbe sind weggeblieben. Und ich denke, er hatte das Gefühl, er müsse noch etwas wiedergutmachen, und das hat er dann in Essen getan.«